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Drone - Thriller

Bart-Jan Kazemier

 

Verlag Penguin Verlag, 2017

ISBN 9783641213831 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

7 AVA

UNSTERBLICHKEIT

Halb sechs Uhr morgens, auf einer Schnellstraße in Richtung Den Haag. Im rosigen Morgenlicht glitt ein einsames Auto still über den trocknenden Asphalt, ein schwarzer Reon Reverence mit Elektromotor. Auf dem Rücksitz saß hinter der getönten Scheibe eine Frau von Ende dreißig über ihr Tablet gebeugt. Eine kleine Lampe beschien nichts als ihren Mund, und sie bewegte unhörbar die Lippen.

Die Umrisse der Stadt erschienen am Horizont, als der Wagen auf die weite Kurve Richtung Süden einbog. Die Bürogebäude, die schnell größer wurden, zerschnitten die Wolken wie Messer aus Glas. Die Frau hielt mit dem Lesen inne und schaltete das Tablet aus. Sie schaute auf das Display, aber es gab niemanden, der sie um diese Uhrzeit erreichen wollte, nicht einmal Mel. Sie legte das Tablet neben sich ab und strich sich den Rock zurecht. Die neuen Pumps passten gut zu ihrem figurbetonten Kostüm, aber sie drückten furchtbar.

Sie schaute hinaus. Die Bankgebäude und Ministerien aus den Zwanzigern, die der Stadt ein gewisses internationales Flair verleihen sollten, waren schon lange abgerissen und durch hohe, schlanke Türme ersetzt worden, nach Entwürfen von Architekten aus Hongkong und Doha. Alle europäischen Städte, die sie kannte, sahen heutzutage gleich aus. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen. Zwei Jahre lang war sie Parlamentsabgeordnete in den Niederlanden gewesen, danach als Diplomatin in die Vereinigten Staaten gegangen, als Beauftragte für alle dortigen Handelsabkommen; dann folgten vier für ihre Altersversorgung sehr profitable Jahre in Brüssel und Straßburg. Schließlich war sie wieder in die Vereinigten Staaten gezogen, hatte sich in Washington niedergelassen und aus Bequemlichkeit einen Geschäftsmann aus Chicago geheiratet. Nach weniger als einem Jahr kam es zur Scheidung, doch zuvor hatte sie über ihn Kontakte mit einigen der einflussreichsten Geschäftsleute der Region hergestellt.

Nach dem Fall des Kabinetts, dem Ergebnis misslungener Verhandlungen, die sich über fast sieben Wochen hingezogen hatten, wurde sie von dem Parteivorsitzenden angerufen, der sie fragte, ob sie auf den zweiten Listenplatz wolle. In den Niederlanden war es drei Uhr nachts, aber er sprühte wie immer vor Energie. Sie zögerte keinen Moment, ließ jedoch ihre Vorstellungen für die Zeit nach den Wahlen durchklingen. Das angenehme Leben in Washington würde sie nur aufgeben, wenn sie dafür entsprechend hoch entlohnt wurde. Mel begriff, was sie meinte. Er war einverstanden, unter der Bedingung, dass sie als Gegenleistung ein sehr wichtiges Projekt übernahm.

Während der Wahlkampagne hatten sich die Kameras rasch auf sie eingeschossen, obwohl sie sieben Jahre außer Landes gewesen war. Ihr Stern erlebte einen schnelleren Aufstieg als der des Ministerpräsidenten. Natürlich lag das an ihrem Vater, aber selbstverständlich hatte auch ihr Erscheinungsbild etwas damit zu tun: In einer Männerdomäne wie der Politik hatte eine blonde Frau mit ausdrucksvollen Augen, wohlgeformten Lippen und einem untrüglichen Gespür für stilvolle Kleidung schon an sich einen Vorsprung. Ein Lächeln in die richtige Richtung, ein geistreiches Statement, eine verführerische Pose, selbst unbewusst eingesetzt, reichte aus. Begierig machte man Aufnahmen von ihrem Körper, und der Präsident nutzte das nur zu gern aus. Ihr fiel auf, wie häufig sie zusammen fotografiert wurden, wie oft er ihr zudem betont beiläufig eine Hand auf die Schulter oder den Rücken gelegt hatte. Er wusste, dass sie ihn anziehender wirken ließ.

Drei Beziehungen hatte sie in den Niederlanden hinter sich: nacheinander einen Theaterschauspieler, einen Pressefotografen und einen selbstständigen Journalisten. Sie ähnelten einander und hatten, jeder für sich genommen, durchaus etwas Interessantes, aber bei allen dreien hatte sie die Stärke vermisst, ihr genug Widerstand bieten zu können. Immer wieder erwies sich ihre Position als Hindernis. Sie fühlten sich minderwertig; der Theaterschauspieler hatte es so formuliert: »Du haust mich um. Ich habe dir einfach nichts entgegenzusetzen, Ava. Du machst mir ein bisschen Angst.« Irgendwo verstand sie das sogar. Ein cum laude als Abschluss in Politologie und Internationale Beziehungen, ein Platz unter den Top 50 der einflussreichsten Frauen Europas, ein engmaschiges Netzwerk in Brüssel. So hatte sie ihrer Partei zu einem rauschenden Sieg verholfen und war zur wichtigsten Ministerin im Kabinett Stahlman II aufgestiegen. Und darum gab es keine Männer, die sich mit ihr zu messen wagten.

Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Display und aktivierte damit das Tablet wieder. »Ansprache. Heute. Aktuellste Version«, sagte sie laut. »Lesetempo Standard.« Aus dem Tablet erklang ihre eigene Stimme, sehr lebensecht. Sie lehnte den Kopf an die Rückenstütze und schloss die Augen.

