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Emotionen und soziale Strukturen - Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung

Christian von Scheve

 

Verlag Campus Verlag, 2009

ISBN 9783593405773 , 389 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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29,99 EUR

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1. Akteure, Emotionen und Gesellschaft Menschen leben in Gesellschaft anderer Menschen. Sie bilden Gemeinschaften, Gruppen, und Organisationen, gehen persönliche Beziehungen miteinander ein, haben gemeinsame Ziele, Überzeugungen und Erinnerungen, kooperieren miteinander, arbeiten gegeneinander, lieben und hassen einander. Neugeborene finden nicht etwa eine Welt vor, die dem sprichwörtlichen 'unbeschriebenen Blatt' gleicht, sondern vielmehr einem Roman, in dem sie zwar die Protagonisten sind, der aber in weiten Teilen bereits geschrieben zu sein scheint, noch bevor sie die ersten Sätze sprechen können. Regeln sind aufgestellt, Verbote und Gebote ausgesprochen, Autoritäten vorhanden, Konventionen erlernt und Optionen oft Mangelware. Kurzum, die Möglichkeiten, den Rahmen und die Handlung dieses Romans selbst zu verändern, sind begrenzt. Die soziale Umwelt, in der Menschen aufwachsen, stellt sich je nach Betrachtungswinkel ganz unterschiedlich dar, aber selbst bei kleinem Winkel, unter dem sie relativ homogen erscheint, ist klar: Kein Mensch gleicht dem anderen, jeder besitzt ein eigenes Selbst mit eigenen Wünschen, Vorstellungen und Ansichten, die sich von denen der Mitmenschen mehr oder weniger unterscheiden. Wie lassen sich diese Beobachtungen miteinander vereinbaren, dass Akteure einerseits in einer Gesellschaft situiert sind, die durch ihre Ordnung und Struktur nicht nur den Rahmen für das Handeln, sondern oft auch für ganze Lebensläufe setzt, und andererseits die Akteure doch so unterschiedliche individuelle Eigenschaften aufweisen, die sie einzigartig machen? Wie existiert also die Gesellschaft im Individuum und wie das Individuum in der Gesellschaft? Wir bewegen uns geistig wie körperlich in einem eng geknüpften und verschachtelten Netz unterschiedlicher Formen der Vergesellschaftung, die auch diese Bewegungen selbst umfassen; dazu gehört die Familie genauso wie der Freundes und Bekanntenkreis, die Clique, Kollegen und Vereinskameraden oder Menschen, von denen wir lediglich indirekt, etwa über Medien, erfahren, zum Beispiel Politiker, Wissenschaftler oder Künstler. Durch jedwede Interaktion kommen wir in Berührung mit anderen Formen der Vergesellschaftung und deren speziellen Eigenschaften, so dass wir nur selten Teil einer einzigen Vergesellschaftungsform sind. Wie sehr sich diese Formen unterscheiden können, wird deutlich, wenn sie sich überlagern und wir an ihren Schnittstellen oder in einer uns fremden Gesellschaftsform agieren müssen. Alfred Schütz (1972) hat Letzteres in seinem Aufsatz 'Der Fremde' eindrucksvoll geschildert, die Ethnologie stellt dazu etliche imposante Fallstudien bereit und auch die Kulturwissenschaften beschreiben dieses Phänomen. Die erstgenannten Aspekte ließen sich mit Blick auf die Probleme, die in Gegenwartsgesellschaften beispielsweise bei der Heimarbeit, also der Überlagerung der Lebenswelten Familie und Beruf, auftreten, soziologisch gut illustrieren. Trotz der Spezifität der verschiedenen Vergesellschaftungsformen sind diese keineswegs statisch, sondern einerseits in hohem Maße dynamisch, andererseits aber so robust und kohärent, dass sie einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungsstränge und Verhaltensmuster als Rahmen dienen. Vor diesem Hintergrund sind die zentralen Fragen der Soziologie, wie sich Formen der Vergesellschaftung konstituieren, welche Dynamiken sie aufweisen und welche Rolle der Akteur, sowohl individuell als auch im Kollektiv, dabei spielt. Die Struktur einer Vergesellschaftungsform - eines sozialen Aggregats oder Systems - entsteht nicht aus dem Nichts, sie ist keine naturgegebene Tatsache (obgleich sie einzelnen Akteuren aufgrund ihrer begrenzten Lebensspanne so erscheinen mag), sondern Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens einer Vielzahl von Akteuren. Andererseits stellen soziale Aggregate aber auch gleichzeitig die Bedingungen und