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Mein Wildgarten

Meir Shalev

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257607888 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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20,99 EUR


 

{12}Ein neues Zuhause


Inmitten des Gartens steht das Haus, in dem ich wohne. Ich erinnere mich gut an den Tag, als ich es zum ersten Mal sah. Auf der Suche nach einem Eigenheim außerhalb der Stadt reiste ich damals zwischen Moschawot und Moschawim umher, guckte, klopf‌te an Türen, fragte Lebensmittelhändler und traf Bauernverbandssekretäre, sprach mit Vätern und Müttern und tuschelte mit Söhnen und Töchtern. Ich sah so einige Häuser, die in Frage kamen, aber dieses liebte ich auf den ersten Blick: ein einfaches, kleines Haus von der Sorte, wie man sie früher für Neueinwanderer baute. Ein sieches Rasenstückchen davor, Dornen und dürre Gräser ringsum und ein paar Zier- und Obstbäume, teils halb verdurstet.

Das Haus stand an einem Hang, der von der Straße nach hinten abfiel. Ich ging hinunter und um das Haus herum – und siehe da, eine Überraschung: weites Land bis zum westlichen Horizont. Im Vordergrund zwei bebaute Felder mit einigen schlanken Zypressen am Rand, dahinter zwei bewaldete Höhenzüge, impressionistisch dicht gesprenkelt mit allerlei Grünschattierungen: das Hellgrün der Tabor-Eiche, das Dunkelgrün der Kermes-Eiche, hier und da das glitzernde Grün eines Johannisbrotbaums und dazu das Grün der Terebinthen – das leicht verblichene der {13}Palästina-Terebinthe und das kräftigere der Mastix-Terebinthe. Und hinter alledem, im Sommerglast des Emek, der vertraute, bläuliche Höhenzug von einem Ende des Horizonts zum anderen – der Karmel. Von welchem Emek, welchem Tal, hier die Rede ist? Ich möchte niemanden vor den Kopf stoßen, aber wer »das Emek«, mit bestimmtem Artikel, sagt, meint stets das Emek Israel, die Jesreelebene.

Ich drehte mich um und betrachtete das Haus nun auch aus dieser Perspektive. Wegen seiner Hanglage ruhte es hinten auf schlanken Betonpfeilern, die einen Zwischenraum zwischen Haus und Erdboden schufen. Jemand hatte dort einen Hühnerkäfig aus Draht aufgestellt. Ich lugte hinein und sah vier kleine, gefiederte Kadaver, so trocken wie der Blechtrog daneben. Als dieser Jemand weggezogen war, hatte er die Hühner im Käfig einfach verhungern und verdursten lassen. Doch das Haus erfüllte mich mit der Freude aufkeimender Liebe, und nicht einmal diese Bosheit tat ihr Abbruch.

Ich musterte die Bäume und Sträucher ringsum: ein alter Birnbaum, ein siecher Zitronenbaum, ein schattenspendender Pekannussbaum, ein Paternosterbaum und eine Jakaranda, zwei Eichen und drei Terebinthen. Auch ein zäher, hoher Feigenkaktus wuchs dort sowie eine saftige Hanfpflanze, deren frisches Grün von der braunen und gelben Umgebung abstach. Ich fragte mich: Wer pflegt und gießt sie so hingebungsvoll? Vor dem Haus standen zwei Feigenbäume, die bereits Früchte angesetzt hatten, aber im Näherkommen sah ich die unheilverkündenden Häuf‌lein frischen Sägemehls am Boden. Bei eingehenderer Untersuchung der Stämme entdeckte ich auch die Öffnungen der Gänge, die {14}die Larven der Bockkäferart Batocera rufomaculata gegraben hatten, Anzeichen für den lauernden Tod in ihrem Mark, der die Feigenbäume dereinst zu Boden zwingen würde.

Der ganze Garten würde sichtlich viel Planung und Arbeit erfordern. Doch ich hatte, bei aller Liebe zur Natur, sehr wenig Erfahrung im Gärtnern – eigentlich nur die Erfahrung des Beobachters: bei meinem Großvater in Nahalal und bei meiner Mutter, seiner Tochter, in Jerusalem.

 

Mein Großvater war ein passionierter Gärtner und hatte auf seinem Land Reben, Obstbäume und einen Zitrushain gepflanzt. Ich beobachtete ihn gern, wenn er seine Weinstöcke ausdünnte und beschnitt. Seine Gesten faszinierten mich. Ich war ein kleiner Junge und konnte es nicht in Worte fassen, spürte jedoch, dass die Handgriffe eines guten Handwerkers die schönsten Bewegungen des menschlichen Körpers sind. Noch heute sehe ich einem Schreiner, Schlosser, Hufschmied, Steinmetz oder Bäcker gern bei der Arbeit zu – viel lieber als Sportlern oder Balletttänzern.

Mein Großvater war in einer chassidischen Familie in der Ukraine aufgewachsen und tauschte, kaum mündig geworden, seine Religion vom Dienst an Gott gegen den Dienst an der Erde ein. Aber er vergaß nicht, was er gelernt hatte: Auf seinem Hof pflanzte er, neben seinem Weingarten, als Erstes einen Oliven-, einen Granatapfel- und einen Feigenbaum. Nicht zufällig zählen diese Obstbäume zu den »sieben Arten«, mit denen laut der Bibel das Land Israel gesegnet ist. Beim Wohnhaus pflanzte er einen Orangen- und einen Grapefruitbaum, zwei weitere {15}Granatapfelbäume und einen unglaublichen Baum, der Orangen, Zitronen, Klementinen und noch eine Zitrusfrucht trug, ich weiß nicht mehr, welche – vielleicht Grapefruits, oder auch, glaubt man meiner fabulierfreudigen Familie, Avocados oder Tomaten. So oder so versetzte mich dieser Baum in Staunen und Aufregung, und mehr noch die Antwort meiner Mutter auf meine Frage, wie ihr Vater ihn zuwege gebracht habe: »Er ist ein Zauberer«, sagte sie. Jahre später erfuhr ich, dass es sich um ganz gewöhnliches Aufpfropfen auf einen Wildorangenstamm handelte, aber ihre Antwort hatte schon bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.

