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Museum der Erinnerung

Anna Stothard

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257607932 , 304 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

13,99 EUR


 

1 Der küssende Käfer


Die Vergangenheit ist nicht beständig. Der Vorgang des Erinnerns verändert uns, und jedes Leben kann innerhalb eines Tages neu geschrieben werden.

Am Morgen vor der Party war Cathy im Eingang des Berliner Museums für Naturkunde stehen geblieben und hatte das Skelett des Brachiosaurus, dessen schmaler Kopf auf dem langen Hals fast bis zum Glasdach des Lichthofes reichte, mit einem Lächeln begrüßt. Ihr Kleid hatte sie bereits aus der Reinigung geholt, es hing an ihrem Arbeitsplatz, doch die hochhackigen Schuhe trug sie in der Hand über den Marmorboden, vorbei an Fossilien und Eisbären.

Es würde heute schon wieder so schwül werden. Botaniker, Techniker und wissenschaftliche Mitarbeiter trotteten durch das Foyer des Museums, während ein Raumpfleger einen Glaskasten mit Drontenknochen abstaubte. Cathy bog im Lichthof links ab, die Stufen hinauf in die Dunkelheit der Ausstellung Kosmos & Sonnensystem: neun fußballgroße Planeten um eine Sonne herum, die irreführenderweise dieselbe Größe hatte wie die Planeten selbst. Ein Tag auf der Venus dauert 243 Erdtage, stand auf einem Poster. Der Jupiter braucht für die Drehung um die eigene Achse nur 9,8 Stunden. Vor allem auf Jugendliche übte diese Ausstellung einen besonderen Reiz aus. Vielleicht war es die Vorstellung, ihr gesamtes Universum sei einst ein einzelner, unvorstellbar heißer Punkt im Weltall gewesen, doch wahrscheinlich schlichen sie sich einfach nur gern ins Dunkle, um dort zu knutschen.

 

Cathy trug eine weiße Bluse, gut geschnittene Hosen und Ballerinas; ihr langes, rotbraunes Haar war ordentlich hinter beide Ohren gestrichen. Während sie die Wendeltreppe hoch und anschließend an den verschlossenen Türen verschiedener Labors und Sammlungen vorbeiging, drehte sie die zusammengerollte Schlange ihres Verlobungsringes an ihrem linken Ringfinger. Die Fenster des Lichthofes sowie die Türen standen in der ungewöhnlichen Sommerhitze offen, um den Geruch von Fell und Konservierungs-Chemikalien zu mindern. Sie schob sich in ihr Büro, einen langgezogenen Raum mit niedriger Decke, zugestellt mit Möbeln und einer sich ständig ändernden Ansammlung an Exponaten, für die unten kein Platz mehr war. Kaputte Bürostühle stapelten sich in derselben Ecke, wo auch eine ausgestopf‌te Eule hockte, auf einer der vielen grünen Vitrinen, die im Raum aufgestellt waren, lag ein Elefantenschädel. In den Vitrinen befand sich alles Mögliche – von einer Atlasmotte in der Größe eines Babykopfes bis zur Miniermotte, kleiner als ein Komma dieses Satzes.

Cathy setzte sich an ihren Schreibtisch vor ein Zedernholztablett mit Totenkopfschwärmern, deren Flügelunterseiten orangefarben waren. Wegen des Totenkopfmusters auf dem Leib hatten sie über alle Zeiten hinweg immer als schlechtes Omen gegolten. Cathy liebte die Reihen ordentlich aufgepiekter Körper mit ihren zerbrechlichen Kostümen, doch genauso hatten es ihr die leeren Flächen zwischen den Exponaten angetan. Es waren diese Zwischenräume, die eine Ordnung erzeugten. Sie fand, die Schönheit von Museen, genau wie die von Landkarten und die zwischenmenschlicher Beziehungen, lag ebenso sehr in der Distanz wie in der Nähe.

Am Morgen war sie neben Tom aufgewacht, in ihrer Zweizimmerwohnung mit den weißen Dielen in Neukölln, im Südosten Berlins, einer Gegend voller heruntergekommener Waschsalons und türkischer Cafés, wo sie seit vier Jahren lebten, und hatte ihn schlafen gelassen. Sie war Engländerin, er Amerikaner – Teil der bunten Mischung Vertriebener und Umherziehender, aus der die Stadt bestand. Wenn Tom schlief, sah er mit dem eckigen Kinn und dem gebräunten Gesicht aus, als gehöre er einer evolutionär überlegenen Gattung an. Seine fein gezeichneten Augenbrauen verliehen ihm einen ständig amüsierten Ausdruck. In dem Moment, in dem er aufwachte, würde er anfangen, an seiner häufig kaputten Brille herumzufummeln, von einem Fuß auf den anderen zu treten und Kette zu rauchen, doch im Schlaf war er makellos.

Das Apartment hatte die leere Atmosphäre einer Ferienwohnung. Das Herzstück war ein schmiedeeisernes Bett, das eher einem unerzogenen Haustier glich, weil es ebensolche Geräusche von sich gab. Tom schlief, ohne sich zu bewegen, doch Cathy unterhielt sich nachts regelmäßig mit dem Bett. Der Rahmen stöhnte, wenn sie sich streckte, und die Matratze quietschte, wenn sie sich wand. Sex war immer ein Dreier, wobei das Bett der lautstärkste Teilnehmer war. Es schien sie zu verspotten, wenn sie aus dem Rhythmus gerieten. Sie ließen sich dann auf den Boden rollen, doch es fühlte sich immer noch so an, als wäre das Bett irgendwie mit von der Partie.

