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Berühre mich. Nicht.

Laura Kneidl

 

Verlag LYX, 2017

ISBN 9783736306097 , 462 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

1. Kapitel


Ich habe keine Angst.

Die Angst ist nicht real.

In meinem Kopf wiederholte ich die Worte wieder und wieder in der Hoffnung, mein Verstand würde diese irrationale Empfindung eines Tages auslöschen. Nur war dieser Tag nicht heute.

Ich wischte mir die feuchten Handflächen an der Jeans ab und atmete tief ein und wieder aus. Die Luft in der Bibliothek war trocken und kühl von der Klimaanlage. Es roch nach Staub und dem Leim, der benutzt wurde, um beschädigte Buchrücken zu kleben.

»Was kann ich für Sie tun?«

Ich blinzelte und trat mit weichen Knien einen Schritt vor. Der Bibliothekar, der hinter der Theke auf meine Antwort wartete, hatte dunkles Haar, und ein Bartschatten umspielte seinen Kiefer, als hätte er am Morgen keine Zeit mehr gehabt, sich zu rasieren. Er hatte dicke Finger mit abgekauten Nägeln und trug einen Ehering aus Gold. Er lächelte mich an.

Ich erwiderte das Lächeln nicht, sondern ließ stattdessen eine Strähne meines braunen Haars vor mein Gesicht fallen. In der rechten Hand konnte ich das verräterische Kribbeln einer herannahenden Panikattacke spüren. Normalerweise wurden diese nicht von so alltäglichen Situatione wie dieser ausgelöst, aber die neue Umgebung förderte meine Anfälle. Ich schluckte schwer und wollte antworten, doch die Worte, die ich mir am Morgen zurechtgelegt hatte, kamen mir nicht über die Lippen. Unbeholfen deutete ich auf das Schild, das neben der Theke angebracht war: Aushilfe(n) für Magazin-Katalogisierung gesucht.

Der Bibliothekar musterte mich eingehend, und ich verfluchte das Semester, das offiziell erst in einer Woche beginnen würde. In diesem Moment hätte ich mir ausnahmsweise die Anwesenheit anderer Studenten gewünscht. Eigentlich mochte ich Menschenansammlungen nicht sonderlich, und für gewöhnlich mied ich sie, dennoch war ich lieber eine von vielen, anstatt im Mittelpunkt zu stehen. Doch mit Ausnahme einiger weniger Besucher war die Bibliothek leer und ich die einzige Person an der Infotheke, sodass der Bibliothekar nur mich ansehen konnte.

»Sie wollen sich für den Aushilfsjob bewerben?«

»Ja.« Meine Stimme war ein heiseres Flüstern.

Hinter seiner Brille zog der Bibliothekar die Augenbrauen zusammen. Ich kannte diesen Ausdruck, ich hatte ihn schon auf Hunderten von Gesichtern gesehen. Sie alle hielten mich für durchgeknallt oder krankhaft schüchtern. Ich war weder das eine noch das andere, aber ich ließ die Leute gern in dem Glauben. Alles war besser, als wenn sie die Wahrheit kannten.

»Studieren Sie hier?«

Ich nickte.

Der Bibliothekar sah auf seinen Computerbildschirm. »Und wie heißen Sie?«

Mein Name.

Ich kannte meinen Namen.

Ich musste ihn nur aussprechen.

»Sage Derting.«

Der Bibliothekar tippte ihn in das System. »Gefunden.« Er runzelte die Stirn. »Sie haben keine aktuelle Adresse hinterlegt. Ich nehme an, Sie wohnen nicht mehr in Maine?«

Ich schüttelte den Kopf. Die Erinnerung daran, wie weit ich von Maine entfernt war, ließ etwas von meiner Panik weichen. Ziel meiner Reise war es gewesen, meinem alten Leben zu entkommen, und das war mir gelungen. Monatelang hatte ich meiner Flucht entgegengefiebert und alles in meiner Macht Stehende getan, um genügend Geld zusammenzukratzen, um hierherkommen zu können. Doch Benzin, Snacks, eine Übernachtung im Hostel, ein platter Reifen und ein Ölwechsel hatten mich auf der fast dreitausend Meilen langen Fahrt alles gekostet, und mein Kontostand näherte sich dem Nullpunkt. Deshalb brauchte ich diesen Job unbedingt. Ich hatte in der vergangenen Woche schon zu viele Absagen kassiert, um mir auch diese Chance entgehen zu lassen.

Ich räusperte mich. »Ich bin noch auf Wohnungssuche.« Die Lüge kam mir leicht über die Lippen, und der Bibliothekar stellte sie nicht infrage.

Er wühlte unter der Theke, zog ein Formular hervor und schob es mir über den Tresen zu. »Sie sind spät dran, aber wir haben uns noch für niemanden entschieden. Gehen Sie geradeaus bis zur Reihe G, dann links. Sie haben eine halbe Stunde, bis wir schließen.« Er hielt mir einen Stift mit dem Logo der Universität entgegen.

Ich betrachtete den Kugelschreiber und schätzte ab, wie nahe meine Finger seinen kommen würden, wenn ich danach griff. Fünfzehn Zentimeter. Es wäre keine direkte Berührung, käme dem allerdings sehr nahe.

»Ich habe etwas zum Schreiben dabei«, erwiderte ich, nahm das Formular an mich und eilte davon.

