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Größenwahn - Ein Jack-Reacher-Roman

Lee Child

 

Verlag Blanvalet, 2017

ISBN 9783641214562 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Ich wurde in Eno’s Diner verhaftet. Um zwölf Uhr. Ich aß gerade Rühreier und trank Kaffee. Kein Mittagessen, ein spätes Frühstück. Ich war durchnässt und müde nach einem langen Marsch im strömenden Regen. Die ganze Strecke vom Highway bis zum Stadtrand.

Das Diner war klein, aber hell und sauber. Brandneu, konzipiert wie ein umgebauter Eisenbahnwaggon. Schmal, mit einer langen Theke auf der einen Seite und einer Küche, die nach hinten hinausging. Auf der gegenüberliegenden Seite Essnischen. Ein Eingang an der Stelle der Mittelnische.

Ich saß in einer Nische am Fenster und las in einer Zeitung, die jemand liegengelassen hatte, über die Wahlkampagne eines Präsidenten, den ich das letzte Mal schon nicht gewählt hatte und dieses Mal auch nicht wählen würde. Draußen hatte es aufgehört zu regnen, aber das Glas war noch übersät mit glänzenden Tropfen. Ich sah, wie die Streifenwagen auf den Kiesplatz einbogen. Sie fuhren schnell und kamen knirschend zum Stehen. Lichtsignale blitzten und blinkten. Rotes und blaues Licht auf den Regentropfen am Fenster. Wagentüren flogen auf, Polizisten sprangen heraus. Zwei aus jedem Wagen, die Waffen im Anschlag. Zwei Revolver, zwei Schrotflinten. Das war schweres Geschütz. Ein Revolver und eine Flinte rannten auf die Rückseite. Die beiden anderen stürmten zur Tür.

Ich saß nur da und beobachtete sie. Ich wusste, wer sich im Diner befand. Ein Koch im hinteren Teil. Zwei Kellnerinnen. Zwei alte Männer. Und ich. Dieser Einsatz galt mir. Ich war noch nicht mal eine halbe Stunde in der Stadt. Die anderen fünf waren wahrscheinlich schon ihr ganzes Leben hier. Gäbe es ein Problem mit einem von ihnen, würde ein verlegener Sergeant zögernd hereinkommen. Er würde eine Entschuldigung murmeln. Er würde mit leiser Stimme sprechen. Er würde den Betreffenden bitten, mit ihm zum Revier zu kommen. Also galten das schwere Geschütz und der ganze Auftrieb nicht ihnen. Das galt mir. Ich stopfte mir die Rühreier in den Mund und legte einen Fünfer unter den Teller. Faltete die Zeitung zu einem kleinen Viereck und schob sie in meine Manteltasche. Hielt meine Hände über dem Tisch und leerte die Kaffeetasse.

Der Typ mit dem Revolver blieb an der Tür. Er ging in die Hocke und zielte beidhändig mit der Waffe. Auf meinen Kopf. Der Typ mit der Repetierflinte kam näher. Die beiden waren schlank und durchtrainiert. Gepflegt und ordentlich. Agierten wie aus dem Lehrbuch. Der Revolver an der Tür konnte den ganzen Raum mit großer Genauigkeit in Schach halten. Die Flinte in meiner Nähe konnte mich über das ganze Fenster verteilen. Die umgekehrte Anordnung wäre ein Fehler gewesen. Der Revolver konnte mich in einem Nahkampf verfehlen, und von der Tür aus würde ein Schrotschuss nicht nur mich, sondern auch den anderen Officer und den alten Mann in der hinteren Nische töten. Bis jetzt machten sie alles richtig. Daran gab es keinen Zweifel. Sie waren im Vorteil. Auch daran kein Zweifel. Die enge Nische hielt mich gefangen. Ich hatte zu wenig Bewegungsspielraum, um großartig etwas zu machen. Also legte ich meine Hände auf den Tisch. Der Officer mit dem Gewehr kam näher.