 

Als Cathy sich an ihren Schreibtisch setzte, bemerkte sie einen Karton von der Größe ihrer Hand in der hinteren Ecke, neben dem Mikroskop. Das braune Paket musste früh an diesem Morgen angekommen sein oder nachdem sie gestern das Büro verlassen hatte. Sie war froh, dass gerade niemand anderes im Raum war, ihr Herz schlug so laut, dass es jeder gehört hätte.

Nervös zog Cathy das Paket zu sich heran. Sie hatte in wissenschaftlichen Zeitschrif‌ten zwei Artikel über Schwärmer veröffentlicht, weswegen ihr manchmal Leute Motten zuschickten, damit sie sie identifizierte oder als Geschenk für die Sammlung des Museums, doch sie wusste instinktiv, dass das braune Paket keine Motte enthalten würde. Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Sie schlitzte das Klebeband mit der Spitze einer Schere einmal längs und zweimal quer auf und öffnete die Klappen. Sie griff mit der rechten Hand in die Styroporf‌locken, fand eine weiße Schachtel und schob den Deckel mit dem Daumen hoch.

Zwischen Lagen von Zeitungspapier fand sie einen zweieinhalb Zentimeter großen, leuchtenden Bernstein, der sich zwischen ihren Fingern kühl anfühlte. Sie hielt ihn ans Licht. Im Bernstein war ein Panstrongylus megistus eingeschlossen, eine Raubwanze, mit seinem schlanken Kopf im Harz erstickt. Ein Fühler schien zu zucken, als reagiere er auf die Wärme von Cathys Hand. Zeitlose Geschöpfe, schimmernde Kugeln, die man im Englischen »Kissing Beetle«, küssender Käfer, nannte, weil sie schlafende Menschen in die weiche Haut um die Lippen und die Augen bissen. Es war weder ein erklärender Brief beigefügt noch sonst ein Hinweis auf den Absender, doch sie wusste, von wem diese Botschaft kam.

 

Daniel ballte und streckte die Finger. Die Haare an seinen Handgelenken unter den Ärmeln des Hotelbademantels klebten noch nass an der Haut. Er hatte Arthritis und inzwischen mehr Freude am Schwimmen als am Kämpfen, aber wenn er seine Hände ansah, dachte er schwärmerisch an flüsternde Luft und das Brennen, wenn ein Handschuh auf Haut traf. Ein erster Schlag auf das Jochbein seines Gegners, das Geräusch brechender Knochen, doch keine Zeit, sich darüber zu freuen. Er fuhr sich mit den Fingern durch das feuchte Haar.

Auf dem Tisch lag die versteinerte Kralle eines Seeadlers, einige Zentimeter schokoladenbrauner Knochen, der ordentlich an einer Kralle saß. Die Klaue war an einer Spitze leicht restauriert worden, aber ansonsten makellos. Cathy hatte ihm einmal erzählt, dass die Anordnung der Knochen bei der Vordergliedmaße einer Maus, eines Delphins, eines Fledermausflügels, eines menschlichen Arms und einer Walf‌losse gleich waren. Seine eigenen knotigen Hände hatten die gleichen Vorfahren wie ein Raubvogel oder eine Fledermaus.

Davids pochende Knöchel machten ihn unruhig, möglicherweise eine Vorahnung auf das Ende der Hitzewelle, die über der Stadt lag, vielleicht ein Sturm nach der tagelangen Schwüle. Er war noch nicht an die Freiheit gewöhnt, die er jetzt besaß, das Wissen, hingehen zu können, wohin er Lust hatte. Er berührte die Spitze der Klaue mit seinem Zeigefinger und dachte an Cathys geschmeidige, knochige Hände mit dem Perlmuttring am Mittelfinger. Für ein dekoratives Fick-Dich, hatte sie mal gesagt.

 

Cathy faltete die Zeitungsseiten auf, in die die Raubwanze eingepackt gewesen war, und studierte sie. Es war die entzweigerissene gestrige Ausgabe der Welt mit einem halben Artikel darüber, wie der Autobahnasphalt in Niederbayern in der Nähe von Abensberg sich wegen der Hitze wellte. Ein Schulbus war gegen eine Leitplanke geprallt, und zwölf Kinder waren dabei umgekommen. In der linken Ecke der Seite, oberhalb der Zeilen, klebte ein Teil von einem Aufkleber, auf dem stand:

ments of

Shiro

eakfast!

Cathy studierte dieses Stückchen Information genauer. Es gab eine Hotelkette namens Shiro, die auch in Berlin Niederlassungen hatte. Die Zeitung war eine Beigabe zum Frühstück gewesen. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Auf dem Karton war kein Poststempel, doch sie ließ ihren Finger über die tiefen Furchen gleiten, die entstanden waren, als er ihren Namen auf den Deckel schrieb. Es war vier Jahre her, seit Daniel ihr ein derartiges Objekt geschickt hatte.

Alle Fenster des Raumes waren geöffnet, doch durch keines schien eine Brise zu kommen. Ihr Büro war im obersten Stockwerk des Museums und überblickte die Rasenfläche des Vorplatzes. Zu ihrer Linken konnte sie, über Hotels und Häuserblocks hinweg, die gigantische Discokugel des Berliner Fernsehturms glitzern sehen. Die meisten von Berlins alten Museen waren auf ihrer eigenen Insel im Stadtzentrum gefangen, doch das Naturkundemuseum war ein einsamer Wolf in der Nähe der Universität und des Hauptbahnhofs. Es war ein langgestrecktes Gebäude mit einem flachen Dach, die Fenster hatten Rundbögen und...