Möglichkeiten dieses handelnden Zusammenwirkens dar, indem sie Qualitäten wie Normen, Regeln oder Konventionen aufweisen. Diese Paradoxie, also die Beobachtung, dass ein Phänomen gleichzeitig Ursache und Wirkung ist, erinnert auf den ersten Blick an das 'Henne und Ei'-Problem. Bei eingehender Betrachtung wird aber deutlich, dass es durchaus aufgelöst werden kann - die Soziologie und auch die Sozialpsychologie stellen dazu eine Vielzahl von Theorien und Modellen zur Verfügung. Fragen und Analysen zum Zusammenhang von individuellem Handeln und sozialen Strukturen sind innerhalb der Soziologie seit langer Zeit ein etablierter Forschungszweig, spätestens seit Adam Smiths (1776) prominenter These der 'unsichtbaren Hand'. Etwa seit den 1980er Jahren werden sie in der Regel unter dem Begriff Mikro-Makro-Link subsumiert, der sich vor allem im englischsprachigen Raum durchgesetzt hat (Alexander/Giesen 1987). Zu Beginn fußte die Forschung zum Mikro-Makro- Link auf dichotomischen Annahmen über die Mikro und Makroaspekte der sozialen Welt, das heißt über das individuelle Handeln und die gesellschaftlichen Strukturen. Diese dualistische Unterteilung der realen Welt ist mittlerweile einer Differenzierung und Verfeinerung gewichen, die sich zunehmend auf die analytische Ebene konzentriert und dabei die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen zum Gegenstand macht. Die bisherige Kenntnis der Zusammenhänge von Sozialität und Individualität, von Handlung und sozialer Ordnung, von Selbst und Gesellschaft reicht aber trotz aller Bemühungen noch nicht aus, um soziale und subjektspezifische Phänomene wie zum Beispiel gesellschaftlichen Wandel, soziale Bewegungen, abweichendes Verhalten oder Kooperation und Solidarität abschließend erklären und verstehen zu können. Dabei nimmt die Aktualität der genannten Fragen stetig zu. Selten zuvor wurde dem Verständnis dieser Phänomene eine größere Bedeutung beigemessen als heute und selten gab es mehr Quellen, die einen rasanten und globalen Wandel gesellschaftlicher Ordnungen mit weit reichenden Konsequenzen für die Psyche und das Bewusstsein der Menschen konstatieren. Um in dieser Hinsicht weitere Fortschritte erzielen zu können, müssen neue beziehungsweise weiterführende Methoden und Konzepte entwickelt werden, so dass sich die Zusammenhänge zwischen dem individuellen Akteur, den Strukturen und Qualitäten sozialer Aggregate und der Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung besser erklären und verstehen lassen. Dabei wird der Erfolg dieser Entwicklungen davon abhängen, inwiefern sie nicht nur das eine in Abhängigkeit vom jeweils Anderen erklären können, sondern inwieweit sie in der Lage sind, auch die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen zu erfassen und darzustellen. Obwohl es sich bei den untersuchten Gegenstandsbereichen der Handlungen und Strukturen um zwei offensichtlich distinkte, aber doch interagierende Kategorien handelt, die aus wissenschaftshistorischen Gründen vorrangig von unterschiedlichen Disziplinen, nämlich der Soziologie und der Psychologie untersucht werden, hat sich die Soziologie bislang überaus zurückhaltend gegenüber den Ergebnissen der Psychologie gezeigt, obgleich diese zumindest einen Teil der angesprochenen Wechselwirkungen gut abdeckt. Andererseits gehen von der Psychologie auch kaum Verweise in Richtung Soziologie aus - ein Umstand, der ohne Zweifel auf die divergierenden Erkenntnisinteressen beider Disziplinen zurückgeführt werden kann. Obgleich von (sozial)psychologischer wie soziologischer Seite mehrfach auf die Synergieeffekte einer interdisziplinären Zusammenarbeit hingewiesen wurde, blieb die Rezeption innerhalb der jeweiligen Disziplinen bislang vergleichsweise zurückhaltend (Nolte 1994; Giesen/Schmid 1977). Aus diesen Gründen stehen verschiedene sozialpsychologische und soziologische Konzepte zur Erklärung sozialen Handelns und Verhaltens noch immer weitgehend unvereint nebeneinander. Generell konzentriert sich die Sozialpsychologie auf die Eigenschaften einzelner oder einiger weniger Akteure, deren Persönlichkeit, Motivation, Kognitionen und Emotionen, um Rückschlüsse auf soziales Verhalten und dessen Auswirkungen auf andere Akteure ziehen zu können. Die Soziologie hingegen untersucht das allgemeine, idealtypische