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Sly

Banana Yoshimoto

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257606744 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR


 

{7}Ein Hinweis und eine wunderschöne Morgendämmerung in Japan


Seltsam, ich kann mich noch ganz genau an jenen Nachmittag erinnern. Es war der Tag nach Takashis Einweihungsparty.

Draußen war es heiter. Ich sah den blauen Himmel und das Licht der Sonne vor dem Fenster. Im Gegensatz dazu war es im Wohnzimmer ganz düster. Hier ging etwas zwischen uns zu Ende, und gleichzeitig nahm etwas anderes seinen Anfang.

Obwohl wir uns mitten im Gespräch befanden, hatten sich meine Gefühle längst daraus verabschiedet und irrten haltlos umher. Als seien sie lebendig, betrachtete ich die Sonnenstrahlen draußen, die fröhlich auf dem Küchenfenster mir gegenüber zu tanzen schienen. Ich erinnere mich noch genau.

 

Dies ist die Geschichte einer Reise, die nicht mehr als zehn Tage dauerte. Ich hatte keine Erwartungen in diese Reise gesetzt, sie diente keinem besonderen Zweck, selbst nicht dem, uns aufzumuntern. Ich, wir haben uns einfach nur von einem Ort zum anderen treiben und von schönen Landschaften begleiten lassen. Ziellos, hoffnungslos. Trotzdem hat es auch Augenblicke gegeben, die uns irgendwie schön, die uns irgendwie außergewöhnlich erschienen. Es ist eine {8}kleine Geschichte, die eben jene Momente nachzeichnen soll.

 

Einer nach dem anderen trudelten an jenem Abend insgesamt etwa fünfzehn Leute bei Takashi ein. Alles Menschen, die ich seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Es gab zu essen und zu trinken, ich war seit langer Zeit mal wieder betrunken, und die Nacht verging, ohne daß ich ein Auge zugetan hätte.

Erst als schon fast der Tag anbrach, waren alle gegangen, nur Hideo, der das gesamte Essen für den Abend vorbereitet hatte, und ich waren noch da. Ich spülte und räumte auf. Hideo war so sehr damit beschäftigt gewesen, jedem, der gehen wollte, etwas von dem restlichen Essen mitzugeben, daß er darüber geblieben war.

Es war schon merkwürdig, daß Mimi, Takashis Freundin, in dieser Nacht nicht nach Hause kam. Die beiden waren nämlich erst vor einem Monat zur Miete in dieses alte japanische Haus gezogen, und das hätte ihre Einweihungsparty sein sollen.

Aber am besten erkläre ich hier erst einmal, in welcher Beziehung Hideo und ich zu Takashi stehen.

Ich bin Takashis Freundin gewesen, seine erste Frau. Das betone ich deshalb, weil er eigentlich nur auf Männer steht. Takashi und ich trafen uns, als ich siebzehn war, vor mehr als zehn Jahren also. Wir haben ziemlich lange zusammengelebt, bis wir uns schließlich doch trennten.

Auch Hideo war Takashis Geliebter. Die beiden hatten sich kennengelernt, während Takashi mit der Innenausstattung der Bar beschäftigt war, die Hideo als {9}Geschäftsführer leitete. Als sich Takashi dann jedoch bis über beide Ohren in die Künstlerin Mimi verknallte, mit der er jetzt zusammenwohnte, hatten er und Hideo sich getrennt. Das war vor gut drei Jahren.

Seither gehen wir jedenfalls alle wie ganz normale Freunde miteinander um. Das mag daran liegen, daß Mimi genau wie Hideo oder ich ausgesprochen umgänglich ist, oder daran, daß jeder von uns das tut, was ihm gefällt, und ihm alles, was über den Moment hinausreicht, egal ist. Vielleicht hat es auch damit zu tun, daß wir alle im gleichen Alter sind und in ähnlichen Berufen arbeiten. Es könnte aber auch sein, daß zwischen uns tatsächlich so etwas wie wahre Freundschaft entstanden ist.

Ich will nicht behaupten, daß es nicht für jeden von uns auch schwierige Momente gegeben hätte, aber mit der Zeit hat sich das bereinigt. Geblieben ist schließlich nur die Freude darüber, sich mit Leuten treffen zu können, mit denen man sich versteht, und das Vergnügen daran, sich mit ihnen gut zu unterhalten.

»Was ist mit Mimi?« Während ich die Teller abspülte und einräumte, sprach ich Takashi mehrmals direkt darauf an, bekam aber nur vage Antworten wie: »Die kommt noch«, oder: »Tja, vielleicht übernachtet sie im Atelier?«

Hideo und ich tuschelten hinter seinem Rücken darüber und kamen zu dem Schluß: »Die beiden hatten bestimmt Streit.«

 

Als alles wieder an seinem Platz war, hellte sich von Osten her der Himmel auf.

»Laßt uns doch nach draußen gehen und etwas von dem {10}Dessert essen, das wir im Kühlschrank vergessen haben!« meinte Hideo. Deshalb war ich schon mal allein vorgegangen, hatte mich auf dem kühlen Gras ausgestreckt und betrachtete den zart gefärbten Himmel.

Im Garten des Hauses steht ein Kampferbaum. Mit furioser Kraft, begleitet von Wind und Licht, brach plötzlich der Morgen durch die Windungen seiner großen, knorrigen Äste und die Lücken in seinem dunklen, dichten Blattwerk. Rosa, helles Blau und Gold – für mich die hoffnungsträchtigste Farbkombination, die es gibt auf der Welt.

Ich bin Schmuckdesignerin.

