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Einwurf - Wahrheiten über den Fußball und mein Leben

Harald 'Toni' Schumacher

 

Verlag Heyne, 2017

ISBN 9783641216139 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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15,99 EUR


 

Hart aber herzlich auf Schalke

Mein doppelter Rausschmiss reichte einigen Kräften im Deutschen Fußball-Bund nicht. Sie wollten verhindern, dass ich jemals wieder in Deutschland Fußball spielte. Hans Kindermann, der damalige »Chefankläger« des DFB, war einer von ihnen. Ich war fassungslos. Mir auch noch die Existenzgrundlage zu entziehen – das ging entschieden zu weit. Ich zog die Reißleine und spielte das schmutzige Spiel gezwungenermaßen mit: Dezent wies ich darauf hin, dass ich meine »Freizeit« nutzen würde, um ein zweites Buch zu schreiben. Im Vergleich dazu würde sich Anpfiff wie »Hänsel und Gretel« lesen. Ich hörte nie mehr etwas von einer lebenslangen Sperre.

Der erste Verein, der mich nach dem Erscheinen meines Buches verpflichten wollte, war der FC Schalke 04. Rolf »Rolli« Rüßmann sprach mich an. Der ehemalige Nationalspieler war soeben Manager der Königsblauen geworden. Allerdings gab es ein Problem zwischen Schalke und mir, das zuerst gelöst werden musste.

Olaf Thon, den ich in Anpfiff kritisiert hatte, war der große Hoffnungsträger und Fanliebling auf Schalke. Er hatte zunächst mit einem Anwalt gedroht, doch als die Klubbosse ihm signalisierten, dass sie mit mir über eine gemeinsame Zukunft sprechen wollten, kehrte in Rekordzeit Ruhe ein. Da war ihm – angesichts der Schalker Probleme auf der Torwartposition – das Hemd näher als die Hose. Ich machte Olaf klar: »Ich komme nur, wenn wir an einem Strang ziehen.« Wir gaben uns die Hand, die Sache war vergessen. Die Gespräche konnten starten.

Der FC Schalke 04 war nicht der einzige Klub, der mich verpflichten wollte. Zwei französische Vereine hatten sich ebenfalls gemeldet.

Frankreich, ausgerechnet Frankreich. Das Land, das in mir den Inbegriff des hässlichen Deutschen, ein Monster sah. Allein der Gedanke, in jedem Stadion ausgepfiffen zu werden – genial. Der Hass, der mir aus gegnerischen Kurven entgegenschlug, hatte mich noch nie gelähmt. Ich drehte ihn um in Motivation, steigerte damit meine Konzentration. Umgehend engagierte ich eine Sprachlehrerin und begann Französisch zu lernen.

Fünf Jahre lag das Foul an Patrick Battiston zurück, ich hatte mich bei ihm entschuldigt, und wir versöhnten uns vor laufenden Fernsehkameras. Schon im April 1984, als wir mit der deutschen Nationalmannschaft in Straßburg erstmals nach dem WM-Halbfinale von Sevilla wieder auf Frankreich trafen, spürte ich, dass die Franzosen trotz aller Vorbehalte sportliche Leistung respektieren. Im Meinau-Stadion herrschte vor dem Anpfiff eine hochaggressive Stimmung. Wegen der »Bestie von Sevilla«. Verbale Anfeindungen, Nazi-Vergleiche auf Transparenten, der Höhepunkt ein Galgen hinter dem Tor mit mir als Gehenktem. Schon beim Warmmachen war ich Freiwild. Obst, Dosen, Becher, sogar Kracher flogen in meine Richtung. Der übertragende TV-Sender hatte zwei zusätzliche Kameras im 16-Meter-Raum aufgebaut, um meine Reaktion einzufangen. Wir verloren 0:1. Dennoch war ich nach 90 Minuten regelrecht euphorisiert. Die Niederlage schmerzte nicht. Dieses eine Mal nicht. Ich hatte es in diesem Spiel geschafft, den Großteil der 50 000 Zuschauer auf meine Seite zu ziehen, teils mit sportlicher Leistung, sicher aber auch durch die versöhnlichen Gesten mit Patrick Battiston. Ich hatte gewonnen – den Respekt der Franzosen.

