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Imperiale Lebensweise - Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus

Ulrich Brand, Markus Wissen

 

Verlag oekom Verlag, 2017

ISBN 9783960061540 , 224 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

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Kapitel 2
Multiple Krise und sozial-ökologische Transformation


Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus.
Karl Marx und Friedrich Engels1
Wir leben in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite gibt es breite gesellschaftspolitische Diskussionen über die ökologische Krise, insbesondere über den Klimawandel. Auch die Energiewende wurde in vielen Ländern zu einem wichtigen Thema. In den Medien ist Umweltpolitik präsent, vielfältige Forschungen finden dazu statt, eine nicht mehr überschaubare Anzahl von Fachtagungen behandeln spezifische Aspekte der ökologischen Krise und ihrer Bearbeitung. Staatliche Politik und Verwaltung befassten sich seit Jahren intensiv mit Nachhaltigkeitsthemen, und auch in vielen Unternehmen und ihren Verbänden und bei einer zunehmenden Zahl von Beschäftigten und ihren Gewerkschaften scheint das Thema »angekommen« zu sein. Im Schulunterricht sind Umwelt und Nachhaltigkeit inzwischen fester Bestandteil der Lehrpläne, an den Hochschulen gibt es ein breites Angebot von einschlägigen Studiengängen sowie von Lehrmodulen in den herkömmlichen Fächern.
Es tut sich etwas – und die vielfältigen Debatten und Aktivitäten haben eine lange Vorgeschichte. Die Energiewende etwa wäre kaum vorstellbar ohne die Umweltbewegung in (West-)Deutschland seit den 1980er-Jahren, ohne die harten Auseinandersetzungen um den Stellenwert der Atomenergie; ohne die zivilgesellschaftlichen und lokalpolitischen Vorreiter, die bereits mit der Energiewende begannen, als es den Begriff noch gar nicht gab. In Österreich waren die Volksabstimmung über das Atomkraftwerk Zwentendorf im Jahr 1978 und die Auseinandersetzungen um das Wasserkraftwerk in der Hainburger Au zu Beginn der 1980er-Jahre Meilensteine der umweltpolitischen Sensibilisierung.
Umso paradoxer ist die Tatsache, dass die Umweltzerstörung weiter und immer schneller voranschreitet, wie weiterhin alarmierende Studien und Berichte zeigen: Der globale Ressourcenverbrauch hat sich nach einer rasanten Beschleunigung um die Jahrhundertwende seit 1970 verdreifacht.2 Der notwendige sozial-ökologische Umbau der Gesellschaften gelingt nur in wenigen Bereichen und ist bei Weitem nicht ausreichend.3 Mehr noch, er wird durch höchst dynamische nichtnachhaltige Entwicklungen konterkariert: Die Autos werden im Durchschnitt größer und mit stärkeren Motoren ausgestattet, der Flugverkehr nimmt weiter zu, der Fleischkonsum bleibt in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf hohem Niveau, und die ökologisch wenig nachhaltig produzierten Smartphones wurden in den letzten Jahren fest im Alltag der Menschen verankert. Vergegenwärtigen wir uns vor diesem Hintergrund einige jüngere Entwicklungen.

