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Nur der Tod kann dich retten - Roman

Joy Fielding

 

Verlag Goldmann, 2017

ISBN 9783641216313 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1


TOTENBUCH

 

 

 

 

Das Mädchen wacht auf.

Sie rührt sich, die mascaraverklebten Lider flattern verführerisch, bevor sie die großen blauen Augen aufschlägt, wieder schließt und erneut öffnet, länger diesmal, um beiläufig die unvertraute Umgebung zu registrieren. Dass sie an einem fremden Ort ist, ohne sich daran zu erinnern, wie sie hierhergekommen ist, wird ihr erst in einigen Sekunden dämmern. Dass ihr Leben in Gefahr ist, wird sie unvermittelt mit der Wucht einer riesigen Sturzwelle treffen und sie wieder auf die schmale Pritsche zurückwerfen, die ich vorausschauend bereitgestellt habe.

Das ist das Beste, beinahe noch besser als alles, was später kommt.

Ich war nie ein großer Fan von Blut und Eingeweiden. Diese neuen Fernsehserien, die jetzt so beliebt sind, mit Top-Pathologen in hautengen Hosen und Push-up-BHs, lassen mich mehr oder weniger kalt. All die Leichen bringen es einfach nicht – all die Pechvögel, die mit einer exotischen Vielfalt immer blutrünstigerer Methoden ins Jenseits befördert worden sind und die nun in ultramodernen Pathologiesälen auf kalten Stahlplatten liegen, um von behandschuhten Fingern leidenschaftslos geöffnet und begrapscht zu werden. Selbst wenn die Leichen nicht so offensichtlich künstlich wären, würden sie mich nicht anmachen – wobei die künstlichsten Gummileiber immer noch echter aussehen als die allgegenwärtigen Brustimplantate, die von den tapferen Push-up-BHs im Zaum gehalten werden. Gewalt an sich war nie mein Ding. Ich fand den Spannungsaufbau vor der Tat immer interessanter als die Tat selbst.

Genauso wie mir die nie ganz perfekte, natürliche Form echter Brüste immer lieber war als die künstlich aufgeblasenen – und absolut schrecklichen – Ungetüme, die heutzutage allseits so beliebt sind. Und das nicht nur im Fernsehen. Man sieht sie überall. Selbst hier an der Alligator Alley, mitten in Florida.

Am Arsch der Welt.

Ich glaube, es war Alfred Hitchcock, der den Unterschied zwischen Schock und Thrill definiert hat. Ein Schock war seiner Ansicht nach eine stoßartige Attacke auf alle Sinne, die kaum eine Sekunde dauert, während Thrill eher ein langsames Reizen ist. Ungefähr so wie der Unterschied zwischen einem ausgedehnten Vorspiel und einem verfrühten Samenerguss, möchte ich hinzufügen und stelle mir vor, dass der alte Alfred schmunzelnd zustimmen würde. Er hat den Thrill dem Schock immer vorgezogen, weil es aufregender und letztendlich befriedigender war. Da bin ich ganz seiner Meinung, obwohl ich wie Hitch auch einem gelegentlichen Schock nicht abgeneigt bin. Es soll schließlich spannend bleiben.

Wie dieses Mädchen bald herausfinden wird.

Sie sitzt jetzt aufrecht auf ihrer Pritsche, die Hände ängstlich zu Fäusten geballt, während sie ihre schwach beleuchtete Umgebung mustert. Der verwirrte Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht – zum Sterben schön, wie mein Großvater immer sagte – verrät mir, dass sie sich anstrengt, ruhig zu bleiben, nachzudenken und zu begreifen, was geschehen ist, während sie sich weiter an die Hoffnung klammert, dass das Ganze vielleicht doch nur ein böser Traum ist. Denn eigentlich kann das alles doch nicht wahr sein. Sie kann nicht tatsächlich auf der Kante einer winzigen Pritsche in einem Raum sitzen, der aussieht wie ein Keller, wenn Häuser in Florida denn Keller hätten, was jedoch in der Regel nicht der Fall ist, weil der Staat Florida fast ausschließlich auf Sumpfland gebaut ist.

Gleich wird die Panik einsetzen. Sobald ihr klar wird, dass sie nicht träumt, dass ihre Lage vielmehr real und ziemlich verzweifelt ist, dass sie in einem verschlossenen Raum eingesperrt ist, dessen einzige Lichtquelle eine Lampe auf einem Sims weit jenseits ihrer Reichweite ist, selbst wenn es ihr gelänge, die Pritsche aufzurichten und hochzuklettern. Das hatte das letzte Mädchen versucht und war dabei auf den Lehmboden gestürzt. Dort saß sie, hielt ihr gebrochenes Handgelenk und weinte. Und dann fing sie an zu schreien.

Das war ganz spaßig – eine Zeit lang.

Gerade hat sie die Tür entdeckt, aber im Gegensatz zu dem letzten Mädchen geht sie nicht direkt darauf zu. Stattdessen sitzt sie einfach da, beißt sich auf die Unterlippe und blickt sich ängstlich um. Sie atmet laut und sichtbar, ihr pochendes Herz droht ihre Brust zu sprengen, ihre großen hängenden Brüste – die wenigstens echt sind – beben wie die einer hyperventilierenden Kandidatin bei Der Preis ist heiß. Soll sie sich für Tür Nummer eins, zwei oder drei entscheiden? Nur dass es hier bloß eine Tür gibt, und wer weiß, was sich dahinter verbirgt. Die Dame oder der Tiger? Rettung oder Vernichtung? Meine Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln. Sie wird gar nichts finden. Zumindest noch nicht. Nicht, bevor ich so weit bin.

