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Glanz - Interaktives E-Book - Thriller

Karl Olsberg

 

Verlag Aufbau Verlag, 2011

ISBN 9783841202123 , 988 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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7,99 EUR


 

1.


Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist die stärkste Kraft im Universum. Ich weiß nicht mehr, wo ich diesen Spruch gelesen habe, aber er stimmt. Doch wie jede Kraft kann auch diese heilen – oder zerstören.

Ich bin New Yorkerin, geboren und aufgewachsen in Brooklyn. Ich habe meine Lektionen im Leben gelernt und bin nicht gerade zart besaitet. Von esoterischem Hokuspokus habe ich nie etwas gehalten, und gebetet habe ich das letzte Mal mit fünfzehn. Doch wenn deinem eigenen Kind etwas zustößt, dann kann es passieren, dass dein ganzes Weltbild einstürzt wie ein Wolkenkratzer nach einem Terrorangriff.

Das ändert alles.

Es war ein Dienstag. Ich hatte um neun einen Termin bei einer Werbeagentur in der Madison Avenue und war spät dran. Ich klopfte laut gegen seine Tür. »Eric? Eric, du kannst nicht schon wieder zu spät zur Schule kommen!«

Ich wartete ein paar Sekunden, bevor ich sein Zimmer betrat – pubertierende Jungs sind ein bisschen empfindlich, was ihre Intimsphäre angeht. In der Tür blieb ich stehen.

Sein Kopf mit den nicht zu bändigenden blonden Locken lag auf der Tischplatte. Ein Arm hing schlaff herab, die Hand des anderen umfasste noch die Maus. Nur das trübe Licht des Bildschirms erhellte den Raum.

Ich seufzte. Diese verdammten Onlinespiele! Wenn Eric so weitermachte, würde er den Highschool-Abschluss niemals schaffen. Ich hatte schon alles versucht – reden, schimpfen, drohen, locken. Vergeblich. Jede freie Sekunde hockte er vor dem Computer und jagte irgendwelchen Monstern nach.

Ich hatte nie verstanden, was ihn daran so faszinierte. Es musste etwas typisch Männliches sein – der Urinstinkt, auf die Jagd zu gehen, sich als Mann zu beweisen vielleicht. Dabei war es doch so armselig: Die Gefahren bestanden nur aus bunten Pixeln, und um ihrer Herr zu werden, brauchte man nicht mehr als ein paar Mausklicks.

Ich hatte irgendwo gelesen, dass mindestens fünf Prozent der männlichen Jugendlichen computerspielsüchtig waren – im Schnitt einer in jeder Highschool-Klasse. Trotzdem hatte ich immer gehofft, Eric würde die Lust daran von selbst verlieren. Irgendwann, so redete ich mir ein, würde er ein Mädchen kennenlernen, das ihn auf andere Gedanken brachte. Immerhin war er jetzt fast fünfzehn. Doch wie sollte er sich je verlieben, wenn er nur vor seinem Laptop saß und außerhalb der Schulzeit nie einen Fuß vor die Tür setzte? Es war wohl höchste Zeit, einen Psychologen zu konsultieren.

»Eric!« Ich rüttelte an seiner Schulter. »Eric, wach auf! Es ist gleich halb acht!«

Er reagierte nicht.

Das war der Moment, als die Angst aus den tiefen Höhlen meines Bauches bis in meine Kehle aufstieg. Ich spürte meinen Herzschlag im Mund.

»Eric!« Ich rüttelte ihn erneut, ohne jede Reaktion. Ich fasste ihn an den Schultern und zog ihn zurück. Sein Kopf fiel in den Nacken, der Mund klappte auf. Seine Augen waren weit geöffnet. Das Licht der virtuellen Welt spiegelte sich auf ihrer glasigen Oberfläche.

Mir blieb das Herz stehen. »Eric! O Gott, Eric!«

Ich hatte gehört, dass bereits Computerspieler an Erschöpfung gestorben waren. Doch er konnte nicht tot sein! Nicht Eric! Nicht mein Sohn!

Meine Fingerspitzen berührten seine Halsschlagader. Fühlte ich dort tatsächlich einen schwachen Puls? Ich legte mein Ohr an seinen Mund und spürte einen leichten, regelmäßigen Hauch. Er lebte!

Erleichterung durchflutete mich und wurde gleich darauf von tiefer Sorge verdrängt. Ich rüttelte ihn erneut, gab ihm sogar Ohrfeigen, spritzte Wasser in sein Gesicht, bewirkte jedoch nicht die geringste Reaktion.

Schließlich rannte ich in die Küche, nahm das Telefon von der Station, lief zurück in sein Zimmer und wählte 911. Während ich Name und Adresse nannte und die Situation zu beschreiben versuchte, fiel mein Blick auf den Bildschirm des Laptops. Er zeigte eine von dornigen Sträuchern bewachsene Wildnis aus der Vogelperspektive. In der Mitte lag ein lebloser Körper in der glänzenden Bronzerüstung eines antiken Helden. Schwarze Vögel saßen auf der Leiche und pickten daran. Darunter hatte sich ein Eingabefenster mit drei Schaltflächen geöffnet: »Spielstand laden«, »Neustart« und »Beenden«.

Ekel erfüllte mich. Die Designer des Spiels, das Eric seit Monaten in seinen Bann zog – »Realm of Hades« hieß es, soweit ich mich erinnerte –, hatten es mit dem Realismus eindeutig übertrieben. Angewidert klappte ich den Laptop zu, griff den schlaffen Körper meines Sohnes unter den Achseln und zerrte ihn auf sein Bett. Er war überraschend schwer. Dabei schien es doch noch so nah, dass ich ihn das erste Mal in den Armen gehalten und seinen kleinen Mund an meiner Brust gespürt hatte. Auch so ein Effekt von Kindern: Sie rauben uns jedes realistische Gefühl für den Fluss der Zeit.

