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Die Gabe der Auserwählten - Die Chroniken der Verbliebenen. Band 3

Mary E. Pearson

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN 9783732549443 , 349 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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DIE DUNKELHEIT WAR etwas Schönes. Der Kuss eines Schattens. Eine Liebkosung, so zart wie Mondlicht. Sie war immer mein Schutz gewesen, ob ich nun auf einem von Sternen beleuchteten Dach herumschlich oder mich bei Mitternacht eine Gasse entlangstahl, um meine Brüder zu treffen. Die Dunkelheit ließ mich die Welt vergessen, in der ich lebte, und lockte mich, von einer anderen zu träumen.

Auf der Suche nach ihrem Trost ließ ich mich tiefer fallen. Süßes Gemurmel rührte mich. Nur die Sichel eines goldenen Mondes schien in dem flüssigen Dunkel, schwebend, schaukelnd, immer in Bewegung und immer außerhalb meiner Reichweite. Sein wechselndes Licht erhellte eine Wiese. Ich schöpfte neuen Mut. Ich sah Walther mit Greta tanzen. Gleich hinter ihnen drehte sich Aster zu einer Musik, die ich nicht genau hören konnte, und langes Haar floss ihr dabei über die Schultern. War dies schon das Fest der Befreiung? Aster rief mir zu: Beeilung, Prinzess! Dunkle Farben wirbelten umher; ein Sprühregen aus Sternen wurde violett; die Ränder des Mondes lösten sich am schwarzen Himmel auf wie Zucker in einem Wasserglas; die Dunkelheit wurde undurchdringlich. Warm. Willkommen. Weich.

Wenn nicht dieses Rempeln gewesen wäre.

Das rhythmische Schütteln kehrte wieder und wieder. Es wollte etwas.

Bleib.

Diese Stimme, die nicht loslassen wollte. Kalt und grell und scharf.

Halte dich fest.

Eine breite, harte Brust, eisiger Atem, als meine Augen aufgingen, eine Stimme, die immer wieder die Decke wegzog, Schmerz, der sich so betäubend auf mich stürzte, dass ich keine Luft bekam. Die schreckliche Helligkeit, die aufblitzte, mir in die Augen stach und endlich schwand, als ich nicht mehr konnte.

Wieder Dunkelheit, die mich einlud, doch zu bleiben. Kein Atem. Kein gar nichts.

Als ich auf halbem Weg zwischen der einen und der anderen Welt war, erlebte ich einen Moment der Klarheit.

Dies war Sterben.

*

LIA!

Ich wurde erneut der tröstlichen Dunkelheit entrissen. Die wohlige Wärme wurde unerträglich heiß. Weitere Stimmen waren zu hören. Barsch. Schreiend. Laut. Zu viele Stimmen.

Das Sanctum. Ich war wieder im Sanctum. Soldaten, Statthalter … der Komizar.

Meine Haut brannte, stach wie Feuer, war feucht vor Hitze.

Lia, mach die Augen auf. Sofort.

Befehle.

Sie hatten mich aufgespürt.

»Lia!«

Ich riss die Augen auf. In dem Raum wirbelten Feuer und Schatten, Fleisch und Gesichter. Ich war umzingelt. Ich versuchte zurückzuweichen, doch ein sengender Schmerz raubte mir den Atem. Sterne tanzten vor meinen Augen.

»Lia, beweg dich nicht.«

Und dann ein Durcheinander von Stimmen. Sie ist zu sich gekommen. Haltet sie fest. Lasst sie nicht aufstehen.

Ich zwang einen flachen Atemzug in meine Lungen, und mein Blick wurde scharf. Ich betrachtete die Gesichter, die auf mich herabstarrten. Statthalter Obraun und sein Leibwächter. Es war kein Traum. Sie hatten mich geschnappt. Und dann drehte eine sanfte Hand meinen Kopf zur Seite.

Rafe.

Er kniete neben mir.

Ich sah zurück zu den anderen, und da fiel es mir wieder ein. Statthalter Obraun und seine Leibwächter hatten auf unserer Seite gekämpft. Sie hatten uns bei der Flucht geholfen. Aber warum? Neben ihnen sah ich Jeb und Tavish.

»Statthalter«, flüsterte ich, aber ich war zu schwach, um mehr zu sagen.

»Sven, Eure Hoheit«, sagte er und beugte das Knie. »Bitte nennt mich Sven.«

Der Name klang vertraut. Ich hatte ihn in fieberhaften, verworrenen Momenten gehört. Rafe hatte ihn Sven genannt. Ich blickte mich um und versuchte, mich zu orientieren. Ich lag auf einer Bettrolle auf dem Boden. Schwere Decken, die nach Pferd rochen, lasteten auf mir. Satteldecken.

Ich versuchte, mich auf einen Ellbogen hochzustemmen, aber wieder durchfuhr mich Schmerz. Ich fiel zurück, während der Raum sich drehte.

Wir müssen die Pfeilspitzen herausholen.

Sie ist zu schwach.

Das Fieber verbrennt sie. Sie wird nur noch schwächer werden.

Die Wunden müssen gereinigt und genäht werden.

Ich habe noch nie ein Mädchen genäht.

Fleisch ist Fleisch.

Ich lauschte ihrem Gespräch, und die Erinnerung kam wieder. Malich hatte auf mich geschossen. Einen Pfeil in den Oberschenkel und einen in den Rücken. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass ich am Flussufer lag und Rafe mich auf die Arme nahm, um mich zu tragen. Seine Lippen waren so kühl auf meinen. Wie lange war das her? Und wo waren wir jetzt?

