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Das kalte Blut

Chris Kraus

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608007 , 1200 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

14,99 EUR


 

{11}I Der rote Apfel


{13}1


Manchmal legt er mir die Hände auf die Schultern und sieht mir traurig ins Gesicht. Er sagt mir in den einfachsten Worten, wie leid ihm das tue, was geschehen sei und was vermutlich noch geschehe.

Er weiß aber gar nicht, was geschehen ist.

Noch weniger weiß er, was geschehen wird.

Er ist ein richtiger Hippie, vielleicht Anfang dreißig, mit langen, blonden Locken, wenn er rechts von einem liegt. Wenn er aber links an meinem Bett vorüberschlurft (um aus dem Fenster schräg nach unten zu den Babys zu starren), dann sehe ich jedes Mal mit neuer Verwunderung, dass ihm über dem Ohr ein kreisrundes, perlmuttfarbenes Loch in die Botticelli-Frisur rasiert worden ist, groß wie eine Untertasse. Mittendrin blinkt eine Titanschraube, deren Gewinde irgendwo unter der Hirnschale endet und dafür sorgt, dass der Schädel nicht auseinanderbricht.

Der Hippie hat also eigene Sorgen.

Er liegt – schon seit Wochen – neben mir, mehr Orient als Okzident, liegt da ohne Ungeduld, ein verschlissener Teppich mit Spuren von indischem Einfluss.

Eins-Sein mit dem Universum, sagt er.

Eins-Sein mit dir selbst.

Das ist sein Mantra.

 

{14}Wenn der Hippie tatsächlich hin und wieder aus dem Eins-Sein geschleudert wird, dann durch die Babys, die ein Stockwerk tiefer dösen.

Und natürlich darf man die Anfälle nicht vergessen.

Manchmal, bei den kleinsten Anzeichen einer Eruption, fahren die Pfleger ihn hinaus. Und wenn sie ihn zurückschieben, ist er stundenlang bewusstlos. Sie stülpen dann einen Schlauch über seine Schraube, die eigentlich eine Art Überdruckventil ist. Eines dieser piepsenden Geräte springt an. Und damit sein Kopf keinen Schaden nimmt, wird überschüssige Flüssigkeit aus seiner Hirnschale durch den Schlauch in einen Plastikbecher gepumpt.

Der Plastikbecher gehört der Nachtschwester. Sie heißt Gerda. Ihr Becher hat einen Henkel und schwarze Mickymausköpfe auf rotem Grund. Wenn der Becher bis zur dritten Mickymaus voll ist, schleicht sich Nachtschwester Gerda zu uns herein, schüttet das Zeug vorsichtig, ohne dass ein Tropfen danebengeht, in eine große Thermoskanne. Auch die anderen vier oder fünf Schädelfrakturen der Station werden von ihr angezapft. Sie schaut in die Plastikbecher und ist glücklich.

Nur ihr Mund ist dann nicht schön.

Später schmuggelt sie die Thermoskanne aus dem Hospital. Mit dem Sud werden Nachtschwester Gerdas häusliche Pflanzen gemästet. Muss unheimlich fruchtbar sein. Im Schwesternzimmer hängen Fotos an der Pinnwand von ihrem Wintergarten. Da ist ein Dschungel zu sehen aus Zier- und Nutzgewächsen, man kann nur den Hut ziehen, und zwischendrin Lianen und Vergissmeinnicht. Alles grün und riesig. Eine barocke Pracht, so wie auch {15}Nachtschwester Gerda selbst eine barocke Pracht ist, ins Weite, Überbordende drängend, und auch ihr Temperament.

 

So ist es kein Wunder, dass Nachtschwester Gerda dem Hippie einmal eine selbstgezogene, tennisballgelbe Tomate geschenkt hat, die sie mit seiner Hirnflüssigkeit aufgepäppelt hatte. Er aß sie mit Behagen und Stolz und wollte mir, wie es seine Art ist, auch was davon abgeben.

