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Blutzeuge - Thriller

Tess Gerritsen

 

Verlag Limes, 2017

ISBN 9783641211578 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2

Auch Monster sind sterblich.

Die Frau, die auf der anderen Seite der Scheibe im Bett lag, mochte genauso menschlich aussehen wie all die anderen Patienten auf dieser Intensivstation, aber Dr. Maura Isles wusste nur zu gut, dass Amalthea Lank in der Tat ein Monster war. Dort, nur durch eine Glasscheibe von ihr getrennt, war die Kreatur, die Maura in ihren Albträumen verfolgte, die einen Schatten über Mauras Vergangenheit warf und deren Gesicht Mauras Zukunft vorhersagte.

Da liegt meine Mutter.

»Wir hatten gehört, dass Mrs. Lank eine Tochter hat, aber uns war nicht bewusst, dass Sie hier in Boston ganz in der Nähe wohnen«, sagte Dr. Wang.

Hörte sie da einen Anflug von Kritik in seiner Stimme? Warf er ihr etwa vor, dass sie ihre Tochterpflichten vernachlässigt und es versäumt hatte, ihre im Sterben liegende Mutter zu besuchen?

»Sie ist meine biologische Mutter«, sagte Maura, »aber ich war noch ein Säugling, als sie mich zur Adoption freigab. Ich habe erst vor ein paar Jahren von ihrer Existenz erfahren.«

»Aber Sie sind ihr schon einmal begegnet?«

»Ja, aber ich habe nicht mehr mit ihr gesprochen, seit …« Maura hielt inne. Seit ich mir geschworen habe, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun haben will. »Ich wusste nicht, dass sie auf der Intensivstation liegt, bis die Schwester mich heute Nachmittag anrief.«

»Sie wurde vor zwei Tagen hier eingeliefert, nachdem sie Fieber bekommen hatte und ihre Leukozyten in den Keller gingen.«

»Wie niedrig sind sie?«

»Ihre Neutrophilen – das ist ein spezieller Typ von weißen Blutkörperchen – liegen gerade mal bei fünfhundert. Es sollten drei Mal so viele sein.«

»Ich nehme an, Sie haben eine empirische Antibiotikatherapie eingeleitet?« Sie sah das verblüffte Blinzeln ihres Gegenübers und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie, Dr. Wang. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich Ärztin bin. Ich arbeite am rechtsmedizinischen Institut.«

»Oh, das wusste ich nicht.« Er räusperte sich und wechselte sofort zu dem technischen Jargon, der ihnen beiden als Mediziner vertraut war. »Ja, wir haben mit den Antibiotika begonnen, gleich nachdem wir Blutkulturen angelegt hatten. Ungefähr fünf Prozent der Patienten mit ihrem Chemotherapieschema entwickeln eine fiebrige Neutropenie.«

»Welche Chemo bekommt sie?«

»Folfirinox. Das ist eine Kombination von vier Medikamenten, darunter Fluoruracil und Leukovorin. Laut einer französischen Studie verlängert Folfirinox eindeutig die Lebenserwartung bei Patienten mit metastasierendem Pankreaskarzinom, aber wegen des Risikos von Fieberschüben müssen sie engmaschig überwacht werden. Zum Glück hatte die Gefängniskrankenschwester alles im Griff.« Er hielt inne und schien zu überlegen, wie er die heikle Frage formulieren sollte. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie das frage …«

»Ja?«

Er wandte den Blick ab, offenbar war es ihm unangenehm, dieses Thema anzuschneiden. Es war viel einfacher, über Blutwerte, Antibiotikatherapien und wissenschaftliche Daten zu sprechen, denn Fakten waren weder gut noch böse; da gab es nichts zu bewerten oder zu verurteilen. »In Mrs. Lanks Krankenakte aus Framingham steht nicht, weshalb sie inhaftiert ist. Man hat uns lediglich darüber informiert, dass sie eine lebenslange Haftstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verbüßt. Der Aufseher, der mit ihrer Bewachung betraut war, hat darauf bestanden, dass seine Gefangene stets mit Handschellen ans Bettgestell gefesselt sein muss, was mir ziemlich barbarisch erscheint.«

»Das ist nun mal Vorschrift, wenn Gefangene ins Krankenhaus eingeliefert werden.«

»Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium, und jeder kann sehen, wie gebrechlich sie ist. Sie wird ganz bestimmt nicht aufspringen und davonlaufen. Aber der Aufseher sagte uns, sie sei wesentlich gefährlicher, als sie aussieht.«

»Das ist sie«, bestätigte Maura.

»Weswegen wurde sie verurteilt?«

»Mord. In mehreren Fällen.«

Er starrte Amalthea durch das Sichtfenster an. »Diese Dame?«

»Jetzt wissen Sie, wozu die Handschellen nötig sind. Und warum vor ihrem Zimmer eine Wache postiert ist.« Mauras Blick ging zu dem uniformierten Beamten, der neben der Tür saß und ihr Gespräch aufmerksam verfolgte.

»Es tut mir leid«, sagte Dr. Wang. »Es muss sehr schwierig für Sie sein zu wissen, dass Ihre Mutter …«

»Eine Mörderin ist? Oh ja.« Und Sie wissen noch nicht einmal das Schlimmste. Sie kennen den Rest meiner Familie nicht.

Durch die Scheibe beobachtete Maura, wie Amalthea langsam die Augen aufschlug. Ein knochiger Finger, dürr wie eine Teufelsklaue, winkte sie herbei, eine Geste, bei der es Maura eiskalt überlief. Ich sollte mich umdrehen und gehen, dachte sie. Amalthea hatte weder Mitleid noch Zuwendung verdient. Aber Maura konnte nicht leugnen, dass es eine Verbindung zwischen ihr und dieser Frau gab, eine Verbindung, die bis in ihre Moleküle hineinreichte. Amalthea Lank war ihre Mutter, wenn auch nur in genetischer Hinsicht.