»Herr Vorsitzender, ich danke Ihnen dafür, dass ich hier Ihrem Parlament den Standpunkt der Regierung erklären darf – den Standpunkt im Hinblick auf ein Ministerium, das in den vergangenen Jahren bereits verschiedene Transformationen erlebt hat und bei dem man nun für einen letzten, entscheidenden Schritt bereit ist. Dieser Schritt schien bis vor Kurzem noch sehr weit weg, doch Zeit, Technologie und gesellschaftliche Entwicklungen haben den Prozess erheblich beschleunigt und damit seine Dringlichkeit erhöht. Dadurch waren wir gezwungen, Entscheidungen zu treffen, deren Folgen wir vielleicht noch nicht zur Gänze überblicken können, von denen sich aber bereits jetzt festhalten lässt, dass sie getroffen werden müssen, damit man für die Kriegsschauplätze des 21. Jahrhunderts bereit ist.

Mein Ministerium hat – und darauf bin ich sehr stolz – wie gesagt schon eine eindrucksvolle Anzahl von Erneuerungen durchlaufen, im Hinblick auf Führungs- und Kommandostruktur, Material und Aufgabenstellung. Die Verbindungswege sind unendlich viel kürzer geworden, und die Integration von Heer, Luftwaffe und Marine ist in weiten Teilen hergestellt, obwohl man das vor zehn Jahren noch für unmöglich gehalten hat. Unsere Streitkräfte sind kompakt, flexibel und in ständiger Bereitschaft. Wir werden von unseren Bündnispartnern sehr geschätzt, sind weltweit bekannt als professionell, vertrauenswürdig und effizient.

Um diesen Standard halten zu können, müssen wir so schnell wie möglich eine Entscheidung über eine weitere Veränderung treffen, die einige als ›revolutionär‹ einschätzen, und zwar geht es um die Art und Weise, wie wir im kommenden Jahrhundert den Kampf in der Luft führen werden.«

Sie sagte: »Korrektur.« Ihre elektronische Stimme verstummte abrupt. »Ändere ›im kommenden Jahrhundert‹ in ›in den kommenden Jahrhunderten‹. Ändere ›weitere‹ in ›grundlegende‹. Neu lesen ab letzter Zeile.«

Ihre Tabletstimme gehorchte:

»Um diesen Standard halten zu können, müssen wir so schnell wie möglich eine Entscheidung über eine grundlegende Veränderung treffen, die einige als ›revolutionär‹ einschätzen, und zwar geht es um die Art und Weise, wie wir in den kommenden Jahrhunderten den Kampf in der Luft führen werden.«

»Stopp. Änderungen angenommen.«

Über das kommende Jahrhundert gab es nichts zu sagen, und über die kommenden Jahrhunderte schon gar nicht. Was heute als »hochmodern« in den Schaufenstern angepriesen wurde, galt schon morgen als Schrott, aber das war es, was die Parlamentsabgeordneten sehen wollten: die Konturen einer Zukunftsvision. Indem sie nun über eine ferne Zukunft mitentschieden, sorgten sie dafür, dass sie selbst bedeutungsvoll wurden. Etwas von der intelligenten Vision des Kabinetts übertrug sich auf sie, und auf diese Weise konnten sie sich selbst ein wenig unsterblich machen. Unsterblichkeit. Ava hatte im Laufe ihrer Karriere niemanden kennengelernt, der nicht heimlich nach Unsterblichkeit strebte. Als Parlamentsmitglied hatte man höchstens acht Jahre Zeit, um dieses Ziel zu erreichen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

»Letzte Zeile«, sagte sie.

»Um nicht weiter in Rückstand zu geraten, um Schritt zu halten mit den technischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Roboter und der taktischen Waffen, ist es nun geboten, dass wir uns jetzt – nicht bald, nicht morgen, nicht nächsten Monat, sondern jetzt – zu diesem entscheidenden, revolutionären Schritt zur modernen Kriegsführung entschließen. Sonst, Herr Vorsitzender, können die Niederlande ihre Armee genauso gut umgehend auflösen, weil sie an ihrer Unbrauchbarkeit zugrunde gehen wird. Nichts ist so traurig, wie überflüssig zu sein; darin werden Sie sich in Ihrer jetzigen Funktion wiedererkennen. Nun liegt es an Ihnen.«

Das Tablet verstummte und zeigte an, wie lange die Rede insgesamt dauern würde. Sie nickte zufrieden und knipste die Lampe über ihrem Kopf aus. Das Auto fuhr geräuschlos in eine Parkgarage und hielt auf einer Plattform, die sich sofort vier Stockwerke nach unten bewegte. Eine durchsichtige Tür öffnete sich, und der Wagen wurde eine Schiene emporgeleitet, die auf ein Fließband mündete. Während das Auto auf diese Weise zu seinem Parkplatz bewegt wurde, schaute Ava auf ihr Tablet, verwendete es als Spiegel. Sie folgte mit den Fingern den gewissenhaft gezogenen Linien ihrer Augenbrauen, trug noch mehr rosa Lippenstift auf, fuhr mit der Zunge die Zähne entlang. Danach steckte sie das Tablet zurück in ihre Tasche. Sie lächelte. Die Opposition würde noch ein paar Einwände über Moral und Ethik vorbringen, aber das änderte nichts an der Realität, in der sich das Land befand, oder an dem, was jede Regierung, jedes Unternehmen, jede Organisation auf der Welt wusste: Wer bezahlt,...