Akteurshandeln und dessen soziale Ursachen und Wirkungen und fasst Sozialität in diesem Zusammenhang deutlich weiter: Als Ursache und Wirkungsbereich des Handelns sind die Sozialstruktur und die Stratifikation einer Gesellschaft, die Eigenschaften und Strukturen größerer sozialer Aggregate, ökonomische Rahmenbedingungen, Austauschprozesse oder Ressourcenallokationen von Interesse. Dabei stehen nicht in erster Linie das Handeln Einzelner und dessen individuelle Bedingungen im Vordergrund, sondern solche Handlungen, die von einer größeren Anzahl von Akteuren regelmäßig und strukturwirksam ausgeführt werden. Ein Vergleich der beiden Disziplinen, die für sich in Anspruch nehmen, 'das Soziale' im weitesten Sinne zu erforschen, wirft im Hinblick auf das Spannungsfeld von Handlungen und Strukturen vor allem zwei Fragen auf: Inwieweit werden diejenigen Determinanten des Handelns, die als besonders individuell und fest im Akteur verankert gelten, von den Struktureigenschaften der sozialen Umwelt beeinflusst und geprägt? Und wie wirken diese Determinanten derart auf das soziale Handeln und Verhalten, dass sie strukturdynamische Effekte in der sozialen Umwelt hervorrufen? Bislang wurden die in der Sozialpsychologie relevanten Grundlagen menschlichen Verhaltens aus soziologischen Betrachtungen weitgehend ausgeschlossen, da sich die soziologische Handlungsdefinition seit Max Weber (1922) vor allem auf intentionales Handeln beschränkt, also auf ein Handeln, dem eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung des Akteurs zwischen mehreren Handlungsalternativen zu Grunde liegt. Damit rücken solche Handlungsmotive in den Hintergrund, die unbewusst und unwillkürlich, also dem Akteur nicht reflexiv zugänglich sind. Weber hatte argumentiert, dass die Intentionalität - der subjektiv gemeinte Sinn - der entscheidende differenzierende Faktor zwischen menschlichem Handeln und tierischem Verhalten sei. In der Konsequenz bedeutet diese Sicht auf die Grundlagen sozial wirksamen Handelns, dass vor allem durch die Intention, das heißt den Willensakt, eine Verbindung zwischen der Gesellschaft und dem Individuum hergestellt werden kann. Intention bedeutet aber notwendigerweise auch die bewusste Bezugnahme auf und das Wissen über bestimmte Rahmenbedingungen des Handelns, seien dies nun Rationalitätserwägungen oder soziale Normen. Was aber, wenn auch zwischen dem nicht-intentionalen, unwillkürlichen Handeln und sozialen Strukturen eine wirkungsvolle bidirektionale Verbindung bestünde? Weber wie auch die ihm nachfolgenden Soziologen haben großen Wert auf das Konzept des freien Willens und die Annahme der Rationalitätsbestimmtheit oder der Normorientierung, also die kognitiven Aspekte des Handelns gelegt, um die Wechselwirkungen zwischen sozialem Handeln und sozialen Strukturen erklären zu können. Wie aber ließen sich unter diesen Voraussetzungen soziale Strukturen etwa in Verbänden anderer höherer Säugetiere, die nicht über die Fähigkeit zum bewussten Handeln verfügen, erklären, die durchaus mit basalen Strukturen menschlicher Sozialität vergleichbar sind? Die Engführung soziologischer Erklärungen auf die intentionale Gerichtetheit des Handelns ist wiederholt andernorts in Frage gestellt worden. Sie hat zu einer Reihe alternativer Ansätze geführt, die eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf die von der Soziologie bislang weniger beachteten Grundlagen des menschlichen Handelns richten und deren Unbewusstheit und Automatizität hervorheben. Umso mehr erscheint es notwendig, eine tief greifende interdisziplinäre Kooperation mit solchen Disziplinen anzustreben, die sich seit jeher ausgiebig mit eben diesen Grundlagen befassen. Vor diesem Hintergrund bewegen sich einige der in Frage kommenden Disziplinen seit einiger Zeit auf die Sozialwissenschaften zu und lassen zum Teil ausdrückliche Kooperationsangebote erkennen. Etwa seit den 1990er Jahren sind in verschiedenen Wissenschaftszweigen deutliche Bestrebungen zu beobachten, den fundamental sozialen Charakter des menschlichen Daseins zu erforschen. Damit stoßen diese Disziplinen in Bereiche vor, die bis dahin zum originären und meist exklusiven Forschungsgebiet der Soziologie und der Sozialpsychologie zählten. Das Attribut 'sozial' als Präfix zur eigentlichen Bezeichnung