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Schänderzorn - Thriller

Wrath James White

 

Verlag Festa Verlag, 2017

ISBN 9783865525437 , 100 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

PROLOG

Der Staatsanwalt war ein pingeliger dürrer Mann mit einer schmalen, rechteckigen Brille, die seine grünen Augen riesig erscheinen ließ. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, dazu ein rosafarbenes Hemd und eine Krawatte. Er fummelte ständig an ihr herum, als würde er Gefahr laufen, von dem Ding sonst stranguliert zu werden. Während er inbrünstig redete, lief sein kahl rasierter Schädel rot an, also jedes Mal, wenn er den Geschworenen Josephs Verbrechen darlegte.

Früher an diesem Tag hatte der junge Bezirksstaatsanwalt den des Mordes angeklagten Joseph Miles auf eine Weise beschrieben, als wäre er die größte Bedrohung für die Sicherheit der Menschheit seit der Erfindung der Atombombe.

Seine nach vorne fallenden Schultern und die eingesunkene Brust vermittelten den Eindruck, er hätte gerade einen enorm kräftigen Schlag gegen den Oberkörper abbekommen und fürchte weitere Schläge, denen er durch diese verschüchterte Haltung zu entgehen hoffte. Im Gegensatz zu seiner restlichen Erscheinung war sein Kinn kräftig und markant. Er hielt es hoch erhoben, was ihm ein fast aristokratisches Aussehen verlieh.

Er war gerade mal 1,65 groß und fast schon mager. Es war gewissermaßen lustig, dass ein dermaßen kleiner Mann über eine derart volltönende und basslastige Stimme verfügte. Während der Pflichtverteidiger den psychologischen Experten ins Kreuzverhör nahm, starrte der Staatsanwalt Joe von der anderen Seite des Gerichtssaals aus konzentriert und herausfordernd an.

Die Richterin, eine dicke Schwarze mit grau gesprenkelten Dreadlocks, die sie als Pferdeschwanz trug, nickte Joes Anwalt zu. »Sie dürfen Ihr Kreuzverhör fortsetzen, Mr. Leyendecker.«

»Doktor, halten Sie es für möglich, dass irgendwer, auch der Angeklagte Joseph Miles, einen unwiderstehlichen Drang dazu verspüren kann, andere Menschen zu vergewaltigen, zu ermorden und zu verspeisen?«

Dr. Sabine, ein Inder, unter dessen buschigen Augenbrauen stechende Augen und ein freudloser Gesichtsausdruck lagen, als wäre er aus Stein gemeißelt, räusperte sich und trank einen Schluck Wasser, bevor er in kurzen, abgehackten Sätzen antwortete. Er bemühte sich dabei, seinen Akzent zu unterdrücken. »Es ist definitiv möglich, ja.«

»Würden Sie sagen, das war auch bei dem Angeklagten, Joseph Miles, der Fall?«

»Einspruch!«, fiel ihm der Staatsanwalt ins Wort.

Joes Anwalt nickte zustimmend, bevor die Richterin dem Einspruch überhaupt stattgeben konnte.

Joe hatte keine Ahnung, was von dem Gesagten unangebracht gewesen war, aber alle anderen schienen zu begreifen und zu akzeptieren, dass der Anwalt bei der Befragung des Psychologen irgendeine Grenze überschritten hatte.

Mr. Leyendecker versuchte es erneut. »Gibt es einen erkennbaren Unterschied zwischen einer Neurose und einer Psychose?«

»Diese Begriffe werden benutzt, um zwischen den Graden mentaler Erkrankungen zu unterscheiden. Was sie unterscheidet, ist die Fähigkeit einer Person, die Realität als Wahrheit zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren.«

»Und würden Sie sagen, dass jemand, der davon überzeugt ist, sich in einen Werwolf zu verwandeln, eine angemessene Reaktion auf die Realität zeigt?«

»Einspruch!«

»Ich ziehe die Frage zurück. Was genau unterscheidet diese beiden Begriffe, Doktor?«

»Manchmal ist es schwierig, eine klare Unterscheidung zu erkennen. Es handelt sich dabei nicht um Schwarz und Weiß. Es existiert eine Grauzone. Eine psychotische Person nimmt die Realität nicht so wahr, wie wir das tun. Eine schwache Psychose kann fälschlicherweise als Neurose interpretiert werden. Ebenso kann eine ausgeprägte Neurose als Psychose fehlinterpretiert werden. Im Großen und Ganzen können wir sie aber unterscheiden, auch wenn die Grenzen verschwommen sind und sich überschneiden. Grob ausgedrückt, nimmt eine psychotische Person die Welt falsch wahr, wohingegen eine neurotische Person sie korrekt wahrnimmt, aber sie reagiert falsch, nämlich übertrieben.«

»Ist der Angeklagte, Joseph Miles, neurotisch?«

»Ja, meiner professionellen Meinung nach ist er das.«

»In Ihrer zuvor getroffenen Aussage haben Sie gesagt, der Angeklagte tendiere zu paranoiden Wahnvorstellungen. Könnte das darauf hindeuten, dass Joseph Miles an einer Psychose leidet?«

»Einspruch!«, rief der Staatsanwalt. Er starrte Joseph nach wie vor an und beobachtete die Verhandlung lediglich aus dem Augenwinkel. Die Richterin sah er nur an, wenn er Einspruch erhob, wonach sein Blick wieder einzig und allein auf Joe lag. Ihn schienen Joes Reaktionen auf die Aussage des Psychologen mehr zu interessieren als die Aussage selbst.