Sie ist stark genug. Mach schon, Tavish.

Rafe nahm mein Gesicht in seine Hände und beugte sich zu mir herunter. »Lia, die Pfeilspitzen stecken tief. Wir werden die Wunden aufschneiden müssen, um sie herauszuholen.«

Ich nickte.

Seine Augen glänzten. »Du darfst dich nicht bewegen. Ich muss dich festhalten.«

»Ist schon in Ordnung«, flüsterte ich. »Ich bin stark. Wie ihr selbst sagt.« Ich konnte selbst hören, dass meine schwache Stimme meine Worte Lügen strafte.

Sven fuhr zurück. »Ich wünschte, ich hätte Branntwein für Euch, Mädchen.« Er reichte Rafe etwas. »Steck ihr das zwischen die Zähne, damit sie draufbeißen kann.«

Ich wusste, warum – ich sollte nicht schreien. War der Feind in der Nähe?

Rafe schob mir eine Lederscheide in den Mund. Kühle Luft strich über mein nacktes Bein, als Tavish die Decke zurückschlug, um meinen Oberschenkel zu entblößen. Ich spürte, dass ich unter der Decke nur wenig anhatte. Ein Hemd, wenn überhaupt. Sie mussten mir das durchweichte Kleid ausgezogen haben.

Tavish murmelte eine Entschuldigung, verschwendete aber weiter keine Zeit. Rafe drückte meine Arme zu Boden, und jemand anders tat dasselbe mit meinen Beinen. Das Messer grub sich in meinen Oberschenkel. Meine Brust zitterte. Ein Stöhnen drang zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mein Körper wand sich gegen meinen Willen in Zuckungen, und Rafe musste noch mehr Kraft aufwenden. »Sieh mich an, Lia. Schau nicht weg. Es ist bald vorbei.«

Ich bohrte meinen Blick in das strahlende Blau seiner Augen. Sein Blick brannte wie Feuer. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Das Messer suchte sich seinen Weg, und ich blinzelte. Erstickte Schreie entrangen sich meiner Kehle.

Sieh mich an, Lia.

Bohren. Schneiden.

»Ich hab sie!«, rief Tavish endlich.

Ich konnte nur noch keuchen. Jeb wischte mir mit einem kühlen Lappen übers Gesicht.

Gut gemacht, Prinzessin, hörte ich von jemandem, den ich nicht kannte.

Das Nähen war ein Kinderspiel im Vergleich zum Schneiden und Bohren. Ich zählte jeden Stich mit. Es waren vierzehn.

»Und jetzt zu Eurem Rücken«, sagte Tavish. »Das wird ein bisschen schlimmer.«

*

Als ich aufwachte, schlief Rafe neben mir. Sein Arm lag schwer auf meinem Bauch. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, dass sich Tavish an meinem Rücken zu schaffen gemacht hatte; ich wusste nur noch, dass er gesagt hatte, die Pfeilspitze stecke in einer Rippe fest, und das habe mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich hatte das Schneiden, das Bohren und den Schmerz so grell gespürt, dass mir die Sinne schwanden. Endlich hatte Rafe mir wie aus himmelweiter Entfernung ins Ohr geflüstert: Sie ist draußen.

Nicht weit von mir brannte ein kleines Feuer in einem Steinkreis. Es beleuchtete die Mauer dahinter, aber der Rest unseres Unterschlupfs blieb im Dunkeln. Es war eine Art große Höhle. Ich hörte das Wiehern der Pferde. Sie waren hier drin bei uns. Auf der anderen Seite des Feuerkreises sah ich Jeb, Tavish und Orrin in ihren Bettrollen schlafen, und gleich links neben mir saß Statthalter Obraun gegen die Höhlenwand gelehnt. Nein, nicht Obraun … Sven.

Mit einem Schlag begriff ich: Dies waren Rafes vier Männer. Jene vier, in die ich kein Vertrauen gehabt hatte – Statthalter, Leibwächter, Stallbursche und Floßbauer. Ich wusste nicht, wo wir waren, aber gegen alle Widerstände hatten sie uns irgendwie über den Fluss gebracht. Uns alle. Lebendig. Außer …

Ich bekam Kopfschmerzen, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Für unsere Freiheit hatten andere einen hohen Preis zahlen müssen. Wer war gestorben, und wer hatte das Blutbad überlebt?

Ich versuchte, Rafes Arm von meinem Bauch zu schieben, damit ich mich aufsetzen konnte, aber selbst diese kleine Regung sandte grelle Schmerzblitze in meinen Rücken. Sven beugte sich vor, alarmiert durch meine Bewegung, und flüsterte: »Nicht aufstehen, Eure Hoheit. Es ist noch zu früh.«

Ich nickte und atmete vorsichtig, bis der Schmerz abklang.

»Eure Rippe ist wahrscheinlich durch die Wucht des Pfeils angebrochen, und vielleicht habt Ihr Euch im Fluss noch mehr Knochen gebrochen. Ruht Euch aus.«

»Wo sind wir?«, fragte ich.

»In einem kleinen Versteck, in dem ich vor vielen Jahren untergeschlüpft bin. Ich bin froh, dass ich es überhaupt gefunden habe.«

»Wie lange war ich bewusstlos?«

»Zwei Tage. Es ist ein Wunder, dass Ihr noch lebt.«

Mir fiel ein, dass ich im Fluss versunken war. Ich hatte um mich geschlagen, war hochgespült worden, hatte hastig Luft geholt und war dann wieder nach unten gezogen worden. Meine...