Ich fühlte mich wohl in der Höhle des Löwen. In zwei Abendshows im französischen Fernsehen lernten die Franzosen mich besser kennen. In beiden Sendungen ließen die Macher die Zuschauer per Telefon abstimmen, für wie glaubwürdig sie den Gast aus Deutschland hielten. Beide Male schlug der Pegel zu meinen Gunsten aus.

Einer der zwei interessierten französischen Vereine kam nicht infrage wegen der fehlenden internationalen Schule für meine Kinder. Der zweite Klub unterschätzte meine kompromisslose preußische Disziplin und entschied damit über meinen nächsten Lebens- und Karriereabschnitt. Wir hatten uns für einen Montag im Mai um neun Uhr am Pariser Flughafen »Charles de Gaulle« verabredet. Pünktlich erwarteten wir unsere Verhandlungspartner am Treffpunkt. Gleichzeitig stand ich bei Rolf Rüßmann mit einer Entscheidung im Wort. Ich hatte ihm meinen Anruf für elf Uhr versprochen, rechtzeitig zur Vorstandssitzung. Wer leider nicht rechtzeitig kam, waren die Franzosen. War es Laissez-faire? Oder waren es unglückliche Umstände? Für mich machte das in diesem Moment keinen Unterschied. Ich bin ein Mensch, der zu seinem Wort steht, der seine Verabredungen einhält. Unpünktlichkeit empfinde ich als respektlos.

Um Punkt elf Uhr rief ich Rüßmann an: »Rolli, alles klar. Ich komme. Mach die Verträge fertig.« Auf dem Weg zurück zum Gate sprachen mich zwei Franzosen an: meine potenziellen Verhandlungspartner. Ob ich »Sorry« oder »Pardon« sagte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls teilte ich ihnen mit, dass der Zug abgefahren sei. Ohne sie. »Das geht nicht«, insistierte einer der Herren verzweifelt. »Doch«, erwiderte ich, »das geht. Sie sind zu spät.«

Wie sehr Frankreich mich auch gereizt hätte, meine Prinzipien ließen keine andere Entscheidung zu.

Das Schalke, das mich verpflichtete, war nicht vergleichbar mit dem Zuschauermagneten von heute. 1987 war der Verein Bundesliga-Dreizehnter, der Trend zeigte abwärts. Der siebenmalige Deutsche Meister steckte in einer tiefen Krise.

Der Kader war eine bunte Mischung aus alternden Stars (wie Klaus »Tanne« Fichtel oder Rüdiger Abramczik) und jungen Talenten. Mittendrin Olaf Thon, auf Kohle geborener Hoffnungsträger, sportlich und finanziell. Die »Knappen« plagten Schulden in Höhe von fast acht Millionen Mark, Thon galt als Fallschirm für den Fall des sportlichen Absturzes. In dieser Situation hätte seine Ablöse die Insolvenz verhindert.

Wie »sensibel« man damals auf Schalke mit vertraulichen Daten umging, erlebte ich im Frühjahr 1988. Die gerade auf dem Markt platzierte Zeitschrift Sport Bild veröffentlichte auf dem Titelblatt »exklusiv« mein Gehalt: »Schumacher – Schalke zahlt ihm 510 000 Mark pro Jahr!«

Dagegen war nichts zu sagen, die Summe stimmte. Jetzt wusste man auch in Köln, dass der Verstoßene mehr als das Doppelte verdiente. 220 000 Mark pro Jahr hatte mir mein Sechs-Jahres-Vertrag mit dem FC gebracht. Kein Trost für mich, lieber wäre ich für weniger Geld beim 1. FC Köln geblieben.