Er ist bestimmt ein wundervoller Mensch, so wie man sich Hippies eben vorstellt. Fast jeden, sogar mich, duzt er. Es ist ihm völlig egal, dass nicht zurückgeduzt wird. Eine Anrede im herkömmlichen Sinne gebraucht er nicht, weder »Herr« noch »Frau« noch sonst was. Im äußersten Fall wird man »Compañero« genannt. Zum Chefarzt sagt er »Chefcompañero«. Formen sind nichts. Auch zu Namen hat er ein völlig anderes Verhältnis als du oder ich. Er glaubt, man solle eher nach jeweils in den Vordergrund tretenden Charaktereigenschaften heißen, so wie in Papua-Neuguinea, wo man im Laufe eines Lebens drei, vier oder sogar noch mehr Namen annimmt, die sich zum Teil widersprechen. Sagt der Hippie. Er hat dort längere Zeit gelebt. Und in Australien war er auch, hat nach Diamanten geschürft. Später wechselte er seine Tätigkeiten, arbeitete in einem Kindergarten und auf dem Flughafen Riem. Da hat er letztes Jahr das Gepäck der Rolling Stones ausgeraubt und besitzt noch immer ein paar ihrer Manschettenknöpfe.

Ich wusste natürlich nicht, was die Rolling Stones sind.

Jetzt weiß ich es aber, denn er hat mir eines ihrer Lieder vorgesungen. Man hätte ihn damals sofort genommen, du weißt schon, als sie für St. Petri Stimmen suchten, weil {16}der halbe Chor von den Bolschewiken erschossen worden war (vor allem natürlich die Bässe).

Er kann sich nicht vorstellen, dass er mit einem Menschen das Zimmer teilt, der im Zarenreich geboren wurde. Ich selbst kann es mir kaum vorstellen.

 

Als ich vor einiger Zeit aus der Intensivstation hierher verlegt wurde, hat mich der Hippie gebeten, ihm nach meinem ersten Eindruck einen Namen zu geben. Ich erinnerte mich an einen Besuch im Prado. Dort kopierte ich einmal Francisco Goyas Porträt der degenerierten spanischen Königsfamilie, die auch blond und rachitisch gewesen war. Das sagte ich ihm.

»Bourbonen« hält er für mehrere Gläser Whisky.

Er heißt Mörle. Sebastian Mörle. Ich soll Basti zu ihm sagen, wenn mir nichts Charakteristisches an ihm auf‌fällt.

Ich bin Konstantin Solm. Sagte ich. Und schon einen Tag später fügte ich hinzu (durchaus gleichgültig, ein Rauchring meiner Friedenspfeife), dass mich viele Koja nennen.

Der Hippie erwiderte, für ihn sei ich nicht Koja. Und Konstantin Solm habe nicht das Geringste mit mir zu tun.

Rostige Nägel.

Kälte.

Abstand.

Das sei ich.

Aber auch ein wunderbarer Mensch.

Er bringt einen wirklich zum Lachen mit solchen Sätzen. Zehnmal am Tag wispert seine im Chiemgau gebeizte Stimme, was ich für ein wunderbarer Mensch sei, obwohl er mich »fei fein« findet und an meiner Ausdrucksweise {17}Anstoß nimmt. Sie ist ihm zu baltisch, glaube ich, zu wenig vulgär, und sie passt eher in ein Einzelzimmer, in dem ich jedoch naturgemäß schweigen würde. Vielleicht haben sie mich deshalb in einem Zweibettzimmer untergebracht. Um meine Zunge zu lockern. Kann schon sein.

