dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Wir leben mit deiner Trauer - Für Angehörige und Freunde

Chris Paul

 

Verlag Gütersloher Verlagshaus, 2017

ISBN 9783641198817 , 236 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

13,99 EUR


 

Trauerfacette Überleben:
Krisenmanagement

Diese Facette des Trauerns wird oft übersehen, aber sie hilft, das Verhalten vieler Menschen zu verstehen. Ich habe sie deshalb noch vor die Facette der Wirklichkeit und der Gefühle gesetzt. Wenn jemand stirbt, der uns zwar vertraut war, aber nicht existentiell wichtig für unser Leben, dann reagieren wir: traurig und ungläubig, erschrocken und bestürzt, aber wir können weiter atmen, gehen und denken. So ist es Ihnen wahrscheinlich gegangen. Nach einem längeren Krankheitsprozess waren Sie vielleicht sogar erleichtert, dass ein langes Leiden und Warten zu Ende war. Sie haben die Krankheitszeit möglicherweise genutzt, um sich innerlich vorzubereiten, und Ihre etwas größere Distanz hat es Ihnen ermöglicht zu sehen, dass der Tod nah bevorstand.

Für den Menschen, den Sie unterstützen, kann die Todesnachricht sich ganz anders angefühlt haben. Unabhängig davon, wie genau man eigentlich weiß, dass der Tod bevorsteht, kann er sich trotzdem wie ein Axthieb anfühlen. Sie kennen sicher den Spruch: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Das ist eine normale menschliche Reaktion und kein persönlicher Fehler.

Wenn ein Tod unerwartet kam wie bei einem Unfall oder einem Infarkt, dann spüren Sie selbst Schock und Fassungslosigkeit. Für den Trauernden, den Sie unterstützen, kann es sich anfühlen wie eine lebensbedrohliche Amputation. Jetzt geht es darum, wie es gelingt weiterzuleben und nicht mit zu sterben. Was unterstützt dabei, weiterleben zu wollen?

Unwillkürliche Schutzrektionen

Die Trauerfacette »Überleben« wird oft unwillkürlich ausgelöst, man entscheidet sich nicht dafür, es passiert uns. Denn der Körper hat ein eigenes Überlebensrettungsprogramm, er versetzt Menschen, die eine schwere seelische Erschütterung durchleben, in einen Schockzustand. Dabei werden die Sinnesorgane schärfer, manche Gerüche, Bilder, Geräusche werden extrem intensiv wahrgenommen – aber nur in einem bestimmten Ausschnitt. Es ist wie ein Tunnelblick, der alle Sinne ergreift. Dieser Tunnelblick schützt den Betroffenen auf seine eigene Art. Viele Menschen sprechen von dem Gefühl, in Watte gepackt zu sein, oder unter einer Art Käseglocke zu stehen. In dieser Schutzhülle wird die Vielfalt der Ereignisse ausgeblendet und nur ausgewählte Reize und Eindrücke kommen an. Das ermöglicht eine gewisse innere Ruhe, wo man sonst verrückt würde. Innerhalb dieser Schutzhülle spürt man sich selbst nur unvollständig: Hunger, Durst, Frieren, Müdigkeit und sogar körperliche Schmerzen werden nicht wahrgenommen. Leider trennt der unwillkürliche Schutzmantel auch von anderen Menschen, die mit ihren Gesten und Worten nur unvollständig durch die Hülle hindurchkommen. Wenn Sie das bei einem trauernden Freund oder Familienmitglied erlebt haben, dann wissen Sie, wie schwer es ist, jemanden unter der »Käseglocke« zu erreichen. Machen Sie sich klar, dass das keine bewusste Ablehnung ist. Stellen Sie sich vor, dass hier eine Art »Airbag« der Seele ausgelöst wurde, der den Trauernden eigentlich schützen soll und nun von allem und damit auch von Ihnen trennt.

Zusammenbruch?

Bei anderen Menschen bricht der innere Schutzwall zusammen, wenn die Todesnachricht eintrifft. Die Erkenntnis ist zu groß, sie können buchstäblich nicht ertragen, was passiert ist. Dann verlieren sie die Kontrolle über ihre Gefühle und Reaktionen. Das löst oft Schamgefühle aus, denn niemand möchte in der Gegenwart von anderen Menschen laut weinend zu Boden fallen oder vor Verzweiflung schreien. Für den weiteren Trauerweg ist eine starke emotionale Reaktion aber durchaus hilfreich, die Gefühle brechen auf und aus uns heraus und damit ist der erste Schrecken wie herausgewaschen. Auch wenn sich das anfühlt, als sei man gleich zu Beginn des Trauerweges in einem See versunken, ist es doch eigentlich wie der laute Schrei, mit dem man vom Zehnmeterbrett springt, um die gesammelte Anspannung loszuwerden. Damit das ein gelungener Sprung wird, ist die Anwesenheit und Unterstützung einer »stabilen Person« hilfreich. »Stabile Personen« sind in dieser Situation Menschen, die nicht mit eigenen Gefühlen beschäftigt sind. Sie behalten den Überblick und können Verantwortung für die übernehmen, die aufgewühlt und verzweifelt sind. Vielleicht waren Sie selbst für einige Momente oder sogar Stunden eine »stabile Person« für andere. Damit haben Sie dem Trauernden ein großes Geschenk gemacht! Vielleicht haben Sie aber auch die Erfahrung gemacht, dass jemand anderes für Sie stabil geblieben ist, als Sie selbst nicht mehr weiterwussten. Dann haben Sie erlebt, wie wichtig es sein kann, einen »Fels in der Brandung« neben sich zu spüren.