Ich rief mir den Erste-Hilfe-Kurs in Erinnerung und brachte Eric in die stabile Seitenlage, so gut ich konnte. Nun blieb mir nichts weiter übrig, als auf die Rettungskräfte zu warten.

Draußen erstrahlten die Glastürme der Stadt im Glanz der frühen Sonne. Ein Schwarm Vögel zeichnete sich dunkel gegen den klaren, kupferfarbenen Himmel ab, als hätten sie sich soeben von der Leiche des Computerspielhelden erhoben und wären irgendwie aus dem Laptop geflüchtet.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis es endlich an der Wohnungstür klingelte. Der Notarzt untersuchte Eric kurz, überprüfte Atmung und Puls, während ich ihm erklärte, wie ich meinen Sohn gefunden hatte.

»Was ist mit ihm, Doktor? Glauben Sie, es ist bloß Erschöpfung?«

»Das können wir erst sagen, wenn wir ihn genauer untersucht haben. Reagiert Ihr Sohn auf irgendwas allergisch?«

»Nein, eigentlich nicht. Ganz selten hat er Heuschnupfen. Birkenpollen, glaube ich.«

»Nimmt er Medikamente oder Drogen?«

Ich stockte. Bis zu diesem Moment war ich nie auf die Idee gekommen, dass Eric etwas mit Drogen zu tun haben könnte. Aber wenn es so war, hätte ich es wirklich gewusst? Ich hatte selbst ein paar Mal Gras geraucht, wie man das eben so tat zu meiner Zeit am College, aber das härtere Zeug nie angerührt. Andererseits waren heutzutage an den Schulen alle möglichen Pillen im Umlauf. Doch Eric trank nicht mal Alkohol und ging kaum aus dem Haus. Außerdem, woher hätte er das Geld für Drogen nehmen sollen?

»Nein«, antwortete ich. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Ist er Diabetiker? Hat er irgendeine andere chronische Krankheit? Oder hat er in letzter Zeit irgendwelche ungewöhnlichen Symptome gezeigt? Hatte er Kopfschmerzen, war er oft müde, oder war ihm übel?«

»Nein. Er ist eigentlich gesund. Bis auf …«

»Ja?«

»Na ja, er spielt sehr viel am Computer. Zu viel. Ich glaube, man kann da von einer Sucht sprechen.«

Der Notarzt nickte. Gemeinsam mit einem Rettungssanitäter hievte er meinen Jungen auf eine Trage und schnallte ihn fest. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, zwei Diebe zu beobachten, die mir das Wertvollste raubten, das ich besaß.

»Möchten Sie mitkommen?«

Ich nickte und folgte den beiden zum Krankenwagen. Es waren nur etwa ein Dutzend Blocks von unserer Wohnung am Rande des Tompkins Square Park im Südosten Manhattans bis zum Faith Jordan Medical Center. Ich erledigte die Formalitäten am Empfang, während man Eric auf die Intensivstation brachte.

Ich blieb den ganzen Tag im Krankenhaus, ohne dass ich mehr über seinen Zustand erfuhr. Verschiedene Ärzte untersuchten ihn und stellten mir alle dieselben Fragen – ob es ähnliche Fälle in der Familie gäbe, ob Eric bereits einmal in Ohnmacht gefallen sei oder epileptische Anfälle gehabt habe, ob er jemals allergisch auf Nahrungsmittel reagiert habe. Ich konnte nur verneinen. Auf meine Nachfragen aber antworteten sie ausweichend. Er leide an einem Apallischen Syndrom, auch Wachkoma genannt, möglicherweise ausgelöst durch einen toxischen Schock. Genaueres könne man noch nicht sagen. Sein Zustand sei immerhin stabil; man könne nicht viel mehr tun als abwarten. Es sei hilfreich, wenn ich bei ihm bliebe und mit ihm redete.

Ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand, während die Maschine, die ihn überwachte, gleichmäßig piepte. Er hatte jetzt die Augen geschlossen und schien friedlich zu schlafen. Doch vor meinem inneren Auge stand das unbarmherzige Bild des gefallenen Helden aus dem Computerspiel, von Aasvögeln bedeckt. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte es nicht verdrängen.

Das Schlimmste in so einer Situation ist die eigene Hilflosigkeit. Der Körper spürt die Gefahr und pumpt Adrenalin durch die Blutbahn. Die Muskeln sind angespannt, je nach Bedarf flucht- oder kampfbereit. Doch in einem mit Elektronik vollgestopften Krankenhaus sind diese archaischen Impulse so nutzlos wie eine elektrische Heizdecke am Nordpol.

Mein Kind war in Gefahr. Jemand – etwas – hatte es verletzt. Doch ich konnte nichts tun.

Ich war nie besonders geduldig. Deshalb arbeite ich normalerweise allein oder nur mit wenigen Leuten, auf die ich mich verlassen kann. Ich bin Fotografin in der Modebranche. Mein Job ist es, das Schöne zu zeigen, und zwar so, wie es in der Realität so gut wie nie vorkommt – makellos, perfekt. Als ich jetzt Eric so liegen sah, seine Gesichtszüge völlig entspannt, hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal diese Perfektion zu sehen, ohne dass ich mit Schminke, Kunstlicht und Objektivfiltern nachhelfen musste.

Ich strich sanft über seine Wange. »Wo bist...