 

Ich rede aber nicht. Fast immer ergießt sich der Hippie. Mein Alter schreckt ihn nicht davor ab, das leider meist schlichte Wort an mich zu richten. Ich bin das Ohr seiner ganz wenigen Sorgen. Das Krankenzimmer nennt er voll häuslicher Zuneigung »unser Fleckerl«. Er dankt überschwenglich dem Universum für jede kalte Milchsuppe, die man ihm einflößt nach seinen Anfällen. Und er hat keinerlei Vorbehalte, dass ich im Krieg war. Nie fragt er, was ich dort getan habe. In allen Kreaturen sieht er Anzeichen des kommenden Weltfriedens, auch in mir. Seit er weiß, dass ich einmal mit David Ben-Gurion Sekt getrunken habe (noch dazu aus seinem Glas nippte), teilt er meinen Standpunkt zur Israelfrage im Allgemeinen und zu Golda Meir im Besonderen, jedenfalls zu ihrem Vornamen, der wirklich bezaubernd ist. Da sind wir uns einig.

Allerdings bedauert er meine Haltung zu Marihuana (ein noch schönerer Vorname für diese so betäubende Ministerpräsidentin, finde ich).

Ohne Drogen fühlt der Hippie sich unvollständig.

Er hat daher Nachtschwester Gerda einen kunstvoll arrangierten Tipp gegeben, wo sie Cannabispflänzchen herbekommt. Und sie haben sich verständigt.

Manchmal bringt sie Fotos der Setzlinge mit, Fotos, die sie natürlich nicht ins Schwesternzimmer hängen kann. {18}Und manchmal bringt sie nicht nur die Fotos mit, sondern das ganze mit einem Affenzahn gedeihende Grünzeug. Der Hippie bietet mir dann die harzhaltigen, vielblättrigen, in Schwabinger Vorortblumenkästen und von seinen zerebrospinalen Ausflüssen gedüngte Botanik an, die ich natürlich ablehne, wie auch sämtliche Extrakte.

»Du kennst Hasch?«

»Ich kenne Hasch.«

»Du kennst Hasch, Compañero?«

Ich antworte nie auf Fragen, die wiederholt werden, und so sagt der Hippie nach einer Weile: »Dass jemand wie du Hasch kennt!«

»Wieso?«

»Das ist, als würde ich Kaiser Wilhelm kennen.«

 

Vor ein paar Tagen hat der Hippie mit Nachtschwester Gerda nahezu feierlich ein paar der Blätter gekaut. Es war zwei Uhr morgens. Ihr schwerer Leib schaukelte auf seinem Bett hin und her, an der Schulter des bourbonenhaften Hippies schwankend, und ich konnte wegen des Gequietsches kaum einschlafen.

Dennoch muss ich sagen: Man hätte es schlimmer treffen können. Viel schlimmer. Mit einem dieser Wahnsinnigen etwa, die Frankfurter Kaufhäuser in Brand setzen und gegen Vietnam protestieren und einfach gegen alles sind. Mein zotteliger Bettnachbar ist gegen gar nichts. Weil das Gegen-alles-Sein das Eins-Sein beeinträchtigt. Er glaubt an das Gute. Nicht an das Beste, wie das die Ideologen tun. Sondern an das Gute. Wie Mahatma Gandhi.

Sein Interesse an meinem Guten ist unverstellt, das {19}erkennt man an vielen Details. Wenn ich zum Beispiel Besuch habe (er hat fast nie Besuch), hört er mit großen Augen zu, was gesprochen wird, rückt sogar haustierhaft näher, als wäre er, weil er zufällig neben mir liegt, ein Teil meiner Geschichte. Ich glaube, es ist gute Hippietradition, sich die Schicksale anzueignen, an deren Strand sie gespült werden.

Der Hippie kann einfach nicht glauben, was er hört.

Sobald der Besuch fort ist, fordert er mich auf, ihm alles zu erklären, die Augen von spontaner Emotion gefüllt, von einem weiten und tiefen Gefühl. Er glaubt, seine Anteilnahme lohne das Projektil, das ich in mir trage. Unter meiner Schädeldecke, eingeklemmt in meiner...