»Stabile Personen« in den ersten Stunden sind manchmal ein Notfallseelsorger, eine Rettungsassistentin oder eine Krankenschwester. Diese Menschen haben das »Stabil-Sein« in ihrer Berufsausbildung gelernt. Im Gegensatz dazu haben private Unterstützer wie Sie keine Fortbildung besucht, um stabil und stützend für Menschen in einer Krise da zu sein. Sie machen das intuitiv und sind vielleicht selbst erstaunt darüber, wozu Sie in der Lage sind. Vielleicht haben Sie sich aber auch überfordert gefühlt und nicht recht gewusst, ob es in Ordnung war, was Sie getan haben.

Wenn Sie befürchten, dem Trauernden Unrecht getan zu haben, dann können Sie ihn in einem ruhigen Moment auf diese Situation ansprechen und austauschen, wie Sie beide sich dabei gefühlt haben. Das schafft Sicherheit, denn der Trauernde ist wahrscheinlich ebenfalls unsicher, ob es für Sie in Ordnung war, seinem starken Gefühlsausdruck Halt zu geben. Für Ihre Beziehung zueinander kann es wichtig sein, diese Erfahrung als eine einmalige Ausnahmesituation zu begreifen, die sich sehr wahrscheinlich nicht wiederholen wird. Sie als UnterstützerIn sollten nicht in einem ständigen Alarmzustand ein, wenn Sie dem Trauernden begegnen.

Zusammenreißen

Ist das nicht ein seltsamer Begriff? Eigentlich wird ja immer etwas zer-rissen oder wie ein altes Wort es nennt »entzwei-gerissen«. Wir können uns aber tatsächlich auch zusammen-reißen. Vielleicht weil es sich eigentlich so anfühlt, als sei man in zwei oder sogar noch mehr Teile zerrissen. Das zu überleben kann heißen, die Bestandteile des eigenen Selbst fast mit Gewalt zusammenzupressen, so wie ein Druckverband ganz fest auf eine Wunde gedrückt wird. Oder wie eine feste Bandage, die dem Sportler gegen die Verstauchung angelegt wird, damit er noch ein Stück weiterlaufen kann. So reißen wir uns manchmal zusammen, aus Angst, das eigentliche Zerrissen-Sein nicht überleben zu können. Manche Menschen reißen sich ständig zusammen, weil das in ihrer Erziehung ein wichtiger Grundsatz war, und so reagieren sie auch auf eine Todesnachricht mit Zusammenreißen oder wie es dann auch genannt werden kann: mit »Haltung«. Ein anderer Grund für das Zusammenreißen ist die Angst, andere mit unserem Gefühlsausbruch zu schockieren oder ihnen sogar Schaden zuzufügen.

Vielleicht haben Sie selbst sich so »zusammengerissen«, um für andere stabil sein zu können. Dann tut es Ihnen wahrscheinlich gut, sich an einer anderen Stelle bei anderen Menschen, die stabil für Sie sind, gehen lassen zu können. Auch Sie brauchen Zeit und Raum, um Ihren Kummer rauslassen zu können.

Vielleicht hat der Trauernde, den Sie unterstützen möchten, sich so zusammengerissen. Dann brauchen Sie Geduld mit diesem »Überlebensmechanismus« des anderen, vor allem, wenn Sie selbst es leicht haben, Gefühle auszudrücken. Und Sie sollten darauf gefasst sein, dass dieses Zusammenreißen irgendwann nicht mehr gelingen wird. Dann braucht der Trauernde jemanden, der ihn hält und tröstet. Vielleicht können Sie das sein.

Das Überleben der anderen

Die Facette »Überleben« hat auch noch eine andere Seite als das eigene Überleben: Das ist das Überleben der Menschen, für die man Verantwortung trägt. Es kann sein, dass Sie als UnterstützerIn sich mehr um das Überleben von anderen gekümmert haben als um Ihr eigenes. Dann haben Sie Ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse unterdrückt, um jemandem beizustehen, der Ihnen noch bedürftiger vorkam. Das können z. B. die eigenen Kinder sein, wenn sie noch kleiner sind und mit dem Tod von Mutter oder Vater konfrontiert sind. Dass Sie selbst gleichzeitig mit dem Tod des Partners bzw. der Partnerin zurechtkommen müssen, kann für Sie in den Hintergrund getreten sein angesichts der Verantwortung für Ihre Kinder. Es kann auch andersherum sein, dann übernehmen Heranwachsende die Verantwortung für ihre Eltern und sorgen mit »erwachsenem« Verhalten dafür, dass es den Eltern nicht noch schlechter geht. Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und erinnern Sie sich:

Wie war das in Ihrem Familiengefüge – wer hat auf wen Rücksicht genommen?

Wie hat sich das jeweils auf den Trauerprozess ausgewirkt?

Vielleicht möchten Sie mit Ihren Angehörigen und Freunden darüber sprechen, wie jeder von Ihnen die ersten Stunden erlebt hat. Falls Sie das tun, tauschen Sie bitte »einfach« Ihre Erlebnisse aus und verzichten Sie auf Vorwürfe. Gegenseitiges Verständnis wird Ihnen auf dem bevorstehenden Trauerweg eine große Hilfe sein. (Das Kapitel...