Sportlich lief es katastrophal. Auf den emotionalen Tiefpunkt meiner Karriere folgte der sportliche. Die Saison 1987/88 endete mit Schalkes drittem Abstieg in die 2. Liga innerhalb eines Jahrzehnts.

Unglaubliches Verletzungspech zwang die Trainer immer wieder zu Umstellungen. Die Mannschaft konnte keine Einheit werden. Ein einziger Spieler im Kader spielte diese Saison durch – das war ich. Der 41-jährige Fichtel lief noch elfmal auf, einzig Olaf Thon versprühte so etwas wie Glanz, erzielte in 28 Spielen 14 Tore. Reihenweise verletzten sich die Routiniers, die das Gerüst bilden sollten. Irgendwann wurde es selbst Trainer Rolf Schafstall zu viel, der eines Tages in die Kabine kam und wieder einmal zusehen musste, wie sich einige Spieler fit spritzen ließen: »Lasst es sein, Jungs. Ich kann nicht mehr sehen, wie ihr eure Gesundheit ruiniert.«

Voller Einsatz auf Schalke – © Imago (Ferdi Hartung)

Ich tat, was ich konnte, und kassierte dennoch 84 Tore, 84 Stiche in mein Sportlerherz. Sie nagten an meinem Selbstwertgefühl wie 84 hungrige Ratten. Ich fühlte mich als Teil dieser sportlichen Katastrophe. Das passte so gar nicht zu dem Double-Sieger, Europameister, zweimaligen Vizeweltmeister und Fußballer des Jahres. Ironie des Schicksals: Nie während meiner Karriere war ich so häufig in der »Elf des Tages« wie in diesem Jahr auf Schalke. Hätte ich in Köln nach jedem Gegentor vor Wut in den Pfosten beißen können, erlebte Schalke einen viel ruhigeren Toni Schumacher. Anders als sonst beherrschte ich mich, um die jungen, motivierten, aber unerfahrenen Spieler nicht völlig zu demoralisieren.

Unsere Verletzungsmisere führte zu den aberwitzigsten Missverständnissen: Während eines Spiels fragte ich nach dem Namen unseres linken Verteidigers. Die Antwort: »Das ist der Helmut.« Ich schrie dauernd: »Helmut, decken«, doch der reagierte nicht. Konnte er auch nicht. Er hieß nämlich Dieter. Ein typisches Beispiel für die Folgen unserer Zwangsrotation.

Wir gewannen nur acht Spiele und stiegen am Ende der Saison sang- und klanglos ab. Das einst so stolze Schalke blieb anschließend drei Spielzeiten in der 2. Liga, bis zum Wiederaufstieg in der Saison 1990/91.

Was die Begeisterung und die Nähe zu den Fans anging, war Schalke die bestmögliche Vorbereitung auf das, was mich in Istanbul erwarten würde. Hart, aber herzlich ging es im Ruhrpott zu. Da blieb so manches Mal kein Auge trocken, wenn die Fans ihre Dauerverlierer auf dem Weg zum Trainingsplatz mit gnadenlosen Sprüchen einseiften.

Kürzlich stolperte ich bei Recherchen zu dieser Zeit im Internet auf den Rückblick eines Users auf Transfermarkt.at. In launigen Worten erzählt er, wie sein Vater ihn 1987 zu einem Besuch auf Schalke nötigte und er sich auf einen Schlag in diese »herbe Schönheit« verliebte. Seine ironische Charakterisierung unserer Spielkunst traf den Kern: »Ich selbst, ein unmündiger Knirps …verliebte mich unsterblich in die schlechteste Bundesligamannschaft des FC Schalke aller Zeiten«, klagte er und beschrieb unsere Fähigkeiten. »Etwa wie ›Garrincha Edelmann‹ seine geraden...