Das Kribbeln in meiner Hand ließ nach, als ich dem breiten Gang bis zu den Arbeitsplätzen im hinteren Bereich der Bibliothek folgte. Ein paar früh angereiste Studenten standen vereinzelt zwischen den massiven Holzregalen. Ich nahm jeden Einzelnen von ihnen wahr, doch während ich den Frauen kaum Beachtung schenkte, betrachtete ich die Männer ganz genau. Sie alle waren mit ihren Büchern oder Laptops beschäftigt und schienen mich nicht einmal zu bemerken.

Ich bog nach links in Reihe G ab und entdeckte mehrere Tische aus demselben dunklen Holz wie die Regale. An einem Ende saßen sich zwei Typen gegenüber. Derjenige der beiden, der mir den Rücken zugewandt hatte, hatte sich über ein Buch gebeugt und die Hände resigniert in die Haare geschoben, als würde er kein Wort von dem, was er da las, verstehen. Der andere kaute gedankenverloren auf seinem Bleistift herum und trommelte mit den Fingern der anderen Hand nervös auf die Tischplatte. Ein Teil von mir registrierte, dass er gut aussah. Seine Haut hatte eine natürliche Bräune, seine Haare waren rabenschwarz und das T-Shirt, das sich über seinen Bizepsen spannte, zeigte deutlich, dass er seine Zeit nicht nur in der Bibliothek verbrachte. Doch der Teil von mir, der wider jede Logik handelte, ließ mich in die entgegengesetzte Richtung laufen. Am anderen Ende der Reihe ließ ich mich auf einen freien Platz neben einem Mädchen fallen.

Sie blickte von ihrem Buch auf und runzelte die Stirn. »Hallo?«, fragte sie skeptisch.

»Hey.« Ich lächelte. »Kannst du mir einen Stift leihen?«

»Klar.« Sie griff in ihren Rucksack und reichte mir einen Kugelschreiber, der genauso aussah, wie der, den mir der Bibliothekar zuvor angeboten hatte.

Ich nahm ihn, ohne zu zögern. »Danke.«

»Du bewirbst dich um einen Aushilfsjob?« Sie deutete auf das Formular, das vor mir auf dem Tisch lag, und sofort fielen mir die Armbänder an ihrem Handgelenk auf. Sie waren aus Leder gebunden, mit eingeflochtenen Steinchen und goldenen Elementen, die den braunen Schnüren etwas Elegantes und Weibliches verliehen.

Ich nickte. »Hast du dich auch beworben?«

»Nein, in staubigen Kellern abzuhängen ist nicht so mein Ding. Ich habe eine Zusage vom Bistro auf dem Süd-Campus bekommen. Le Petit.« Sie sprach den Namen übertrieben französisch aus. »Kennst du es?«

»Ja, ich bin schon daran vorbeigelaufen.«

Ich hatte dem Bistro einen Besuch abgestattet, nachdem ich eine Stellenanzeige dafür am Schwarzen Brett entdeckt hatte. Allerdings hatte ich den Gedanken, mich dort zu bewerben, sofort wieder verworfen. Die Tische im Innenraum standen so eng beisammen, dass man sich unmöglich ohne Körperkontakt zwischen den Gästen hindurchbewegen konnte. Zudem war der Laden unübersichtlich und der Besitzer ziemlich Angst einflößend, mit seinen breiten Schultern und dem verschlossenen Gesicht.

»Ich bin übrigens April«, stellte sich das Mädchen vor. Sie hatte blonde Haare, die ihr in sanften Wellen über die Schultern fielen und ihr schmales Gesicht betonten. Mir wurde bewusst, dass sie die erste Person in meinem Alter war, mit der ich seit meiner Ankunft in Melview sprach.

»Sage.«

»Freut mich, dich kennenzulernen.« April schob ihren Block in das Buch und schloss es. »Studierst du im ersten Semester?«

Ich nickte. »Du auch?«

»Jup. Ich bin vor zwei Wochen hergezogen und büffle mich gerade durch die Vorkurse. Reicht es nicht, während des Semesters gequält zu werden?« Sie seufzte.

Ich lächelte sie mitfühlend an. »Woher kommst du?«

»Brinson. Eine Kleinstadt auf der anderen Seite des Sees, etwa hundert Meilen von hier.« Melview lag in der Nähe des Lake Tahoe, und nur ein paar Wälder trennten die Stadt und das College von dem See, der von zahlreichen Naturschutzgebieten umgeben war. »Kommst du von hier?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aus Maine.«

»Wow, da bist du ganz schön weit weg von zu Hause.«

Ich zuckte mit den Schultern und senkte den Blick auf das Bewerbungsformular. Wäre es nach mir gegangen, hätte die Distanz noch größer sein können. Was natürlich schwachsinnig war. Dreitausend Meilen waren mehr als genug, dennoch gefiel mir die Vorstellung von einem Ozean zwischen mir und meiner Vergangenheit.

»Ich wollte mal in den Westen der USA«, sagte ich ausweichend.

»Und wieso nicht gleich Kalifornien?«

»Die UCLA hat mich abgelehnt.«

»Schade, aber hey, jetzt bist du hier, und wir haben uns kennengelernt. Also kein Grund, traurig zu sein.« April grinste mich an, als das Handy, das neben ihr auf dem Tisch lag, zu vibrieren begann. Ihr Lächeln verschwand, und sie öffnete die eingegangene Nachricht mit einem Seufzen. »Ich muss los, meinen Bruder abholen. Es wird Zeit, dass er endlich seinen Führerschein macht.« Sie packte ihre Unterlagen zusammen und stopfte sie in ihren schwarzen Rucksack. »Es war nett, dich kennenzulernen, Sage. Willst du mir vielleicht deine Handynummer geben?«

»Gerne.« Wir tauschten unsere Nummern aus, und April wünschte mir viel...