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Opferlämmer - Ein Lincoln-Rhyme-Thriller

Jeffery Deaver

 

Verlag Blanvalet, 2011

ISBN 9783641063078 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

... Eins


Im Kontrollzentrum des ausgedehnten Gebäudekomplexes der Algonquin Consolidated Power and Light am East River in Queens, New York, saß der Leiter der Frühschicht mit einem Becher Kaffee vor seinem Monitor und betrachtete stirnrunzelnd zwei blinkende rote Worte.

KRITISCHE STÖRUNG


Darunter wurde der exakte Zeitpunkt der Fehlermeldung angezeigt: 11:20:20:003.

Der Mann ließ den Pappbecher sinken – blau und weiß, mit ungelenken Abbildungen antiker griechischer Athleten – und setzte sich in seinem knarrenden Drehstuhl auf.

Die Mitarbeiter der Leitstelle saßen jeweils an eigenen Computerplätzen. Der große Raum war hell erleuchtet und wurde von einem riesigen Flachbildschirm dominiert, auf dem der Stromfluss des als Northeastern Interconnection bekannten Verbunds dargestellt wurde. Er versorgte New York, Pennsylvania, New Jersey und Connecticut. Architektur und Dekor des Kontrollzentrums waren ziemlich modern – für 1960.

Der Leiter hob den Blick zu der Tafel, auf der sich die Stromzufuhr der diversen im Land verstreuten Kraftwerke ablesen ließ: Dampfturbinen, Kernreaktoren und der hydroelektrische Damm bei den Niagarafällen. An einer winzigen Stelle dieses Leitungsgewirrs lief irgendetwas schief. Ein roter Kreis blinkte.

»Was ist da los?«, fragte der grauhaarige Leiter mit dem straffen Bauch unter dem kurzärmeligen weißen Hemd. Er hatte dreißig Jahre Erfahrung in der Strombranche und war in erster Linie neugierig. Es wurden zwar immer wieder mal Störungen angezeigt, aber wirklich kritische Zwischenfälle waren sehr selten.

»Angeblich eine vollständige Trennung«, antwortete ein junger Techniker. »MH-Zwölf.«

Das Umspannwerk 12 der Algonquin Consolidated – »MH« stand für Manhattan – war dunkel, unbemannt und schmutzig. Es lag in Harlem und war eine große Schaltanlage, die die eintreffenden 138 Kilovolt mit Hilfe von Transformatoren auf ein Zehntel reduzierte, aufteilte und weiterschickte.

Auf dem großen Bildschirm kam unter der nüchternen Störungsmeldung und der Zeitangabe eine weitere rot leuchtende Zeile hinzu.

MH-12 OFFLINE


Der Leiter tippte etwas in seinen Computer ein und musste an die Zeiten denken, als seine Arbeit noch mit Funkgeräten, Telefonen und ummantelten Schaltern erledigt wurde, umgeben von dem Geruch nach Öl, Messing und heißem Bakelit. Er las die komplizierten Textmeldungen, die über den Monitor scrollten. »Die Trenner wurden ausgelöst?«, sagte er leise wie zu sich selbst. »Warum? Die Last ist normal.«

Eine neue Meldung erschien.

MH-12 OFFLINE. UL AN BETROFFENES VERSORGUNGSGEBIET VON MH-17, MH-10, MH-13, NJ-18


»Die automatische Umleitung greift«, rief jemand unnötigerweise.

In den Vororten und auf dem Land ist das Elektrizitätsnetz offen sichtbar – von den hohen blanken Überlandleitungen zu den kleineren Strommasten und den Versorgungsleitungen, die zu den einzelnen Häusern verlaufen. Wenn eine Leitung ausfällt, lässt das Problem sich ohne große Schwierigkeiten finden und beheben. In vielen größeren Städten hingegen, so auch in New York, fließt der Strom unterirdisch durch isolierte Kabel. Da die Isolierung im Laufe der Zeit porös wird, kommt es zu Grundwasserschäden, die Kurzschlüsse und Stromausfälle bewirken. Aus diesem Grund sichern die Versorgungsunternehmen das Netz doppelt oder sogar dreifach ab. Als das Umspannwerk MH-12 ausfiel, deckte der Computer den Strombedarf automatisch durch die Kapazitätsumleitung von anderen Orten.

»Keine Aussetzer, kein Spannungsabfall«, rief ein anderer Techniker.

Der Strom im Netz lässt sich mit Wasser vergleichen, das über ein großes Rohr in ein Haus gelangt und dort aus zahlreichen offenen Hähnen fließt. Wird einer von ihnen geschlossen, nimmt der Druck auf allen anderen zu. Mit der Elektrizität verhält es sich genauso, nur dass sie wesentlich schneller als Wasser fließt – mit knapp 1,1 Milliarden Kilometern pro Stunde. Und da New York City sehr viel Strom benötigte, liefen die nun zusätzlich belasteten Umspannwerke mit hoher Spannung – dem elektrischen Äquivalent zum Wasserdruck.

Aber das System war darauf ausgelegt, und die Spannungsanzeigen befanden sich immer noch im grünen Bereich.

Was dem Leiter jedoch zu denken gab, war die Tatsache, dass MH-12 überhaupt vom Netz getrennt worden war. Die Trenner eines Umspannwerks werden meistens aus einem von zwei Gründen ausgelöst: entweder durch einen Kurzschluss oder durch eine Überlastung zu Spitzenzeiten – am frühen Morgen, während der Hauptverkehrszeiten und am frühen Abend oder bei hohen Temperaturen, wenn die durstigen Klimaanlagen ihren Saft verlangen.

Um 11:20:20:003 Uhr an einem milden Apriltag traf nichts von alldem zu.