»Keine Bewegung! Polizei!«, schrie er.

Er schrie, so laut er konnte. Stieß seine ganze Anspannung aus und versuchte mich einzuschüchtern. Agierte wie aus dem Lehrbuch. Viel Lärm und Aggression, um die Zielperson weichzumachen. Ich hob die Hände. Der Typ mit dem Revolver löste sich von der Tür. Der Typ mit der Flinte kam näher. Zu nahe. Der erste Fehler. Im Notfall hätte ich mich auf den Lauf der Flinte stürzen und ihn nach oben drücken können. Ein Schuss in die Decke vielleicht und ein Ellbogen im Gesicht des Polizisten, und die Waffe wäre mein gewesen. Der Typ mit dem Revolver hatte seinen Schusswinkel verengt und konnte nicht das Risiko eingehen, seinen Partner zu treffen. Es hätte übel für sie enden können. Aber ich blieb einfach sitzen, mit erhobenen Händen. Der Typ mit der Flinte sprang immer noch schreiend herum.

»Runter auf den Boden!«, brüllte er.

Ich glitt langsam aus der Nische und streckte dem Officer mit dem Revolver meine Handgelenke entgegen. Ich würde mich nicht auf den Fußboden legen. Nicht für diese Jungs vom Lande. Und wenn sie das ganze Police Department mit Haubitzen mitgebracht hätten.

Der Typ mit dem Revolver war ein Sergeant. Er blieb schön ruhig. Die Flinte hielt mich in Schach, als der Sergeant seinen Revolver zurück ins Halfter steckte, die Handschellen von seinem Gürtel löste und sie um meine Handgelenke schnappen ließ. Das Verstärkungsteam kam durch die Küche. Sie gingen um die Theke herum. Nahmen hinter mir Aufstellung. Tasteten mich nach Waffen ab. Äußerst gründlich. Ich sah, wie der Sergeant ihr Kopfschütteln bestätigte. Keine Waffen. Die beiden vom Verstärkungsteam nahmen mich bei den Ellbogen. Das Gewehr hielt mich immer noch in Schach. Der Sergeant stellte sich vor mich. Er war ein kräftiger, athletischer Weißer. Schlank und sonnengebräunt. Mein Alter. Das Schild über seiner Brusttasche zeigte seinen Namen: Baker. Er sah mich an.

»Sie werden wegen Mordverdachts verhaftet«, sagte er. »Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann als Beweis gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Sollten Sie sich keinen leisten können, bekommen Sie vom Staat Georgia einen Pflichtverteidiger gestellt. Haben Sie das verstanden?«

Das war ein schöner Vortrag meiner verfassungsmäßigen Rechte als Verhafteter. Er sprach deutlich. Er las es nicht vom Blatt ab. Er sprach, als wüsste er, was er sagte und warum es wichtig war. Für ihn und für mich. Ich antwortete nicht.

»Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«, fragte er noch einmal.

Ich antwortete wieder nicht. Lange Erfahrung hat mich gelehrt, dass absolutes Stillschweigen das Beste ist. Sagt man etwas, kann es falsch verstanden werden. Missverstanden. Falsch gedeutet. Man kann deswegen für schuldig befunden werden. Man kann deswegen getötet werden. Schweigen verärgert den Officer, der einen verhaftet. Er muss einem mitteilen, dass man das Recht hat zu schweigen, aber er hasst es, wenn man von seinem Recht Gebrauch macht. Ich wurde unter Mordverdacht verhaftet. Aber ich sagte nichts.

»Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«, fragte der Typ namens Baker noch einmal. »Sprechen Sie Englisch?«

Er war ganz ruhig. Ich sagte nichts. Er blieb ruhig. Er besaß die Ruhe eines Mannes, für den die Gefahr schon vorbei ist. Er würde mich einfach zum Revier fahren, und dann wäre ich nicht mehr sein Problem. Er sah die anderen drei Officer an.

