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Aquila

Ursula Poznanski

 

Verlag Loewe Verlag, 2017

ISBN 9783732011070 , 448 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

2

Es war ein Gefühl, als wäre die Welt plötzlich nicht mehr dieselbe. Innerlich wie erstarrt zappte Nika von einem Sender zum nächsten. Nein, natürlich würde nirgendwo jemand eine Erklärung liefern oder das Datum der Nachrichtensendungen wieder auf Sonntag korrigieren, trotzdem hoffte sie auf einen Hinweis. Irgendetwas, das ihr helfen würde zu begreifen, wie ihr zwei Tage einfach abhandenkommen konnten.

Ich habe geschlafen. Die Idee fühlte sich für einen Moment gut an, es war zumindest eine logische Erklärung, auch wenn Nika es kaum schaffte sich vorzustellen, wie das möglich sein sollte. Selbst nach wirklich wilden Partys war sie am nächsten Tag spätestens um ein oder zwei Uhr nachmittags wieder wach gewesen. Ganz abgesehen davon, dass sie sonst eigentlich gar nicht der Wilde-Party-Typ war. Abende mit Freunden, bei denen gegessen, geplaudert und gelacht wurde, die waren viel eher ihr Ding. Aber hier in Italien war sie abends plötzlich viel häufiger und länger unterwegs als zu Hause. Lag wahrscheinlich an ihrer Mitbewohnerin.

Dienstag also. Wenn das stimmte, war Jenny dann mit ihr nach Hause gekommen und hatte sie zwei Tage lang schlafen lassen? Saß sie jetzt in der Uni und verdrehte bloß die Augen, wenn jemand sie fragte, wo Nika steckte?

Das fühlte sich alles so … unwahrscheinlich an. Sie musste endlich einen klaren Kopf bekommen. Nika lief wieder zum Fenster, riss es auf und beugte sich hinaus.

Warme Luft, die nach Frühling und frischer Pizza roch. Unten fuhr ein Fahrrad vorbei, zwei kleine Jungs liefen die Straße hinunter, der eine versuchte, dem anderen einen Fußball abzujagen.

Alles ganz normal. Ganz real. Wahrscheinlich war es die letzten zwei Tage genauso gewesen, nur dass Nika die irgendwie verpasst hatte.

Die frische Luft machte das Denken einfacher. Also. Sie würde jetzt erst mal in Jennys Zimmer nachsehen, ob sie dort etwas fand, was ihrer Erinnerung auf die Sprünge half. Dann würde sie duschen, etwas essen und hoffen, dass Jenny in der Zwischenzeit nach Hause kam. Und falls das nicht passierte, würde sie mit ihren paar Brocken Italienisch jemanden von der Straße um Hilfe bitten.

In Jennys Zimmer herrschte die Art von Unordnung, die einen Raum gemütlich wirken ließ, nicht verwahrlost. Ein paar aufeinandergestapelte Bücher auf dem Boden, eine aufs Sofa geworfene Decke, ein rotes Kleid, das über einer Stuhllehne hing. Auf dem Schreibtisch eine ihrer geblümten Kaffeetassen … aber kein Notebook.

Wenn Jenny wirklich in der Uni war, konnte sie es natürlich mitgenommen haben. Für Nika wieder eine Möglichkeit weniger, mit jemandem von draußen Kontakt aufzunehmen, aber vermutlich war der Computer ohnehin passwortgeschützt.

Eine Nachricht fand sie nirgendwo. Nicht auf dem Schreibtisch, nicht unter einem der Kühlschrankmagneten in der Küche, nicht an der Pinnwand in der Diele.

Sie ging ins Badezimmer zurück. Duschen war auf jeden Fall eine gute Idee.