der Disziplin wird in diesem Zusammenhang sowohl im angelsächsischen als auch im deutschen Sprachraum geradezu inflationär gebraucht: Soziale Kognitionswissenschaft oder Social Neuroscience sind nur zwei Beispiele, die den klassischen Bezeichnungen 'Soziobiologie' oder 'Sozialpsychologie' nachfolgen. Verbunden mit dieser Entwicklung ist im Zusammenhang mit der 'Natur versus Kultur' Debatte eine generelle diskursive Annäherung von Natur und Sozialwissenschaften in Bereichen zu verzeichnen, die sich ganz allgemein der Erforschung der Natur und Kultur des menschlichen Verhaltens widmen (Lemke 2007; Mayntz 2007; Reichertz/Zaboura 2006). Zu den Disziplinen, die sich diesbezüglich durch eine bemerkenswerte Aktivität auszeichnen, zählen die Neuro und Kognitionswissenschaften. Aus ihnen, aber auch aus der Psychologie und der Soziologie, sind in der Vergangenheit robuste und weithin beachtete Ergebnisse hervorgegangen, die Hinweise darauf liefern, dass ganz besonders ein Faktor - der bisher im Vergleich mit anderen Determinanten menschlichen Verhaltens als in besonderem Maße individuell angesehen wurde - eine maßgebliche Rolle als Vermittlungsinstanz zwischen individuellem Handeln und sozialen Strukturen einnehmen könnte: Emotionen. Folgt man einem Alltagsverständnis von Emotionen, liegt die Vermutung nahe, dass Emotionen ausschließlich in den Gegenstandsbereich der Psychologie fallen, da sie weithin als die urpersönlichste und subjektivste Komponente des menschlichen Seins gelten. Bei eingehender Betrachtung kann hingegen gezeigt werden, dass Emotionen auch durchaus sinnvoll und gewinnbringend aus soziologischer Perspektive analysiert werden können - ja sogar müssen -, um nicht nur zu einem umfassenderen Verständnis des Phänomens Emotion zu gelangen, sondern auch um die Bedeutung der Emotionen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft besser zu verstehen. Erste Andeutungen dazu sind bereits bei soziologischen Klassikern wie Vilfredo Pareto, Emile Durkheim oder Georg Simmel zu finden, um nur einige zu nennen. Ohne eine umfassende Konzeptualisierung der Emotionen aus soziologischer Perspektive zu erarbeiten, zeigen sie doch ansatzweise die Bedeutung der Emotionen in Bezug auf individuelle und gesellschaftliche Phänomene. Auch bei modernen Sozialtheoretikern wie Pierre Bourdieu (1987/1993), Randall Collins (1975), Norbert Elias (1976) oder Anthony Giddens (1984) finden sich deutliche Hinweise auf die Rolle von Emotionen in der Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung, ohne dass diese aber in einer umfassenden Theorie kumulieren würden. Webers (1922) Abqualifizierung des 'affektuellen Handelns' als ein Handeln, das für die soziologische Analyse ohne größere Bedeutung sei, kann als paradigmatisch für die Soziologie der folgenden Jahrzehnte angesehen werden. Weber vertrat die Ansicht, dass der primäre Gegenstandsbereich der Soziologie das geordnete Zusammenleben der Menschen sei und dass das 'affektuelle Handeln', also das Handeln aus einer Emotion heraus, dazu keinen Beitrag leisten, sondern im Gegenteil zur Instabilität sozialer Ordnung beitragen würde. Im Gegensatz dazu soll diese Arbeit das Verständnis befördern, dass die unter anderem durch Weber geprägte Marginalisierung der Emotionen nicht nur auf falschen Prämissen beruht, sondern auch wesentliches Erklärungs und Deutungspotenzial für die moderne Soziologie verspielt. Nachdem Emotionen in Webers Folge lange Zeit eine Residualkategorie soziologischer Forschung blieben, stellt die Soziologie der Emotionen seit etwa zwei Jahrzehnten eine sich rasch weiterentwickelnde Forschungsrichtung dar. Die Zahl der Ergebnisse ist zwar nach wie vor überschaubar, die Arbeiten haben aber verdeutlicht, welches Potenzial der Emotionsforschung gerade unter soziologischen Gesichtspunkten beizumessen ist, sowohl im Hinblick auf eine allgemeine Theorie der Emotionen als auch mit Blick auf die Bedeutung der Emotionen für originär soziologische Fragestellungen. Bis auf wenige Ausnahmen versäumen jedoch viele emotionssoziologische Arbeiten, ihre Ausführungen anhand der großen Anzahl theoretisch fundierter und zum Teil empirisch validierter Ergebnisse anderer Disziplinen, wie beispielsweise der Neurowissenschaften oder der Psychologie, zu stützen. Dieses Defizit