Bei meiner Arbeit wähle ich häufig die Morgendämmerung als Motiv für neue Entwürfe. Mit den verschiedensten Materialien versuche ich, dieses Gefühl der Zuversicht zu erzeugen. Durch Gold, rosafarbenen Turmalin, Amethyst und blauen Topas. Aber vor der überwältigenden, unendlichen Weite und den sanften, zarten Farben der wirklichen Morgendämmerung erscheinen mir meine bescheidenen Bemühungen fast erbärmlich.

Takashi kam dazu und setzte sich neben mich.

Anschließend brachte Hideo die Schüssel mit dem Erdbeergelee.

Es war halb gefroren, weil es so lange im Kühlschrank gestanden hatte, aus frischen Erdbeeren zubereitet und kristallklar. Es gab ein herrlich kaltes Gefühl auf der Zunge und war das Beste, was man hier und jetzt hätte essen können. So saßen wir drei still nebeneinander, aßen unser Gelee, tranken reihum von dem Champagner, der noch in der Flasche war, und betrachteten den Himmel über Tokyo, der sich langsam aufhellte.

{11}Das Morgenlicht auf Hideos bleichen Wangen, Takashis männliche, knochige Finger, die aus seinen Ärmeln hervorlugten, das Gefühl, wie der Morgentau aus dem weichen Boden unter der Grasnarbe langsam zu meinem Po durchdrang, und dazu der sanfte, kühle, beinahe schon kalte Windhauch. Das alles war einfach zu vollkommen. Plötzlich mußte ich weinen.

Die Freunde ließen meine Tränen unkommentiert und betrachteten den Himmel und den Baum wohl mit ähnlichen Empfindungen.

Der Eindruck, daß es nie wieder einen erfüllteren Moment geben würde, hat sich bis heute immer und immer wieder bestätigt.

Man kann sich die Welt wie ein Gefüge aus massiven Holzklötzchen vorstellen oder wie eine duftende Blume, die sich immerzu sanft verändert … In meinem Zustand war ich mir dieser beiden Erkenntnisse gleichzeitig bewußt.

Dann, als sich der Himmel gleichmäßig aufgehellt hatte und ein ganz gewöhnlicher Morgen heraufgezogen war, wurden wir müde. Hideo und ich hatten keine Lust mehr, nach Hause zu gehen, also richtete Takashi uns Futons im Gästezimmer seines Hauses her, und wir legten uns schlafen.

 

Als ich die Augen aufschlug, war der Himmel vor dem Fenster strahlend blau – ein letzter Gruß der Morgendämmerung. Mein Rausch war leicht wie ein Dufthauch, der noch in der Luft hängt, doch ich spürte den Alkohol nach wie vor deutlich in den Knochen. Da Hideo auf dem anderen Futon noch fest zu schlafen schien, stand ich auf, um zu duschen. So hatte ich schon lange nicht mehr bei jemandem {12}übernachtet. Ich fühlte mich irgendwie in meine Studentenzeit zurückversetzt, als ich noch mit Takashi zusammenwar.

Mimi war anscheinend immer noch nicht nach Hause gekommen.

Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, hörte ich Stimmen und dachte: Aha, Mimi ist zurück. Ich verließ das Bad und ging ins Wohnzimmer.

Aber dort war gar nicht Mimi; nur Hideo und Takashi mit ernsten Mienen. Ihre Ernsthaftigkeit hatte die Atmosphäre so stark verändert, daß ich das Gefühl hatte, mich nicht einmischen zu dürfen, und ich fragte spontan:

»Es ist wohl besser, wenn ich nach Hause gehe, wie?«

»Nein, bleib ruhig da, Kiyose«, sagte Hideo. »Komm, setz dich zu mir, und hör einfach zu.«

»Ich misch mich nicht ein, wenn zwei ein Problem haben«, antwortete ich.

»Darum geht es gar nicht«, erwiderte Hideo.

»So schlimm ist es auch wieder nicht«, meinte Takashi.

»Was? Die Sache mit Mimi?«

»Ja, das auch.«

Es sah ganz so aus, als wäre Hideo erleichtert, daß ich jetzt auch da war. Er hatte doch noch bis gerade eben fest geschlafen – wenn sich die Situation in der kurzen Zeit, als ich unter der Dusche stand, so unverhofft zugespitzt hatte, konnte es sich nur um ein belangloses, vom Alkohol verkatertes Gespräch handeln, und so betrat ich das Wohnzimmer ohne allzu schlimme Befürchtungen.

»Wie wär’s, soll ich uns Kaffee machen?« fragte ich. Als ich ihn aufbrühte, wurde das Wohnzimmer von einem angenehmen Duft erfüllt, der die Lebensgeister weckte. Das {13}Küchenfenster war in Licht getaucht. Wenn ich die Augen schloß, färbte es sich rot hinter meinen Lidern.

»Mmm, lecker!« Hideo trank von dem Kaffee; er schien ihm gutzutun. Und dann sagte er es.

»Also, es geht darum: Takashi ist HIV-positiv.«

In diesem Moment schlug die Stimmung im Zimmer um. Ein überbordender Strom von Emotionen wirbelte durch den Raum und verkehrte die Atmosphäre.

Das haute mich einfach um, und ich dankte dem Himmel dafür, nichts Unpassendes von mir gegeben zu haben.

»Aha«, sagte ich und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Ähm, soll ich mal Musik machen?«

Takashi lachte, stand auf, ging zur Stereoanlage und schaltete sie ein1.

Wandern, das Meer hinter sich lassen,

bis ich ein Zuhause finde, so wie...