Der Wachmann behielt Maura genau im Auge, als sie Schutzkittel und Maske anlegte. Dies würde kein privater Besuch werden – der Aufseher würde jeden Blick registrieren, den sie tauschten, jede Geste; und die unvermeidlichen Gerüchte würden mit Sicherheit im Krankenhaus die Runde machen. Dr. Maura Isles, die Rechtsmedizinerin aus Boston, deren Skalpell zahllose Leichen aufgeschnitten hatte und die regelmäßig dort auftauchte, wo der Sensenmann Ernte gehalten hatte – diese Dr. Isles war die Tochter einer Serienmörderin. Der Tod war ihr Familiengeschäft.

Mit Augen so schwarz wie Obsidian blickte Amalthea zu Maura auf. Ein leises Zischen kam von ihrer Sauerstoffnasenbrille, und der Monitor über dem Bett zeichnete piepsend ihren Herzrhythmus auf. Der Beweis, dass selbst eine eiskalte Killerin wie Amalthea ein Herz hatte.

»Du kommst mich doch noch besuchen«, flüsterte Amalthea. »Nachdem du geschworen hast, dass du das niemals tun würdest.«

»Man hat mir gesagt, du seist schwer krank. Es ist vielleicht unsere letzte Gelegenheit für eine Aussprache, und ich wollte dich sehen, solange es noch möglich ist.«

»Weil du etwas von mir brauchst?«

Maura schüttelte ungläubig den Kopf. »Was sollte ich von dir brauchen?«

»Das ist nun einmal der Lauf der Welt. Jedes vernünftige Wesen sucht seinen Vorteil. Alles, was wir tun, tun wir aus Eigennutz.«

»Das gilt vielleicht für dich. Aber nicht für mich.«

»Warum bist du dann gekommen?«

»Weil du im Sterben liegst. Weil du mir immer wieder geschrieben und mich gebeten hast, dich zu besuchen. Weil ich mir einbilde, dass ich nicht ganz ohne Mitgefühl bin.«

»Im Gegensatz zu mir.«

»Was glaubst du, warum du mit Handschellen an dieses Bett gefesselt bist?«

Amalthea verzog das Gesicht, schloss die Augen und presste die Lippen zusammen, als ein jäher Schmerz sie durchzuckte. »Ich nehme an, dass ich das verdient habe«, murmelte sie. Schweiß glänzte auf ihrer Oberlippe, und einen Moment lang lag sie vollkommen reglos da, als ob jede Bewegung, jeder Atemzug eine unerträgliche Qual bedeutete. Als Maura sie das letzte Mal gesehen hatte, war Amaltheas schwarzes Haar dicht und von zahlreichen silbergrauen Strähnen durchsetzt gewesen. Jetzt verloren sich nur noch einige wenige Büschel auf ihrem Schädel, die letzten Überlebenden eines brutalen Chemotherapiezyklus. Das Fleisch an ihren Schläfen hatte sich zurückgebildet, und die Haut hing wie ein zusammengefallenes Zelt über den spitzen Knochen ihres Gesichts.

»Du siehst aus, als ob du Schmerzen hättest. Brauchst du Morphium?«, fragte Maura. »Ich rufe die Schwester.«

»Nein.« Amalthea ließ langsam die angehaltene Luft entweichen. »Noch nicht. Ich muss wach sein. Ich muss mit dir reden.«

»Worüber?«

»Über dich, Maura. Darüber, wer du bist.«

»Ich weiß, wer ich bin.«

»Weißt du das wirklich?« Amaltheas Augen waren dunkel und unergründlich. »Du bist meine Tochter. Das kannst du nicht leugnen.«

»Aber ich bin völlig anders als du.«

»Weil du von dem netten und anständigen Ehepaar Isles in San Francisco aufgezogen wurdest? Weil du auf die besten Schulen und Universitäten gegangen bist? Weil du im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit arbeitest?«

»Weil ich nicht zwei Dutzend Frauen abgeschlachtet habe. Oder waren es mehr? Gab es noch weitere Opfer, die auf der Liste deiner Verbrechen nicht vermerkt waren?«

»Das ist alles in der Vergangenheit passiert. Ich will über die Zukunft reden.«

»Wozu soll das gut sein? Du wirst nicht mehr da sein.« Es war eine herzlose Bemerkung, aber Maura war nun einmal nicht in gnädiger Stimmung. Plötzlich kam sie sich manipuliert vor, hergelockt von einer Frau, die genau wusste, welche Knöpfe sie drücken musste. Über Monate hinweg hatte Amalthea ihr Briefe geschickt. Ich habe Krebs im Endstadium. Ich bin Deine einzige Blutsverwandte. Das wird Deine letzte Gelegenheit sein, Abschied zu nehmen. Nur wenige Worte waren wirkungsvoller als diese: die letzte Gelegenheit. Wenn sie diese Chance verstreichen ließe, würde sie es vielleicht bis an ihr Lebensende bedauern.

»Ja, ich werde tot sein«, sagte Amalthea nüchtern. »Und du wirst dich weiter fragen müssen, wer deine Leute sind.«

»Meine Leute?« Maura lachte. »Das klingt ja, als ob wir irgendein Stamm wären.«

»Das sind wir. Wir gehören zu einem Stamm, der von den Toten profitiert. Dein Vater und ich haben es getan. Dein Bruder hat es getan. Und ist es nicht ironisch, dass du es auch tust? Frag dich doch einmal, Maura, warum du diesen...