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Islamismus in Deutschland - Zwischen Panikmache und Naivität

Johannes Kandel

 

Verlag Verlag Herder GmbH, 2011

ISBN 9783451336577 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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10,99 EUR


 

1. Was ist Islamismus?


Der Islamismus als politische Ideologie und Bewegung

 

Der Islamismus ist eine wichtige Variante des Islam in der Gegenwart. In der aktuellen Diskussion über den Islam wird von Muslimen und auch von Nicht-Muslimen häufig behauptet, dass der Islamismus ein „Missbrauch“ des Islam sei. Andere bestreiten gar, dass er überhaupt etwas mit Islam zu tun habe. Manche Feinde des Islam halten dagegen, dass sich der Islamismus zwangsläufig aus dem Islam entwickeln müsse, weil der Islam seinem „Wesen“ nach undemokratisch und gewaltfördernd sei. Beide Seiten glauben genau zu wissen, was der „wahre Islam“ ist.1 Solche Positionen führen jedoch zu keiner sachlichen Diskussion über den Islamismus. Es gibt keine geschichtliche Notwendigkeit, dass aus dem Islam Islamismus wird, aber es besteht die Möglichkeit. Es kann also einen Islam ohne Islamismus, aber keinen Islamismus ohne Islam geben. Für den Zusammenhang von Islam und Islamismus ist es wichtig zu wissen, dass der „Islam“ (= „Hingabe“, „Ergebung“) nicht nur eine Religion ist, sondern immer auch ein politisches Projekt der Gesellschaftsveränderung.

 

Die geistigen Ursprünge, Grundorientierungen und Ziele des Islamismus lassen sich auf vier Grundmerkmale zuspitzen. Der Islamismus ist eine

1. politisch-extremistische Herrschaftsideologie, deren Kern eine Ideologie der Ungleichheit bildet: Andere Religionen, Weltanschauungen und Lebensorientierungen werden abgewertet, und ihnen wird eine gleichberechtigte Existenz neben dem Islam, der als die einzig „wahre“ Religion verstanden wird, verweigert. Politische Herrschaft wird aus der Religion (Scharia) begründet. Universale Menschenrechte, so wie sie in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 formuliert sind, werden als „unislamisch“ zurückgewiesen und das Prinzip der Säkularität, d.?h. der Trennung von Staat und Religion, verworfen;

2. politische Protest- und Oppositionsbewegung gegen muslimische diktatorische Regime, die als „unislamisch“ verurteilt werden („der nahe Feind“), und gegen „den Westen“ als die Verkörperung der „islamfeindlichen“, „ungläubigen“ Mächte („der ferne Feind“);

3. soziale Bewegung, die soziale Dienstleistungen (z.?B. Arbeit, Bildung, Kultur, Freizeit) anbietet, nicht zuletzt um Sympathisanten für die Bewegung und Rekruten für den „dschihad“ zu gewinnen;

4. global-transnationale (virtuelle) Diskursgemeinschaft („Islamismus 2.0“), ein Bildungs- und Informationsnetzwerk sowie eine operative Agentur islamistischer Aktivisten.

 

Die ideologischen Grundprinzipien und die daraus folgenden Politikentwürfe des Islamismus sind eine Spielart des politischen Extremismus. Uwe Backes und Eckhard Jessen bestimmen politischen Extremismus als „Absage an fundamentale Werte, Verfahrensregeln und Institutionen demokratischer Verfassungsstaaten“. Der politische Extremismus formuliert auf der ideologischen Ebene einen dogmatischen, absoluten Wahrheitsanspruch, folgt Freund-Feind-Stereotypen, lehnt gesellschaftlichen Pluralismus ab und sucht seine Ziele mit ausgeprägtem Missionsbewusstsein durchzusetzen.2 Mit Hannah Arendt können wir den Islamismus auch zugespitzt als eine „totalitäre Ideologie“ bezeichnen. Totalitäre Ideologien erheben einen „Anspruch auf totale Welterklärung […] und zwar totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen und verlässliches Vorhersagen des Zukünftigen.“3 Die Islamisten verstehen den Islam als die große, absolut wahre Erzählung von der Erschaffung der Welt, dem Willen Allahs in Bezug auf die Bestimmung des Menschen und dem Ende der Welt (Jüngstes Gericht). Sie erheben den Anspruch, die göttlich gesetzten Normen und Regeln muslimischer Lebensweise zu kennen und die für die Errichtung eines islamischen Staats- und Gemeinwesens notwendigen religiösen und politischen Strategien richtig einzusetzen. Die Islamisten betonen die „Einheit und Einzigkeit Allahs“ („tawhid“) und seine souveräne Herrschaft, die sich in der Harmonie von Glauben und Leben, Religion und Politik in der islamischen Gemeinschaft („umma“) ausdrücken soll.

