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Save Us

Mona Kasten

 

Verlag LYX, 2018

ISBN 9783736306752 , 374 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

1


Graham

Mein Großvater hat mich früher immer gefragt: Wenn der Tag kommt, an dem du alles verlierst – was wirst du tun? Ich habe nie ernsthaft über die Antwort auf diese Frage nachgedacht, sondern immer das gesagt, was mir im jeweiligen Moment als Erstes in den Sinn gekommen ist.

Als ich sechs Jahre alt war und mein Bruder meinen Spielzeugbagger absichtlich kaputt gemacht hat, war es: Dann werde ich den Bagger reparieren.

Mit zehn, als wir von Manchester in die Nähe von London gezogen sind, habe ich trotzig gesagt: Dann suche ich mir eben neue Freunde.

Und als meine Mum gestorben ist und ich als Siebzehnjähriger versucht habe, für meinen Dad und meinen Bruder stark zu sein: Wir werden das schaffen.

Selbst damals war Aufgeben keine Option für mich.

Doch jetzt, mit fast vierundzwanzig Jahren, in diesem Büro, in dem ich mich plötzlich wie ein Krimineller fühle, habe ich keine Antwort mehr. Meine Situation kommt mir in diesem Moment ausweglos vor, meine Zukunft ungewiss. Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll.

Ich ziehe die quietschende Schublade des schweren Kirschholzschreibtisches auf und krame die Stifte und Notizblöcke heraus, die im vergangenen Jahr dort ihren Platz gefunden haben. Meine Bewegungen sind langsam, meine Arme bleiern. Dabei muss ich mich beeilen: Ich soll das Gebäude verlassen, bevor die Mittagspause zu Ende ist.

Sie sind mit sofortiger Wirkung suspendiert. Ich untersage Ihnen jeglichen Kontakt zu Schülern der Maxton Hall. Sollten Sie gegen dieses Verbot verstoßen, wird Anzeige gegen Sie erstattet.

Die Stifte fallen mir aus der Hand und landen klackernd auf dem Boden.

Verfluchter Mist.

Ich bücke mich, sammle sie auf und schmeiße sie achtlos zu den restlichen Habseligkeiten, die ich in einem Karton verstaut habe. Es ist ein wildes Durcheinander an Notizen, Lehrbüchern, dem alten Globus meines Großvaters und Unterrichtsmaterial, das ich für morgen kopiert habe und jetzt eigentlich wegwerfen müsste, es aber nicht über mich bringe.

Ich sehe mich in dem Büro um. Die Regale sind leer geräumt, einzig ein paar Papierfetzen auf dem Schreibtisch und die verschmutzte Unterlage lassen darauf schließen, dass ich hier bis vor wenigen Stunden noch Arbeiten korrigiert habe.

Du bist selbst schuld, erklingt eine gehässige Stimme in meinem Kopf.

Ich reibe mir über die pochende Schläfe und kontrolliere danach ein letztes Mal alle Schubladen und Fächer im Schreibtisch. Ich sollte meinen Abschied nicht länger hinauszögern als nötig, aber es kostet mich mehr Kraft, mich von diesem Raum zu lösen, als ich gedacht hätte. Ich habe schon vor Wochen den Entschluss gefällt, mir einen Job bei einer anderen Schule zu suchen, um mit Lydia zusammen sein zu können. Doch es besteht immer noch ein gewaltiger Unterschied darin, das Arbeitsverhältnis zu eigenen Bedingungen zu verlassen oder vom Sicherheitsdienst nach draußen eskortiert zu werden.

Ich schlucke hart und nehme den Mantel von dem hölzernen Garderobenständer. Mechanisch ziehe ich ihn mir über, danach schnappe ich mir den Karton und gehe zur Tür. Ohne mich ein weiteres Mal umzusehen, verlasse ich das Büro.

In meinem Kopf überschlagen sich Fragen: Weiß Lydia es schon? Wie geht es ihr? Wann werde ich sie das nächste Mal sehen? Was soll ich jetzt tun? Wird mich jemals wieder eine Schule als Lehrer einstellen? Was, wenn nicht?

Doch ich kann die Antworten darauf jetzt auf keinen Fall ergründen. Stattdessen dränge ich die in mir aufsteigende Panik zurück und gehe durch den Flur in Richtung Sekretariat, um meinen Schlüsselbund abzugeben. Schüler laufen an mir vorbei, manche von ihnen grüßen mich freundlich. Ein schmerzhaftes Stechen erfüllt meinen Bauchraum. Nur mit Mühe schaffe ich es, ihr Lächeln zu erwidern. Es hat mir großen Spaß gemacht, hier zu unterrichten.

Ich biege in den Flur des Sekretariats, und mit einem Mal fühlt es sich an, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Ich bleibe so abrupt stehen, dass mich jemand von hinten anrempelt und sich murmelnd entschuldigt. Doch ich höre kaum hin – mein Blick ist auf den hochgewachsenen, rotblonden jungen Mann gerichtet, dem ich diese ganze Situation zu verdanken habe.

James Beaufort verzieht keine Miene, als er mich erblickt. Im Gegenteil, er sieht vollkommen unbeteiligt aus – als hätte er nicht gerade mein Leben zerstört.

