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Tsugumi

Banana Yoshimoto

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257606751 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

{7}Geisterpost


Sicher, Tsugumi1 war schon ein unmögliches Mädchen …

Ich bin in einem verschlafenen Städtchen aufgewachsen, in dem sich alles um Fischerei und Tourismus dreht. Mittlerweile lebe ich in Tokyo und habe angefangen zu studieren. Hier macht mir das Leben auch großen Spaß.

Ich bin Maria Shirakawa. Ich trage den Namen der Heiligen Mutter Gottes.

Das soll aber nicht heißen, daß ich ein heiliges Gemüt besäße. Trotzdem, aus irgendeinem Grunde scheinen sich alle meine neuen Freunde hier in Tokyo über meinen Charakter einig zu sein: »Mensch, bist du nachsichtig«, sagen sie, oder: »Du hast aber die Ruhe weg!«

Ich selbst würde mich ja eher als ungeduldig bezeichnen, als ganz normalen Menschen aus Fleisch und Blut. Und doch gibt es da ein paar Dinge, die mir seltsam vorkommen: In Tokyo regen sich die Leute sofort über alles auf, ob es nun regnet, die Vorlesung ausfällt oder ein Hund pinkelt. Ich bin da sicher anders. Kaum daß mich die Wut gepackt hat, verebbt sie auch schon wieder, wie Meereswasser, das sich vom Strand zurückzieht und im Sand versickert … Wahrscheinlich, weil ich vom Lande bin, hatte ich mir bisher immer eingeredet, bis mir vor kurzem auf {8}dem Heimweg von der Uni alles klar wurde: Schäumend vor Wut starrte ich ins Abendrot – so ein blöder Prof hatte meine Klausur nicht mehr angenommen, nur weil ich gerade mal eine Minute zu spät abgegeben hatte –, und da wußte ich plötzlich:

»Tsugumi! Das ist alles ihre Schuld, nein, ihr Verdienst!«

Jeder Mensch wird ungefähr einmal am Tag stinksauer. Jetzt fiel mir auf, daß eine innere Stimme mir in solchen Situationen immer ganz mechanisch den entsprechenden Wert auf der nach oben offenen Tsugumi-Skala zuflüstert. Das wirkt wie eine Zauberformel. Was hat man schon davon, sich aufzuregen? Diese Einstellung muß ich mir zugelegt, ja verinnerlicht haben, als ich mit Tsugumi zusammenlebte. Ich starrte immer noch in den Abendhimmel, dessen leuchtendes Orange langsam schwächer wurde, und hätte am liebsten ein bißchen geweint.

Liebe ist … wie die Japanischen Wasserwerke: Man kann verschütten, soviel man will, sie versiegt nie, selbst wenn man den Hahn ewig lange volle Kanne aufdreht. Ja, so ist das. – Keine Ahnung, wie ich in dem Moment darauf kam.

 

Die Geschichte, die ich erzählen will, handelt von Erinnerungen an meinen letzten Sommer in dem Küstenstädtchen meiner Jugend. Die vorkommenden Personen, die Menschen aus dem Gasthaus Yamamoto, sind längst von dort weggezogen, und ich glaube, ich werde nie wieder mit ihnen zusammenleben. Um heimzukehren, ist meinem Herzen kein anderes Zuhause geblieben als die Erinnerungen an die Zeit mit Tsugumi.

 

{9}Tsugumi war von Geburt an gesundheitlich furchtbar schwach, überall funktionierte etwas nicht bei ihr. Der Arzt hatte ihr ein kurzes Leben beschieden, und auch die Familie stellte sich darauf ein, weshalb sie von ihrer Umgebung verhätschelt und verwöhnt wurde. Ihre Mutter konsultierte Ärzte in ganz Japan und tat alles in ihrer Macht Stehende, um Tsugumis Leben auch nur um kurze Zeit zu verlängern. So kam es, daß sie zwar allmählich laufen lernte und heranwuchs, aber einen entschieden trotzköpfigen Charakter bekam. Es spornte sie nur noch mehr an, daß sie gesund genug war, um halbwegs normal leben zu können. Tsugumi hatte eine scharfe Zunge – boshaft, grob und unverschämt; hinterlistig war sie – mit Eigensinn und koketter Schmeichelei. Ihre triumphierende Miene, wenn sie gerade wieder ohne Umschweife und mit bewundernswertem Timing in treffende Worte gekleidet hatte, was ihr Gegenüber am meisten entsetzte, glich dem Antlitz des Teufels.

Ich wohnte zusammen mit meiner Mutter in einem Anbau des Gasthauses Yamamoto.

Mein Vater quälte sich in Tokyo mit der Durchsetzung der Scheidung von seiner schon lange von ihm getrennt lebenden Frau herum, um meine Mutter offiziell heiraten zu können. Von außen sah diese ganze Hin- und Herfahrerei immer furchtbar stressig aus, aber die beiden selbst schienen ziemlich glücklich zu sein dabei, schienen immer den Traum von jenem strahlenden Tag vor Augen zu haben, an dem wir alle drei als Familie in Tokyo würden zusammenleben können. Trotz des mehr oder weniger komplizierten äußeren Anscheins also hatte ich eine {10}harmonische Kindheit – als einzige Tochter eines sich liebenden Paares.

Die Yamamotos waren die Familie, in die die jüngere Schwester meiner Mutter eingeheiratet hatte. Während wir dort lebten, half Mutter in der Hotelküche aus. Die Yamamotos – das waren Onkel Tadashi und Tante Masako, die Betreiber des Gasthauses, und ihre beiden Töchter, die berüchtigte Tsugumi und deren ältere Schwester Yōko.