Sie hat sich von der Pritsche erhoben, ihre Neugier treibt sie an, die Füße voreinander zu setzen und zur Tür zu gehen, selbst wenn eine bohrende Stimme ihr warnend ins Ohr wispert, dass Neugier der Katze Tod ist. Verlässt sie sich auf das alte Ammenmärchen, dass eine Katze neun Leben hat? Glaubt sie, ein paar nutzlose alte Weiberweisheiten könnten sie retten?

Mit zitternder Hand greift sie nach dem Türknauf. »Hallo?«, ruft sie, leise zunächst, die Stimme ebenso zittrig wie ihre Finger. »Hallo?«, wiederholt sie kräftiger. »Ist da jemand?«

Ich bin versucht, ihr zu antworten, aber ich weiß, dass das keine gute Idee ist. Zunächst einmal würde es ihr verraten, dass ich sie beobachte. Im Augenblick ist ihr der Gedanke, dass sie observiert werden könnte, noch nicht gekommen, und wenn das geschieht, vielleicht in ein oder zwei Minuten, wird sie panisch die Augen aufreißen und den Raum absuchen. Vergeblich. Sie kann mich nicht sehen. Das Guckloch, das ich in die Wand gebohrt habe, ist zu klein und viel zu weit oben, als dass sie es entdecken könnte, vor allem in dem schwachen Licht. Außerdem würde der Klang meiner Stimme ihr nicht nur eine Ahnung von meiner Anwesenheit und meinem Aufenthaltsort geben, er könnte ihr auch helfen, mich zu identifizieren, was ihr einen unnötigen Vorsprung in der anstehenden Psycho-Schlacht verschaffen würde. Nein, ich werde mich schon früh genug zu erkennen geben. Es hat keinen Sinn, dem Spiel vorauszueilen. Das Timing wäre einfach nicht richtig. Und Timing ist, wie man so sagt, alles.

»Hallo? Irgendjemand da?«

Ihre Stimme klingt jetzt drängender, verliert ihr mädchenhaftes Timbre und wird schrill, beinahe feindselig. Das ist eines der interessanten Phänomene, die ich über weibliche Stimmen herausgefunden habe – wie schnell sie von herzlich in herrisch umschlagen, von tröstend in enervierend, wie schamlos sie alles enthüllen wollen, wie kühn sie ihre angstvollen Worte in die ahnungslose Luft schleudern. Die sanfte Flöte wird von einem wilden Dudelsack übertönt, das Kammerorchester von einer Marschkapelle niedergetrampelt.

»Hallo?« Das Mädchen packt den Türknauf und versucht, die Tür in ihre Richtung aufzuziehen. Aber die Tür gibt nicht nach. Schnell verkommen ihre Bewegungen zu einer Folge unbeholfener Posen, die immer unüberlegter und hektischer werden. Sie zieht an der Tür, drückt und rammt ihre Schulter dagegen, was sie mehrmals wiederholt, bevor sie aufgibt und in Tränen ausbricht. Das ist das Andere, was ich an Frauen beobachtet habe – sie heulen ständig. Es ist der einzige Punkt, an dem sie einen nie enttäuschen, das Einzige, worauf man sich verlassen kann.

»Wo bin ich? Was geht hier vor?« Zunehmend frustriert hämmert das Mädchen mit den Fäusten gegen die Tür. Sie ist jetzt nicht mehr nur verängstigt, sondern auch wütend. Sie weiß vielleicht nicht, wo sie ist, aber sie weiß, dass sie nicht freiwillig hierhergekommen ist. In ihrem Kopf beginnt es von immer grausameren Bildern zu wimmeln – Zeitungsschlagzeilen aus jüngerer Zeit über vermisste Mädchen, Fernsehberichte über Leichen, die man notdürftig in der Erde verscharrt gefunden hatte, Bilder von Messern und anderen Folterinstrumenten aus Versandhauskatalogen, Filmausschnitte von hilflosen Frauen, die vergewaltigt und erwürgt werden, bevor man ihre Leichen in schleimbedeckten Sümpfen versenkt. »Hilfe!«, fängt sie an zu schreien. »Bitte helft mir!« Aber auch ihre Klagerufe treffen nur auf die abgestandene Luft, und ich nehme an, dass sie weiß, dass sie völlig nutzlos sind, weil kein Mensch sie hören kann.

Kein Mensch außer mir.

Ihr Kopf schnellt hoch, ihre Augen richten sich wie Suchscheinwerfer auf mich, sodass ich von der Wand zurückzucke und im Rückwärtstaumeln beinahe über meine eigenen Füße stolpere. Als ich mich wieder gesammelt habe und zu Atem gekommen bin, geht sie in dem kleinen Raum im Kreis und blickt sich hektisch in alle Richtungen um, während sie mit flachen Händen die blanken Betonmauern nach einer weichen Stelle abtastet. »Wo bin ich? Ist da draußen jemand? Warum hat man mich hierhergebracht?«, ruft sie, als ob sie auf die richtige Frage eine beruhigende Antwort bekommen würde. Schließlich gibt sie auf, sinkt auf der Pritsche in sich zusammen und weint noch eine Runde. Als sie den Kopf wieder hebt und mich zum zweiten Mal direkt ansieht, sind ihre großen blauen Augen tränenverquollen und unvorteilhaft rot gerändert. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, und mein Wunsch ist Vater des Gedanken.

Sie richtet sich wieder auf und atmet mehrmals tief durch. Sie versucht offenkundig, sich zu beruhigen, während sie ihre Lage...