Sie selbst hatte einen kleinen Garten in Jerusalem, wo wir im Viertel Kiriat Mosche wohnten. Als wir dort hinzogen, war ich vier Jahre alt. Die Wohnsiedlung war gerade erst fertig geworden und glich immer noch einer Baustelle. Bäume und Blumen wuchsen noch keine dort, aber vor unserem Wohnblock gab es einen Streifen Land, der in kleine Parzellen unterteilt und für Gärten gedacht war, und nach hinten lag karstiger Boden. Meine Mutter ging, ganz im Geist der Frühzionisten, sogleich daran, die Sümpfe trockenzulegen und die Wüste zum Blühen zu bringen: Im Vorgarten pflanzte sie Dahlien, Chrysanthemen, Freesien, hübsche kleine Sträucher, die »Sommerzypressen« genannt wurden – eine damals häufige und beliebte Zierpflanze, die man heute kaum noch sieht –, und dazu Dreimasterblumen, die ihrem hebräischen Namen »wandernder Jude« alle Ehre machten, da sie sich schnell ausbreiteten und die steinerne Einfriedung zum Bürgersteig überwuchsen.

Tröpfchenbewässerung kannte man damals noch nicht. Meine Mutter grub Bewässerungspfannen und Furchen {16}und goss ihren Garten mit Schlauch und Gießkanne. Damals herrschte ein Brauch, der mit dieser Bewässerungsweise verschwunden ist: Passanten traten heran, um Wasser aus dem Schlauch zu trinken. Manche führten das Ende an den Mund, andere hielten die hohle Hand darunter und tranken daraus. Erstere »trinken wie Städter«, befand meine Mutter mit der Geringschätzung einer Frau aus dem Moschaw, und Letztere »können richtig trinken«. Jedes Kind der Wohnsiedlung hatte damals am Schlüsselring auch einen Vierkantschlüssel in der Hosentasche, um Gartenhähne zu öffnen und zu schließen. So – aus der hohlen Hand – stillten wir unseren Durst mittags auf dem Heimweg von der Schule. Manche Gartenbesitzer empfingen uns freundlich, andere jagten uns mit Schreien und Drohungen fort.

Hinterm Haus legte meine Mutter noch einen kleinen Garten an, ganz anders als der vordere. Es gab dort eigentlich nur ein paar Quadratmeter felsigen Boden, aber sie war an Schwerarbeit gewöhnt, wollte und konnte säen und setzen. Sie karrte Schubkarre um Schubkarre Erde vom nahen Acker herbei – heute stehen da ein paar Wohnhäuser und die Jeschiwa »Merkas HaRav« – und reicherte sie mit Mist von den Kühen an, die damals in kleinen Ställen in Givat Schaul wohnten und hinter unserem Haus weideten. Sie pflanzte einen Pflaumen- und einen Granatapfelbaum, und in die Felsritzen steckte sie Knollen und Samen von Alpenveilchen. Unser Nachbar, der Lehrer und Naturforscher Amotz Cohen, pflanzte Reben auf dem Nebengrundstück, friedete es mit einer Kaktushecke ein, und langsam nahmen die beiden Gärten Gestalt an.

 

{17}Ich betrachtete erneut das Haus, das ich gefunden hatte, und das Grundstück ringsum und bedauerte, dass meine Mutter, mein Großvater und mein Nachbar mir nicht mehr mit Rat und Tat zur Seite stehen konnten. Aber wenige Tage nach dem Hauskauf schaute einer der Alten des Ortes vorbei, und er wurde mir in der Folge zur unschätzbaren Stütze. Er hieß Josef Se’ira und stammte, wie die meisten Gründer des Dorfes, aus Rumänien. Darauf verwies auch sein Kosename: »Pui« – Küken auf Rumänisch.

Ein paar Jahre später starb Pui. Ich habe ihn in bester Erinnerung und vermisse ihn. Er war ein gebildeter und amüsanter Mann, ein sentimentaler Zyniker, begnadeter Kunstmaler und Experte für Obstbäume. Bei unseren Treffen lehrte er mich einiges über die Geschichte »Groß-Rumäniens«, wie er seine geliebte Heimat nannte, trank dabei Ţuică und spielte phantastisch Backgammon.

Bei seinem ersten Besuch hatte er eine Säge dabei und riet mir, alle toten Zweige des Zitronenbaums zu entfernen: »Alles ab! Keine Angst! Wächst wieder nach. Wenn wir uns doch bloß auch alles Abgestorbene von der Seele und vom Leib schaffen könnten!« Ich tat wie geheißen und grub für den Zitronenbaum auch eine große Bewässerungspfanne – »Ihr Durchmesser muss so groß sein wie derjenige der Baumkrone.«

»So groß?«, fragte ich.

»Ich muss mich über dich wundern, du stammst doch aus einer Bauernfamilie«, sagte er. »Haben sie dir nicht erzählt, dass in der Erde noch ein Baum wächst? Seine Zweige sind die Wurzeln, und er wächst umgekehrt!«

So beschnitt und bewässerte ich den Zitronenbaum, und {18}er erholte sich – richtete seine welken Blätter wieder auf, ließ neue sprießen, bekam Blüten und vergalt mir Gutes mit Gutem: mit einer Fülle...