Von der Doppelkrise zur multiplen Krise


Die Ausrufung des Zeitalters »nachhaltiger Entwicklung« vor 25 Jahren in Rio de Janeiro war ein Meilenstein. Auf der Weltkonferenz zu Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen im Juni 1992 wollte die sogenannte Weltgemeinschaft einen Startschuss dazu abgeben, die »Doppelkrise« von Umwelt und Entwicklung anzugehen.4 Nach dem Ende der Blockkonfrontation, angesichts eines steigenden Umweltbewusstseins in vielen Ländern und des offensichtlichen Scheiterns klassischer Entwicklungsstrategien, die ökologische Fragen weitgehend ausblendeten, wurde eine Umorientierung angestrebt. Die beiden »Rio-Konventionen« zu Klima und biologischer Vielfalt sowie die Agenda 21 sollten einen globalen Rahmen für lokale, nationale und regionale Politiken schaffen. Auf der internationalen Ebene entwickelte sich die Vorstellung eines »globalen Umweltmanagements«5: Wenn nur die richtigen politischen Rahmenbedingungen und Anreize geschaffen werden, so die Annahme, dann lassen sich die Probleme lösen und ein sozial-ökologischer Umbau vorantreiben. Das Leitbild der »nachhaltigen Entwicklung« schillerte.
Kritische Stimmen – etwa im Umfeld der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) – merkten bereits damals an, dass trotz der ehrgeizigen Ziele vieles nicht angesprochen wurde. Dazu gehörte etwa die kapitalistische Globalisierung: Sie war kein Thema, obwohl seit Mitte der 1980er-Jahre über eine Welthandelsorganisation verhandelt wurde, die dann 1995 tatsächlich zustande kam. Der Geist, aus dem sie geschaffen wurde, durchdrang auch die internationale Umweltpolitik: Sowohl die Klimarahmen- als auch die Biodiversitätskonvention setzten bei der Bekämpfung der ökologischen Krise wesentlich auf Marktmechanismen. Ebenso kein Thema waren die imperialen Nord-Süd-Verhältnisse, obwohl der zweite Golfkrieg eineinhalb Jahre vor der Rio-Konferenz begann und der damalige US-Präsident Bush betonte, der US-amerikanische Lebensstil sei nicht verhandelbar. Und schließlich hinterfragte nach Rio kaum jemand, ob denn die bestehenden politischen Institutionen – sei es auf lokaler und nationalstaatlicher, sei es auf internationaler Ebene – die Probleme überhaupt angehen könnten. Die Debatte über Globalisierung und über die Schwächung oder Veränderung des Staates fand kaum in den Diskussionen um nachhaltige Entwicklung statt – dort dominierte ein starkes Vertrauen in Staat und Regierungen.
2007/08 wurde die Diskussion um Nachhaltigkeit durch die Wirtschafts- und Finanzkrise modifiziert. Umweltpolitische Anliegen gerieten unter Druck, weil es nun ums (vermeintliche) »Kerngeschäft« ging, nämlich die Sicherung von kapitalistischem Wachstum, Produktion und Arbeitsplätzen. Die Abwrackprämie in Deutschland und die Schrottprämie in Österreich stehen als Beispiel dafür, wie in der Krise Unternehmen, Gewerkschaften und Politik einen Schlüsselsektor der deutschen und österreichischen Industrie – in Kombination mit Kurzarbeit – stabilisierten. Als Teil des zweiten Konjunkturpaketes im Jahr 2009 förderte die deutsche Bundesregierung mit der »Umweltprämie« den Kauf eines neuen Autos mit 2.500 Euro (insgesamt handelte es sich um 5 Milliarden Euro). Von Januar bis September 2009 wurden mit der Prämie 1,75 Millionen Neuwagen angeschafft. In Österreich wurde die Anschaffung von 30.000 Neuwagen mit jeweils 1.500 Euro bezuschusst, um die Automobilzulieferer zu unterstützen. Aus kurzfristiger ökonomischer Sicht war das durchaus sinnvoll, um nicht Menschen entlassen zu müssen und um wichtige Produktionskapazitäten zu erhalten, die ggf. verloren gegangen wären. Aus sozialer Sicht hatten Abwrack- und Schrottprämie eine gewisse Schlagseite, weil dadurch gerade die mächtigen Industrien mit ihren gewerkschaftlich organisierten, gut bezahlten und weitgehend männlichen Arbeitsplätzen gestützt wurden. In anderen wirtschaftlich ebenso relevanten Branchen wie der Pflege gab es weit weniger politische Unterstützung für die Beschäftigten. Und aus ökologischer und auch aus langfristiger ökonomischer Perspektive ist die Stabilisierung einer Branche, die ohnehin tiefgreifend umgebaut werden muss, durchaus problematisch. Ein Neuwagen emittiert in der Regel zwar weniger Schadstoffe als ein älteres Modell. Da der »ökologische Rucksack« eines Autos – also der gesamte Material- und Energieaufwand, der für seine Herstellung, Nutzung und Entsorgung erforderlich ist – aber über dessen gesamte Lebensdauer abgeschrieben wird, verbleibt eine nicht abgeschriebene »Restschuld«, wenn ein Fahrzeug früher als nötig verschrottet wird. Und genau dafür wurden mit der Abwrack- und Schrottprämie Anreize geschaffen.6
Solchen ökologisch wenig sensiblen Krisenpolitiken zum Trotz wurde zur selben Zeit – und dann insbesondere seit dem Scheitern der Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen und der Entstehung einer globalen Bewegung für Klimagerechtigkeit – die ökologische Krise repolitisiert. Die Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011, die in einigen Ländern zu einer stärkeren Förderung erneuerbarer Energien führte (oder aufgrund derer diese Förderung zumindest zum politisch deklarierten Ziel wurde), sowie die Dramatik im Vorfeld und auf der Pariser Klimakonferenz Ende 2015, auf der es um ein Folgeabkommen für das Kyoto-Protokoll von 1997 ging, sind vielen noch gut in Erinnerung.
Im Vergleich zu den umweltpolitischen Debatten der 1990er-Jahre hat sich der Kontext jedoch in zweierlei Hinsicht deutlich verschoben. Erstens gingen der spektakuläre wirtschaftliche Aufstieg einiger vormaliger Entwicklungsländer und die damit einhergehenden Wohlstandsgewinne für Teile der Bevölkerung mit einer enormen Zunahme der Förderung und Nutzung natürlicher Ressourcen sowie mit steil ansteigenden Treibhausgasemissionen einher. Schon heute etwa weisen einige Schwellenländer in absoluten Zahlen – also nicht pro Kopf – größere CO2-Emissionen auf als viele OECD-Länder, Tendenz steigend: China emittierte im Jahr 2014 etwa 9,7 Milliarden Tonnen CO2 und damit pro Kopf etwa sieben Tonnen, die USA im Vergleich 5,6 Milliarden Tonnen (allerdings pro Kopf 17 Tonnen).7 Um diese Mengen einzuordnen: Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen geht davon aus, dass jeder Mensch im Zeitraum von 2010 bis 2050 über ein jährliches »Budget« von 2,7 Tonnen CO2 verfügt.8 Das heißt, er oder sie darf im Durchschnitt pro Jahr nicht mehr emittieren als diese Menge, damit das 2-Grad-Ziel in der Klimapolitik9 mit einer Wahrscheinlichkeit von 66 Prozent erreicht werden kann. In dieser Rechnung ist das Wachstum der Weltbevölkerung noch nicht berücksichtigt.
Zweitens wird seit Beginn der Krise 2007/08 zunehmend anerkannt, dass es sich bei der derzeitigen Krise...