Joe fühlte sich auf seinem Stuhl nicht wohl. Er war für seinen massigen Körper zu klein, und der volle Gerichtssaal lenkte ihn ab. Der Duft von Haut, Schweiß, Parfüm, Aftershave, menstrualem Blut, Seife, Shampoo, Samen und Angst – köstliche, betörende Angst – bildete einen erregenden Dunst, der seinen Geruchssinn in Flammen setzte und seine Speicheldrüsen wie auch seine Libido auf Hochtouren arbeiten ließ. Joe musste immer wieder schlucken, um nicht vor sich auf den Tisch zu sabbern.

Joe nahm noch einen Geruch wahr, den er nur zu gut kannte. Es war der Duft weiblicher Erregung. Es war der Geruch vaginaler Sekrete, die das weibliche Geschlechtsorgan benetzten und auf das Eindringen eines harten Schwanzes vorbereiteten. Ein paar der Frauen im Zuschauerraum wurden durch das alles hier geil.

Das Verlangen, sich den Zuschauerrängen zuzuwenden, in der Menge nach der Quelle jedes einzelnen Geruchs zu jagen, jeden einzelnen köstlich menschlichen Geruch bis zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen und ihn zu schmecken, zu verschlingen und ihn zu einem Teil von sich selbst zu machen, war überwältigend. Joe rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Er schloss die Augen, atmete tief ein. Aber kaum dass sich seine Lider senkten und ihn die Dunkelheit umfing, bahnten sich sinnliche Bilder von Gewalt und Wut ihren Weg durch die beruhigende Schwärze. Das Monster erwachte mit einem Brüllen, drängte nachdrücklich gegen die Knöpfe seines Overalls, verlangte seine Freilassung.

Mit einem Zittern unbefriedigten Verlangens kämpfte Joe darum, seine Wut wieder unter Kontrolle zu bringen. Mit großer Mühe gelang es ihm, doch diese Anstrengung war ihm als deutliches Leid anzusehen. Joe sah zum Bezirksstaatsanwalt zurück, der ihn mit konzentriert gerunzelter Stirn anstarrte. Joe bekam den Eindruck, dass der Mann versuchte, seine Gedanken zu lesen. Er sah wieder zu seinem halbwegs begabten Anwalt, der sich redlich bemühte.

Die Richterin hatte dem Einspruch des Bezirksstaatsanwalts nicht stattgegeben und Mr. Leyendecker setzte seine Befragung von Dr. Sabine fort.

»Würden Sie bitte die Frage beantworten, Dr. Sabine? Könnten die symptomalen Angstzustände, die Sie dem Gericht erklärt haben, die paranoiden Wahnvorstellungen, die Mr. Joseph Miles gezeigt hat, zu abweichendem und abnormalem Verhalten führen?«

»Nein, ich fürchte, das kann ich nicht beantworten. Ich verstehe nicht ganz, was Sie mit ›abweichend und abnormal‹ meinen.«

»Andere Menschen zu essen, ist doch abweichend und abnormal, oder sehen Sie das anders?«

»Einspruch!«

»Stattgegeben.«

»Ist es im Falle des Angeklagten möglich, dass seine normale Impulskontrolle aufgrund der paranoiden Wahnvorstellungen niedriger war und er darum außerstande war, den unwiderstehlichen Impuls für Kannibalismus und Sadismus zu kontrollieren?«

»Einspruch!«

»Einspruch stattgegeben.«

»Dr. Sabine, würden Sie eine Psychoneurose als mentalen Defekt bezeichnen?«

»Ich würde es als mentale Störung bezeichnen.«

»Nicht als Defekt?«

»Defekt ist kein psychologischer Begriff.«

»Also ist es ein Störung?«

»Ja.«

»Gab es bei Ihrer Untersuchung des Angeklagten Joseph Miles Anzeichen für eine solche Störung?«

»Ja.«

»Würden Sie sagen, die kannibalischen Neigungen des Angeklagten sind eine mentale Störung?«

»Einspruch«, sagte der Staatsanwalt erschöpft. Dieses Mal nahm er nicht einmal den Blick von Joseph Miles.

»Stattgegeben.«

»Wenn die Beweise die Annahme des Herrn Staatsanwalt rechtfertigen würden, dass der Angeklagte das Fleisch der Verstorbenen über einen Zeitraum von drei bis vier Tagen vivisektiert und verzehrt hat und während dieses Zeitraums davon überzeugt war, unter dem Einfluss einer ansteckenden Krankheit zu leiden, die seinen Aussagen zufolge Menschen in Monster verwandelt – wie Lykanthropie oder Vampirismus … Wenn man beweisen könnte, dass der Angeklagte während der Folterung und Verstümmelung der verstorbenen Alicia Rosado nicht nur keinerlei Reue gezeigt hat, sondern dass es ihm sexuelle Freude bereitet hat, die mit einem Orgasmus vergleichbar ist … Würde ein solches Verhaltensmuster darauf hindeuten, dass er wahnsinnig ist?«

»Einspruch!«

»Dem Einspruch wird stattgegeben.«

»Glauben Sie, dass der Angeklagte jetzt oder zum Zeitpunkt seiner Verbrechen im Dezember 2008 an irgendeiner Form von mentaler Erkrankung leidet oder gelitten hat?«

»Ja, ich würde sagen, es war eine neurotische Wahnvorstellung.«

»Keine psychotische Wahnvorstellung?«

»Einspruch! Danach wurde bereits gefragt und es wurde beantwortet.«

»Stattgegeben«, antwortete die Richterin mit einem herablassenden Winken. Die Aussage schien sie zu...