führt dazu, dass ein Großteil des Wissens über Emotionen bisher nur in sehr begrenztem Umfang Eingang in die emotionssoziologische Theoriebildung findet. Eine Konsequenz ist, dass allgemeine emotionssoziologische Theorieansätze zumeist nur geringfügig anschlussfähig an Theorien und empirische Ergebnisse anderer Disziplinen sind und daher ihre Erklärungsmächtigkeit in Bezug auf soziologische Kernprobleme wichtiges Potenzial einbüßt. Dabei muss jedoch erwähnt werden, dass ein Teil der angesprochenen Ergebnisse den frühen Emotionssoziologen Anfang der 1980er Jahre noch nicht zur Verfügung stand. Die betreffenden Ergebnisse sind vor allem auf den technischen und methodischen Fortschritt im Bereich medizinisch-diagnostischer Systeme, insbesondere bildgebender Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) oder der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRT), zurückzuführen, die gegen Ende der 1970er Jahre neue Möglichkeiten der Echtzeitdiagnostik und der quantitativen Analyse von Emotionen eröffneten. Die vorliegende Arbeit nimmt sich deshalb dieser Probleme der soziologischen (Emotions-) Forschung an. Sie soll die Hypothese prüfen, dass Emotionen eine wichtige - wenn nicht sogar die zentrale - Rolle im Geflecht von individuellem Handeln und sozialen Strukturen spielen. Diese These mag zunächst paradox erscheinen, da Emotionen im Alltagsverständnis geradezu stellvertretend für alles Individuelle, Unregelmäßige, Spontane und Disruptive stehen. Nicht zuletzt die Ergebnisse der erwähnten Disziplinen machen aber deutlich, dass diese Annahme nicht uneingeschränkt haltbar ist - im Gegenteil: Emotionen, so die These, haben einen maßgeblichen Anteil am alltäglichen, regelmäßigen und kollektiven Handeln der Akteure und bestimmen auf diese Weise entscheidend die Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung und damit das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund sollen Emotionen konzeptionell und funktional als bidirektionale Vermittlungsinstanz zwischen Handlung und Struktur untersucht werden. Einerseits soll dabei ihre sozialtheoretische Bedeutung für die Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung - also den Mikro-Makro-Link - herausgearbeitet werden, andererseits sollen auch neue emotionstheoretische Erkenntnisse gewonnen werden. Emotionen werden dementsprechend sowohl als Explanans als auch als Explanandum untersucht. Auf der einen Seite sollen Emotionen dazu beitragen, Handlungen und daraus resultierende Strukturdynamiken zu erklären, auf der anderen Seite dienen soziale Strukturen wiederum als eine Erklärungsgrundlage für die Entstehung von Emotionen. Die Analyse vollzieht sich in drei grundlegenden Schritten. Zunächst wird im ersten Schritt der Frage nachgegangen, wie die sozial strukturierte Umwelt die Emotionen der Akteure prägt und die Emotionsentstehung strukturiert, so dass die Hypothese untermauert werden kann, dass in bestimmten sozialstrukturellen Zusammenhängen affektive und emotionale Reaktionen nicht arbiträr verteilt sind, sondern bis zu einem gewissen Grad ursächlich von den sozialen Strukturen abhängen und diese widerspiegeln. Der zweite und dritte Schritt bestehen darin, zu untersuchen, wie diese sozial strukturierten Emotionen wiederum strukturdynamische Effekte in größeren sozialen Zusammenhängen hervorrufen können. Angenommen wird, dass diese Effekte vor allem in den Handlungen und den sozialen Interaktionen der Akteure zu finden sind, so dass die Analyse sich im zweiten Schritt auf die Rolle von Emotionen im Handeln konzentriert und im dritten Schritt ihre Bedeutung in der sozialen Interaktion untersucht. Um den Bogen von der sozialen Strukturierung der Emotionen hin zur Strukturierung des Sozialen durch Emotionen zu spannen, ist es unerlässlich, inter beziehungsweise transdisziplinär zu forschen. Hierbei ausschließlich soziologisch oder sozialpsychologisch argumentieren zu wollen, kann gerade angesichts der Fülle und Differenziertheit vorhandener Paradigmen und Theorien nur zu unzureichenden und lückenhaften Ergebnissen führen. Vor allem Ergebnisse aus den Neuro und Kognitionswissenschaften, der Sozialpsychologie und natürlich der Soziologie ermöglichen dabei eine tief greifende und ausführliche Bearbeitung der beiden Untersuchungsschritte.