»Schickt einen Störungssucher zu MH-Zwölf rüber. Vielleicht ein Kabelbruch. Oder ein Kurzer im …«

In diesem Moment blinkte ein zweites rotes Licht auf.

KRITISCHE STÖRUNG NJ-18 OFFLINE


Ein weiteres Umspannwerk, gelegen in der Nähe von Paramus, New Jersey, war vom Netz gegangen. Es gehörte zu denen, die für Manhattan-12 eingesprungen waren.

Der Leiter gab einen Laut von sich, der halb Lachen, halb Husten war. Die Verblüffung war ihm deutlich anzusehen. »Was, zum Teufel, geht hier vor? Die Last liegt innerhalb der Toleranzen. «

»Sensoren und Anzeiger alle in Ordnung«, rief einer der Techniker.

»Ein SCADA-Problem?«, fragte der Leiter. Algonquins Strom-Imperium wurde von einem ausgefeilten Überwachungs-und Datenerfassungsprogramm gesteuert, das auf riesigen UNIX-Computern lief. Das Akronym ergab sich aus der englischen Bezeichnung: Supervisory Control and Data Acquisition. Der legendäre Nordost-Blackout von 2003, der größte Stromausfall in der Geschichte Nordamerikas, war zum Teil durch eine Reihe von Softwarefehlern verursacht worden. Die Systeme von heute würden eine solche Katastrophe nicht mehr zulassen, aber das hieß natürlich nicht, dass nicht irgendeine andere Computerpanne auftreten konnte.

»Ich weiß es nicht«, sagte einer seiner Mitarbeiter langsam. »Aber ich schätze, das muss es wohl sein. Laut Diagnoseanzeige gibt es keine direkten Beschädigungen der Leitungen oder der Umspanntechnik.«

Der Leiter starrte den Bildschirm an und wartete auf den nächsten logischen Schritt: die Mitteilung, welches neue Umspannwerk – oder welche neuen Umspannwerke – einspringen würde(n), um die durch den Verlust von NJ-18 aufgetretene Versorgungslücke auszugleichen.

Doch es kam keine solche Mitteilung.

Die drei Umspannwerke in Manhattan – 17, 10 und 13 – machten allein weiter und versorgten zwei Gebiete der Stadt mit Strom, die ansonsten ausgefallen wären. Das SCADA-Programm tat nicht, was es hätte tun müssen: andere Umspannwerke zur Unterstützung hinzuschalten. Die Elektrizitätsmenge, die von jenen drei Stationen nun bewältigt werden musste, stieg dramatisch an.

Der Leiter rieb sich den Bart und wartete noch einen Moment darauf, dass eine andere Schaltanlage automatisch einspringen würde. Vergeblich. »Zweigen Sie manuell Leistung von Q-Vierzehn in den östlichen Versorgungsbereich von MH-Zwölf ab«, wies er dann seinen erfahrensten Mitarbeiter an.

»Jawohl, Sir.«

Nach ein paar Sekunden rief der Leiter: »Nein, sofort.«

»Hm. Ich versuch’s ja.«

»Sie versuchen es? Was soll das heißen, versuchen?« Die Aufgabe erforderte lediglich ein paar simple Tastendrücke.

»Das System reagiert nicht.«

»Unmöglich!« Der Leiter stieg die wenigen Stufen zum Computer des Technikers hinunter und tippte die Befehle ein, die er in- und auswendig kannte.

Nichts.

Die Spannungsanzeigen waren am Ende des grünen Bereichs. Es drohte Gelb.

»Das ist nicht gut«, murmelte jemand. »Wir haben ein Problem. «

Der Leiter lief zurück zu seinem Platz und ließ sich auf den Stuhl fallen. Dabei wischte er versehentlich seinen Müsliriegel und den Pappbecher mit den griechischen Sportlern vom Tisch.

Dann fiel der nächste Dominostein. Ein dritter roter Punkt fing an zu blinken, als wäre er das Zentrum einer Zielscheibe. Der SCADA-Computer meldete leidenschaftslos:

KRITISCHE STÖRUNG MH-17 OFFLINE


»Nein, nicht noch eins!«, flüsterte jemand.

Und wie zuvor sprang auch diesmal kein anderes Umspannwerk ein, um dabei zu helfen, die unersättliche Stromgier der New Yorker zu befriedigen. Zwei Schaltanlagen erledigten die Arbeit von fünf. Die Temperatur der dort ankommenden und abgehenden Leitungen stieg, und die Spannungsanzeigen auf dem großen Monitor standen inzwischen weit im gelben Bereich.

MH-12 OFFLINE. NJ-18 OFFLINE. MH-17 OFFLINE. UL AN BETROFFENE VERSORGUNGSGEBIETE VON MH-10, MH-13


»Besorgt mir mehr Saft für die Gebiete«, befahl der Leiter. »Egal wie. Egal woher.«

»Ich hab hier vierzig kV«, rief eine Frau von einem der Kontrollplätze. »Ich leite sie über Feeder aus der Bronx hinunter.«

Vierzig Kilovolt waren nicht viel, und es würde schwierig sein, sie über Speiseleitungen heranzuführen, die nur für etwa ein Drittel dieser Spannung ausgelegt waren.

Jemand anders schaffte es, Leistung aus Connecticut abzuzweigen.

Die Balken der Spannungsanzeige stiegen trotzdem weiter an, aber nun deutlich langsamer.

Vielleicht bekamen sie die Situation endlich unter Kontrolle. »Mehr!«

»Halt!«, meldete sich die Frau, die Strom aus der Bronx umleitete, mit erstickter Stimme. »Die Spannung ist auf...