Das islamistische Credo brachte der marokkanische Imam Mohammed Fazazi in einer seiner berüchtigten Predigten im Jahre 2000 in der Hamburger Al-Quds-Moschee auf den Punkt: „Die islamische Religion ist umfassend, vollständig, widerstandsfähig, komplett und vollkommen. Und sie mischt sich ausnahmslos in alle Bereiche des Lebens ein. Der Islam hat Antworten auf jede Frage und für alles ein besonderes Programm.“4 Fazazi formulierte das grundlegende Prinzip des Islamismus: „Der Islam ist die Lösung!“

In der Wissenschaft und im öffentlichen Diskurs werden die Begriffe „Fundamentalismus“ und „Islamismus“ häufig als Synonyme verwendet. Doch wie sich nun „Fundamentalisten“ von „Islamisten“ unterscheiden, das ist ein wenig fruchtbarer Streit um Begriffe. Am besten unterscheiden wir Fundamentalisten und Islamisten durch ihre Einstellung zur politischen Aktion. Vereinfacht gesagt: Die Fundamentalisten erhoffen die „(Re-)Islamisierung“ ihrer für defizitär gehaltenen islamischen Gesellschaften und der Welt der „Ungläubigen“ in erster Linie von der friedlichen „Einladung“ zum Islam („da’wa“). Die Annäherung an dieses Ziel geschieht in variablen Formen, z.?B. durch die schrittweise Ausweitung islamkonformer Lebensweisen, die begrifflich als „Anerkennungs“- und „Identitätspolitik“ beschrieben werden kann.5 Die Islamisten verleihen dieser „Einladung“ („da’wa“) eine besondere politische Dynamik: Der „wahre“ Islam soll in erster Linie mit politischen Mitteln durchgesetzt werden, ggf. auch mit Gewalt. Auf eine kurze Formel gebracht: Islamismus ist Fundamentalismus in politischer Aktion mit dem Ziel der „islamgemäßen“ Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Errichtung eines islamischen Staates. Der Islamismus basiert aber auf Grundprinzipien des religiösen Fundamentalismus. Die Islamisten folgen einem buchstäblichen – gleichwohl selektiven – Verständnis des Koran (als das unerschaffene, unveränderbare, zeitlos geltende Wort Gottes) und verwerfen Ansätze eines historisch-kritischen Koranverständnisses als „bid’a“ („Neuerung“) oder „Unglauben“.

Bislang ist der Islamismus von keiner religiösen Autorität im Islam als „unislamisch“ verworfen worden. Auch Islamisten werden als Muslime gesehen, denn gemeinsam mit allen Muslimen folgen sie den religiösen Hauptpflichten des Islam (Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Fasten, Almosengeben und Wallfahrt nach Mekka) und den sechs zu glaubenden Wahrheiten (an Allah als den Einen und Einzigen – „tawhid“ –, die Propheten, die Bücher, die Engel, das Schicksal und den Jüngsten Tag).

Im wissenschaftlichen Diskurs finden wir verschiedene Vorschläge, unter den Islamisten (idealtypische) Differenzierungen zu treffen, so z.?B. nach „geo-kulturellen“ Trends oder „Familien“: So gebe es eine „indisch-sunnitische“ Familie, die ganz wesentlich aus dem Denken und den Lehren des indischen Journalisten Sayyid Abu A’la Maududi (1903–1979) und seiner Partei Jama’at-e-Islami schöpfe, eine „iranisch-schiitische“, begründet von Ayatollah Ruhollah Mussawi Khomeini (1900–1989), und schließlich eine „arabisch-sunnitische“, deren herausragende Repräsentanten Hasan al-Banna (1906–1949), der Gründer der Muslimbruderschaft, und deren Chefideologe Sayyid Qutb (1906–1966) gewesen seien.6 Eine andere Systematik schlagen Wissenschaftler des Kairoer „Al-Ahram Center for Political and Strategic Studies“ vor: Sie unterscheiden grundsätzlich zwischen „religiösen islamistischen“ und „soziopolitischen Bewegungen mit einer islamistischen Plattform“.7 Den „religiösen islamistischen“ Bewegungen ordnen sie Gruppen zu, die entweder den Islam „friedlich“ durch Mission verbreiten möchten oder die die erstrebte Transformation mit Gewalt durchsetzen wollen („Jihadi-Gruppen“). Die „Jihadis“ wiederum werden nach ihren grundlegenden politischen Zielen und der Reichweite ihrer Aktivitäten unterschieden: Es gebe „lokale“ Gruppen, die sich auf den Kampf gegen ihre vermeintlich „unislamischen“ und ungerechten Regierungen beschränkten (wie z.?B. die ägyptische Jama’a al-Islamiya). Wieder andere strebten als Minderheit in einem nicht-islamischen Land nach Separation (Kaschmir, Tschetschenien). Schließlich gebe es die global operierenden Dschihadisten wie z.?B. Al-Qaida. Die „soziopolitischen“ Bewegungen werden nur nach dem Kriterium der Gewaltanwendung eingeteilt: friedlich oder militant.

Diese Typologie ist zwar anregend, wirft aber Abgrenzungsfragen auf, vor allem im Blick auf die intendierte Reichweite der Bewegungen („lokal“ und/oder „global“), die Bedeutung der Religion für die politische Ideologie und die Einteilung nach dem Merkmal „friedlich“ bzw. „militant“. Sind die schiitische Hisbollah im Libanon und die „radikalislamische“ Hamas nur „lokale“ Gruppen, weil sie ihre Gewalt auf die Region konzentrieren, oder sind sie nicht mit ihren als Wohlfahrtsorganisationen getarnten Netzwerken sowie ihren virtuellen Botschaften im Fernsehen und im Internet (z.?B. Al-Manar, Hamas-TV, Al-Aqsa Tube) zugleich globale ideologische Player im weltweiten „dschihad“? So beziehen sich die „soziopolitischen“ Gruppen doch ebenso wie die „religiösen“ auf die Religion des Islam,...