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Heimliche Herrscher - Ein Fall für Sebastian Fink

Friedrich Dönhoff

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257607246 , 352 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

3


Der Schiffbeker Weg durchzog den Stadtteil Billstedt, der zu den sozialen Brennpunkten Hamburgs gehörte: Von seinen siebzigtausend Einwohnern waren zehn Prozent arbeitslos, dreiundzwanzig Prozent Ausländer und zweiundzwanzig Prozent Hartz-IV-Empfänger. Damit lag Billstedt deutlich über dem Hamburger Durchschnitt.

An der Ecke stand das Hochhaus – sechzehn Stockwerke, kleine Fenster, kleine Balkons. Auf dem von Blumenrabatten eingefassten Gehweg parkten zwei Polizeiautos und ein Krankenwagen. Auf der Straße hielt ein Leichenwagen, wendete und setzte rückwärts über den abgetretenen Rasen zum Eingang.

Sebastian folgte dem Plattenweg zum Haus. Jugendliche in Bomberjacken, Rentner und Hausfrauen mit Einkaufstüten drängelten sich, rauchten, glotzten und hielten Handykameras in die Höhe.

»Bitte machen Sie Platz«, bat ein uniformierter Polizist. »Gehen Sie nach Hause.«

Die Leute traten stumm zur Seite und bildeten eine Gasse für Sebastian. Neben dem Eingang, einem gläsernen Kasten, der wahrscheinlich nachträglich an das Hochhaus gebaut worden war, stand das Motorrad von seinem Kollegen und Freund Jens.

Im Treppenhaus roch es schon ein wenig nach Verwesung. Warum, dachte Sebastian wieder, verabschiedete sich eigentlich die Seele auf so hässliche Weise?

Im zweiten Stock stand die Wohnungstür offen. Ein kaputter Teller und marmorierte Kuchenbrocken lagen auf dem Boden. Scheinwerfer verbreiteten ein gleißendes Licht. Die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Ganzkörperanzügen waren schon bei der Arbeit. Der leblose Körper lag in der Diele auf dem Rücken.

Sebastian zog sich die hellblauen Tüten über seine Schuhe, die ein Kollege ihm reichte. Es herrschte eine spezielle, fast feierliche Stimmung. Das empfand Sebastian oft, wenn er an einen Tatort kam, wo die Leiche noch lag.

»Darf ich vorstellen: Dirk Packer.« Jens machte einen großen Schritt über die Leiche hinweg.

Das war typisch Jens, er verhielt sich natürlich alles andere als feierlich, dachte Sebastian, als er näher an den Toten herantrat. Der Mann trug eine hellgraue Jogginghose und ein sauberes weißes T-Shirt mit einem riesigen dunklen Fleck auf der Brust. Arme und Beine waren gespreizt.

»Volltreffer«, sagte Jens. »Ist wahrscheinlich direkt hier an der Tür erschossen worden und einfach zu Boden gefallen.«

Der Gerichtsmediziner nickte Sebastian zur Begrüßung zu. »Zwei Tage liegt er schon hier. Genaue Uhrzeit kann ich aber noch nicht sagen.«

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Sebastian.

»Seine Exfrau«, antwortete Jens. »Monika Packer. Sie hat einen Schlüssel und wird gerade unten vom Notarzt versorgt.«

»War die Tür verschlossen?«

»Daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Sie steht unter Schock. Kein Wunder, bei dem Anblick.«

Sebastian ging in die Hocke und betrachtete den Toten. Die Gesichtszüge waren verzerrt, als hätte der Mann, kurz bevor die Schüsse fielen, noch eine Grimasse gezogen. Der Mund stand offen, die Zähne waren nahezu perfekt, die aufgedunsene Haut im Gesicht war fleckig, ebenso die Haut an den Händen. Die Augen waren aufgerissen. Sie guckten starr ins Nichts, als wäre dort irgendetwas Hypnotisierendes.

»Welche Infos gibt es schon?«, fragte Sebastian.

Kollege Niemann schaute auf seinen Notizblock. »Vierundvierzig Jahre alt, KFZ-Mechaniker, zuletzt arbeitssuchend. Keine Familie.«

Hinter dem Kollegen hing ein Foto an der Wand. Sebastian musste genauer hinsehen, um zu erkennen, was es zeigte. Auf den ersten Blick war es ein großes grünes Insekt, auf den zweiten Blick war es Dirk Packer mit grün angemaltem Gesicht und verkleidet mit einem grünen Ganzkörperanzug, wahrscheinlich zu Karneval.

»Dirk Packer als Grashüpfer?« Jens trat näher an das Foto heran.

Sebastian betrachtete die Abbildung, den knallgrünen Anzug, die falschen dünnen Arme, die rechts und links vom Anzug abstanden. Der Mann auf dem Foto lachte. »Du hast recht«, sagte Sebastian, »als Grashüpfer. Da hinten, die Flügel.«

»Haben wir schon Aussagen von den Nachbarn?«, fragte Jens.

Kollege Niemann verneinte. Die Kollegen hätten die Befragung gerade erst begonnen.

Als Sebastian sich von dem Foto abwandte, um sich in der Wohnung umzuschauen, erfasste ihn auf einmal ein Schwindelgefühl, und ihm wurde übel. Er musste sich zusammenreißen und hoffte, dass von den Kollegen keiner etwas gemerkt hatte.

»Ist was?«, fragte Jens.

Das war ja zu erwarten. Jens ließ sich nichts vormachen. Aber jetzt klingelte zum Glück sein Handy, und Jens zog sich damit zurück.