Auf der Hitliste der Personen, die unter Tsugumis unmöglichem Charakter zu leiden hatten, stand Tante Masako auf Platz eins und Yōko auf Platz zwei. Ich selbst nahm den dritten Rang ein. Onkel Tadashi kam Tsugumi nicht zu nahe. Schon meinen eigenen Namen mit auf die Liste zu setzen ist ziemlich anmaßend. Denn der tägliche Umgang mit Tsugumi hatte die zwei auf den vorderen Rängen so lieb und sanft gemacht, daß sie längst in die unerreichbaren Sphären der Engel auf Erden eingegangen waren.

Um die Altersverhältnisse klarzustellen: Yōko ist ein Jahr älter als ich, und ich bin ein Jahr älter als Tsugumi. Doch davon, daß Tsugumi jünger ist als ich, habe ich nie etwas gespürt. Sie war schon als Kind boshaft, und das Alterwerden hat nichts daran geändert.

Je schlechter es ihr ging und je öfter sie das Bett hüten mußte, desto haltloser wurde ihre Raserei. Der Ruhe wegen hatte sie ein niedliches kleines Doppelzimmer im zweiten Stock des Gasthauses ganz für sich allein. Von ihrem Zimmer aus hatte man den besten Ausblick, man konnte das Meer sehen! Das wunderschöne Meer, das in der Mittagssonne glitzerte, an Regentagen rauh und verhangen {11}war, und auf dem sich am Abend die vielen Lichter der zum Tintenfischfang ausfahrenden Boote spiegelten.

Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was es heißt, Tag für Tag in der Aufregung und Ungewißheit leben zu müssen, ob man nun bald stirbt oder noch einmal davonkommt – ich bin ja gesund. Ich glaube nur, wenn ich lange in diesem Zimmer zu liegen hätte – ich würde den Ausblick auf die See und ihren salzigen Geruch über alles schätzen. Tsugumi schien sich jedoch überhaupt nichts aus all dem zu machen, riß die Vorhänge in Fetzen, knallte die Fensterläden zu, warf das Essen um, verstreute die Bücher aus den Regalen überall auf den Tatami – kurzum, das ganze Jahr über ließ sie das Zimmer so aussehen wie Linda Blair ihres in »Der Exorzist« und brachte ihre herzensgute Familie regelrecht zum Heulen. Einmal war sie tatsächlich der Schwarzen Magie verfallen, verkündete »Ich bin das Lehrmädchen der Großen Hexe« (oder so ähnlich) und hielt eine Unmenge von Nacktschnecken, Fröschen und Krebsen (einheimische offenbar) auf ihrem Zimmer, die sie dann in die Gästezimmer schmuggelte. Es hagelte Beschwerden. Damals vergossen meine Tante, Yōko und sogar mein Onkel wegen Tsugumis Benehmen wirklich Tränen.

Doch selbst da lachte Tsugumi sie bloß aus: »Ich werd’s euch zeigen, ihr Säcke, ich kratz einfach ab heut nacht, und dann wird’s euch leid tun. Hört schon auf zu heulen!« Seltsamerweise sah ihr höhnisches Gesicht dabei aus wie das Antlitz von Maitreya.2

{12}Ja, Tsugumi war schön.

Schwarzes, langes Haar, weiße Haut wie aus Porzellan, über den großen, großen mandelförmigen Augen lange, dichte Wimpern, die, wenn sie die Lider niederschlug, zarte Schatten warfen. Die dünnen Arme und Beine, an denen die Adern durchschimmerten, waren schlank und lang, doch im ganzen war ihr Körper zierlich klein. Sie besaß das anmutige, züchtige Aussehen einer wunderschönen Puppe, die die Götter selbst angefertigt hatten.

Seit der Mittelschulzeit hatte Tsugumi es sich zur Gewohnheit gemacht, irgendeinen Jungen aus ihrer Klasse zu behexen. Sie ging mit ihm am Strand spazieren und schmiegte sich dabei eng an ihn. Der Junge wußte meist nicht, wie ihm geschah, und machte sich total zum Narren. Normalerweise hätte man sich in so einer kleinen Stadt das Maul darüber zerrissen, doch die Leute waren davon überzeugt, daß jeder, ob er nun wollte oder nicht, der Anmut und Schönheit von Tsugumi verfallen mußte. Dem äußeren Anschein nach wirkte Tsugumi ja so lieblich und gut, wie ein ganz anderer Mensch. Tja, Gott sei Dank ließ sie wenigstens die Finger von den Hotelgästen. Sonst wäre aus dem Hause Yamamoto womöglich noch ein Bordell geworden.

Tsugumi und der Junge wandern am Abend über den hohen Deich, die Bucht liegt da im Dämmerlicht. Tief tanzen ein paar Vögel am Himmel; das Rauschen der Wellen kommt leise glitzernd näher. Niemand ist zu sehen, nur einige Hunde streunen umher; der Strand liegt da wie eine Wüste, weit und weiß; der Wind streicht um ein paar Boote. In der Ferne verblassen die Silhouetten der {13}Inseln, die zartrot leuchtenden Wolken versinken am Horizont.

Tsugumi geht gaaanz, ganz langsam.

Der Junge reicht ihr besorgt den Arm. Den Blick zu Boden gerichtet, legt Tsugumi ihre schmale Hand in seine. Dann sieht sie auf und lächelt. Ihre Wangen strahlen in der Abendsonne, ein Lächeln, so flüchtig wie der blendende Abendhimmel, der sich Augenblick um Augenblick weiter verändert. Ihre weißen Zähne, der schlanke Hals, die großen Augen, die den Jungen die ganze Zeit fest im Blick haben – alles droht jeden Moment im Sand und im Wind und im Wellenrauschen unterzugehen. –...