Ich wusste, wozu er in der Lage ist. Und mir war klar, dass es keine gute Idee ist, ihn gegen mich aufzubringen. »Er und seine Freunde sind unberechenbar«, hat Lexington mich an meinem ersten Tag an der Schule gewarnt. »Nehmen Sie sich in Acht.« Ich habe seinen Worten kaum Beachtung geschenkt, weil ich damals bereits die andere Seite der Geschichte kannte. Lydia hatte mir erzählt, wie sehr dieser Junge unter dem Erbe seiner Familie leidet, wie verschlossen er sich selbst seiner Zwillingsschwester gegenüber gibt.

Im Nachhinein fühle ich mich so dumm, nicht vorsichtiger gewesen zu sein. Ich hätte wissen müssen, dass James für Lydia alles tun würde. Wahrscheinlich ist mein beruflicher Ruin in seinem Tagesablauf nicht mehr als eine Lappalie.

Neben James steht Cyril Vega, den ich glücklicherweise nie unterrichten musste. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen wäre, eine professionelle Fassade aufrechtzuhalten. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, erscheint ein Bild von ihm und Lydia vor meinen Augen. Wie sie gemeinsam die Schule verlassen und in einen Rolls-Royce steigen. Wie sie miteinander lachen. Wie er sie in den Arm nimmt und tröstet, während ich das nach dem Tod ihrer Mutter nie konnte.

Nach einem kurzen Moment beiße ich die Zähne fest zusammen und setze meinen Weg fort, den Karton unter den Arm geklemmt. Ich schließe die Hand fester um den Schlüssel in meiner Manteltasche, je näher ich den beiden komme. Sie haben das Gespräch, das sie geführt haben, unterbrochen und beobachten mich, ihre Gesichter zwei harte, undurchdringliche Masken.

Vor der Tür zum Sekretariat bleibe ich stehen und wende mich an James. »Bist du jetzt zufrieden?«

Er gibt keine Reaktion von sich, was die Wut in meinem Inneren weiter hochkochen lässt.

»Was habt ihr euch dabei nur gedacht?«, frage ich und sehe ihn auffordernd an. Wieder antwortet er nicht. »Ist euch eigentlich klar, dass ihr mit euren kindischen Streichen Existenzen zerstört?«

James wechselt einen Blick mit Cyril, und seine Wangen nehmen einen leichten Rotton an – genau wie bei seiner Schwester, wenn sie wütend wird. Die beiden sehen sich so verdammt ähnlich, dabei könnten sie meiner Ansicht nach kaum unterschiedlicher sein.

»Sie sind derjenige, der sich vorher hätte Gedanken machen müssen«, speit Cyril.

Seine Augen funkeln noch wütender als die von James, und mir kommt der Gedanke, dass sie vermutlich gemeinsam den Plan entwickelt haben, mich von der Schule schmeißen zu lassen.

Cyrils Blick lässt keinen Zweifel daran, dass er derjenige ist, der von uns beiden die Macht hat. Er kann alles mit mir machen, ganz gleich, ob ich älter bin als er. Er hat gewonnen, und er weiß es auch. Der Sieg steht ihm ins Gesicht geschrieben und spiegelt sich in seiner stolzen Haltung wider.

Ich stoße ein resigniertes Lachen aus.

»Es überrascht mich, dass Sie noch lachen können«, fährt er fort. »Es ist vorbei. Sie sind entlarvt – ist Ihnen das eigentlich klar?«

Ich schließe die Hand um den Schlüsselbund, so fest, bis die kleinen Metallzähne in meine Haut schneiden. Glaubt dieser reiche Bengel wirklich, ich wüsste das nicht? Ich wüsste nicht, dass es niemanden interessieren wird, wann und wo Lydia und ich uns kennengelernt haben? Dass uns niemand glauben wird, wenn wir beteuern, uns vor meiner Zeit an der Maxton Hall bereits gekannt und geliebt zu haben? Und wir unsere Beziehung in dem Moment beendet haben, als wir wussten, dass ich ihr Lehrer sein würde? Natürlich weiß ich das. Ab sofort und für alle Zeit werde ich der widerliche Typ sein, der während seiner Anfangszeit als Lehrer eine Affäre mit einer Schülerin hatte.

Bei dem Gedanken wird mir schlecht.

Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, gehe ich ins Sekretariat. Ich nehme den Schlüssel aus meiner Jackentasche, knalle ihn auf den Tresen und mache auf dem Absatz kehrt. Als ich wieder an den Jungs vorbeigehe, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Cyril James ein Handy in die Hand drückt. »Danke dafür, Mann«, höre ich ihn sagen, dann wende ich den Blick ab und gehe, so schnell ich kann, in Richtung Ausgang. Nur am Rande nehme ich wahr, dass James hinter mir laut wird.

Jeder Schritt schmerzt, jeder Atemzug kommt mir wie eine unlösbare Aufgabe vor. Ein Rauschen tritt in meine Ohren, das nahezu alle Geräusche übertönt. Das Lachen der Schüler, ihre hallenden Schritte, das Knarzen der doppelflügeligen Tür, durch die ich Maxton Hall verlasse und ins Ungewisse trete.

Ruby

Ich fühle mich wie betäubt.

Als die Busfahrerin mir sagt, dass wir bei der Endstation angekommen sind, weiß ich einen Moment lang überhaupt nicht, was das bedeutet – bis mir klar wird, dass ich aussteigen muss, wenn ich nicht den gesamten Weg zurück nach Pemwick fahren will. Ich habe keinerlei Erinnerung an die letzte Dreiviertelstunde, so sehr war ich in Gedanken versunken.

Meine Gliedmaßen fühlen sich schwer und kribbelig zugleich an, als ich die Stufen nach unten gehe und nach draußen trete. Ich klammere mich...