Im Zentrum der Schrankwand im Wohnzimmer befand sich ein Fernseher, ein ziemlich großes Gerät. Im Regal darüber eine lange Reihe DVDs – Spielfilme, deutsche, amerikanische, und mehrere Ausgaben Schlagerparade. An der Seite, aber nach vorn gerückt, war das Foto einer Erdbeere im silbernen Rahmen. Sebastian schaute genauer hin. Links und rechts ragten Arme aus dem voluminösen roten Körper, unten zwei dünne Beine. Auf dem Kopf, über dem grinsenden Gesicht von Dirk Packer, saß wie eine Krone ein Kopfschmuck – das Erdbeergrün. Der Mann, der hier bis vor kurzem gelebt hat, war ganz offensichtlich ein Karnevalsfreund.

Sebastian ging durch die Diele in die Küche. Eine kleine Küche. Auf der Wachstuchdecke lagen ein paar Zettel, beschrieben mit krakeliger Schrift. Auf einem stand: Wir wollen unser Land behalten, so wie es ist! Sebastian schob ihn vorsichtig zur Seite und las den nächsten Spruch: Go home! Und dann noch: Nein zum Heim!

Sebastian zog eine kleine Tüte aus der Jackentasche, streif‌te die Handschuhe über, schob die Blätter zusammen und steckte sie in die Tüte. In diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und ließ die Blumen auf der Wachstuchdecke auf‌leuchten.

Sebastian schaute hinunter auf die Straße. Neben dem Leichenwagen war der Krankenwagen zu sehen, in dem die Exfrau des Ermordeten, Monika Packer, behandelt wurde. Die Menge da unten war angewachsen, und die Leute ließen sich kaum davon abhalten, durch die Milchglasscheiben des Krankenwagens zu gaffen.

 

»Einen Moment, bitte«, sagte der Notarzt im Krankenwagen, nachdem Sebastian sich vorgestellt hatte. »Sie braucht noch eine.«

Sebastian sah zu, wie der Mann eine weitere Spritze aufzog, und beobachtete, wie die geschiedene Ehefrau des Toten vor Erleichterung die Augen schloss, als das Beruhigungsmittel in ihre Venen schoss. Rundes Gesicht, spitze Nase, dunkel gefärbte lockige Haare, die von einer giftgrünen Spange aus dem Gesicht gehalten wurden. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte Mitte fünfzig, aber auch zehn Jahre jünger sein.

»Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?«, fragte Sebastian Frau Packer.

Die Frau seufzte tief, öffnete die Augen und wandte sich widerstrebend Sebastian zu.

»Bitte erzählen Sie: Was haben Sie gesehen, als Sie heute Morgen zu Ihrem Exmann kamen?«

Sie legte ihre Hände ineinander und presste die Lippen zusammen. Ihre Stimme war ganz leise. »Also«, sagte sie. »Ich habe noch überlegt, ob ich etwas für Dirk einkaufen soll, vielleicht ein paar Bananen, damit er auch was Gesundes zu essen bekommt, aber mit dem Kuchen wollte ich nicht in den Supermarkt, also bin ich doch direkt zu Dirk ins Haus. Ich bin zu Fuß in den zweiten Stock.« Sie griff nach Sebastians Hand. »Ich habe geklingelt … Ich hatte kein gutes Gefühl. Es hat so komisch gerochen. Da war nichts, kein Laut. Dann habe ich aufgeschlossen«, sagte sie und stockte gleich wieder.

»War die Tür abgeschlossen?«, fragte Sebastian.

»Ich weiß es nicht mehr. Ich habe die Tür aufgemacht … Und da lag er.« Sie schluchzte laut auf.

Sebastian reichte der Frau ein Päckchen Taschentücher. Sie bediente sich und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Haben Sie einen Verdacht, wer Ihren Exmann getötet haben könnte?«, fragte Sebastian.

Sie antwortete nur mit einem Kopfschütteln. »Dirk ist nicht ans Telefon gegangen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie oft ich es bei ihm versucht habe.«

»Seit wann haben Sie es versucht?«

»Seit gestern Morgen. Dann in Abständen immer wieder. Zuletzt vorhin. Dann bin ich los.«

»Sie hatten also noch engen Kontakt zu Ihrem Exmann?«

Der Frau schien irgendetwas durch den Kopf zu gehen. »Was haben Sie gefragt? Ach so – ja, der Kontakt war gut.«

»Was war denn das Problem gewesen, wenn ich fragen darf?«

Sie stutzte. »Soll ich Ihnen jetzt etwa von meiner Ehe erzählen?«

»Es wäre gut …«

Tränen standen in ihren Augen. Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Dann richtete sie sich wieder an Sebastian: »Ich sag’s mal so: Er war ein Muttersöhnchen. Total verwöhnt. Hat immer gleich alles hingeschmissen. Bei keiner Arbeit hat er’s ausgehalten. Immer hat er sich mit Kollegen gestritten. Und wenn er nicht rausgeschmissen wurde, hat er selbst gekündigt. Dann saß er wieder zu Hause herum.« Frau Packer sah Sebastian eindringlich an. »Sie können es sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie es ist, wenn der eigene Mann den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt und den Arsch nicht hochbekommt. Natürlich kriegt man sich dann in die Wolle. Wir haben uns viel gezankt. Richtig gut haben wir uns eigentlich nur einmal im Jahr verstanden.«

»Einmal im Jahr?«

»An Karneval. Im Kostüm war Dirk echt zuckersüß. Er war ja Rheinländer. Ich bin aus Erfurt, da gibt es so was nicht.« Sie lachte kurz auf. »Wir sind immer als...