»Okay, macht einen Vermerk, dass er nichts gesagt hat«, grunzte er. »Und dann los.«

Ich wurde zur Tür geführt. Wir formierten uns zu einer Linie. Zuerst kam Baker. Dann der Typ mit der Flinte, der rückwärtsging und immer noch mit dem dicken schwarzen Lauf auf mich zielte. Auf seinem Namensschild stand: Stevenson. Er war ebenfalls ein Weißer, mittelgroß und gut in Form. Seine Waffe sah aus wie ein Abflussrohr. Er zielte auf meinen Bauch. Hinter mir kam die Verstärkung. Man schob mich mit einer flachen Hand auf meinem Rücken durch die Tür.

Draußen auf dem Kiesplatz war es heiß. Es musste die ganze Nacht und den größten Teil des Morgens geregnet haben. Jetzt knallte die Sonne herunter, und der Boden dampfte. Normalerweise war dies wohl ein staubiger, heißer Ort. Heute aber strömte er diesen wundervollen berauschenden Duft nach nassem Straßenbelag unter einer sengenden Mittagssonne aus. Ich hielt mein Gesicht der Sonne entgegen und atmete tief ein, während sich die Officer neu formierten. Einer an jedem Ellbogen für die kurze Strecke zu den Wagen. Stevenson immer noch mit der Waffe im Anschlag. Beim ersten Wagen sprang er einen Schritt zurück, als Baker die Hintertür öffnete. Mein Kopf wurde runtergedrückt. Der Typ an meinem linken Arm schob mich mit einem sauberen Hüftkontakt in den Wagen. Alles einwandfrei. In einer Stadt so weit vom Schuss war das sicher eher das Ergebnis von langem Training als von langer Erfahrung.

Hinten im Wagen war ich allein. Eine dicke Trennwand aus Glas unterteilte den Innenraum. Die Vordertüren waren noch offen. Baker und Stevenson stiegen ein. Baker fuhr. Stevenson hatte sich umgedreht und hielt mich in Schach. Keiner sprach.

Der Wagen mit der Verstärkung folgte uns. Die Wagen waren neu. Glitten ruhig und weich dahin. Innen war es sauber und kühl. Keine Spuren verzweifelter, aufgewühlter Menschen, die dort gesessen hatten, wo ich jetzt saß.

Ich blickte aus dem Fenster. Georgia. Sah fruchtbares Land. Schwere, feuchte rote Erde. Sehr lange, gerade Reihen niedriger Büsche auf den Feldern. Erdnüsse vielleicht. Beulige Früchte, aber wertvoll für den Pflanzer. Oder für den Besitzer. Besaßen die Leute hier das Land, das sie bewirtschafteten? Oder gehörte es riesigen Konzernen? Ich wusste es nicht.

Die Fahrt in die Stadt war kurz. Das Auto zischte über den glatten, nassen Asphalt. Nach vielleicht einer halben Meile sah ich zwei schicke Gebäude, beide neu, beide mit gepflegten Grünanlagen. Das Polizeirevier und die Feuerwehr. Zwei einzelne, nahe beieinanderstehende Gebäude hinter einer weitläufigen Rasenfläche mit einer Statue, am nördlichen Rand der Stadt. Reizvolle Landhausarchitektur aus einem großzügigen Etat. Die Straßen waren aus glattem Asphalt, die Bürgersteige aus rotem Backstein. Etwa dreihundert Meter weiter südlich konnte ich einen blendend weißen Kirchturm hinter einer kleinen Ansammlung von Häusern sehen. Ich sah Fahnenmasten, Markisen, frische Farbe und grüne Rasenflächen. Alles wie neu durch den starken Regen. Jetzt dampfte es und wirkte in der Hitze irgendwie intensiver. Eine wohlhabende...