LETZTE CHANCE

Die beiden Worte sprangen ihr sofort wieder ins Auge, sie hatte sie immer noch nicht vom Spiegel geputzt. Doch das würde sie jetzt nachholen, auf der Stelle. Sie zog ein Tuch aus der Box mit Jennys Kosmetiktüchern und begann, die glatte Fläche abzureiben. Erst verschmierte die Zahnpasta, dann verschwand sie. Na also, dachte Nika grimmig, ein bescheuertes Rätsel bin ich schon mal los. Weg mit der letzten Chance, wer schreibt überhaupt so einen Schwachsinn?

Sie beugte sich vor, hauchte gegen den Spiegel und wischte mit einem frischen Tuch noch einmal darüber. Mitten in der Bewegung hielt sie inne.

Der Kratzer in ihrem Gesicht war nicht die einzige Spur, die die vergangene Nacht hinterlassen hatte. Oder die vergangenen zwei Tage, wenn man genau sein wollte. In Nikas blondem Haar fand sich etwas, das noch heller war. Grober Staub, kleine Steinchen, die ins Waschbecken fielen, als Nika sie mit den Fingern herauszog.

Sie befühlte ihren staubgrauen Haaransatz, strich vorsichtig über ihre Schläfe, dort, wo der Kratzer begann. Warum konnte sie sich nicht erinnern, was ihr zugestoßen war? Hatte sie sich den Kopf so hart angeschlagen, dass Teile ihrer Erinnerung verloren gegangen waren?

Aber in dem Fall müsste sie rasende Schmerzen haben, oder?

Langsam zog sie sich das Shirt über den Kopf. Inspizierte es, fand einen kleinen Riss am Rücken, der neu war. Auch hier: keine Erinnerung. Dafür noch eine Entdeckung, am Boden vor der Waschmaschine; ein anderes Shirt, genauer gesagt die zusammengeknüllten Reste davon. Es war hellblau und zu groß, um Jenny zu gehören. Ein Männershirt. Der Stoff war an zwei Stellen zerrissen und hatte an der Seite einen ausgedehnten Fleck, dunkel und klebrig, das ganze Shirt ähnlich feucht und klamm wie Nikas Jeans. An manchen Stellen regelrecht nass. Sie starrte auf den Fleck unterhalb des Ärmels. War das Blut? Wenn ja, wollte sie das nicht mit ihren eigenen Sachen in die Maschine tun, sie wollte auch nicht darüber nachdenken, wem es gehören konnte, also schob sie das Shirt zur Seite, neben den Wäschekorb.

Sie würde jetzt duschen, die Waschmaschine anwerfen und dann so schnell wie möglich aus dieser Wohnung verschwinden, in der plötzlich nichts mehr stimmte. Mit einiger Mühe schälte sie sich die engen Jeans von den Beinen, sah, wie unfassbar dreckig sie auch auf der Rückseite waren. War das verkrustete Erde? Hatte sie sich irgendwo im Matsch gewälzt? Oh Gott, hoffentlich hatte sie sich nicht allzu peinlich benommen, wenn sie mit der deutschsprachigen Studentenclique unterwegs gewesen war. Im Moment war sie die »Neue« in der Gruppe, war noch mit niemandem so richtig eng befreundet. Wenn sie irgendeine bescheuerte Show geliefert hatte, würde das wahrscheinlich so bleiben.

Ein neuer Gedanke stellte sich ein. Diese zwei verlorenen Tage – konnte jemand ihr K.-o.-Tropfen verabreicht haben? Irgendein Kerl, der sie dann in eine dunkle Ecke gezerrt hatte? So dreckig, wie ihre Sachen waren, konnte sie sich durchaus mit jemandem kämpfend im Matsch gewälzt haben.

Nein, dachte Nika, nein, in dem Fall hätte ich ja gar nicht kämpfen können. Außerdem würde ich schon rein körperlich spüren, wenn mir etwas Derartiges passiert wäre. Es gäbe irgendwelche Spuren an meinem Körper. Außerdem war ich doch nicht alleine unterwegs, sondern mit Freunden, die bemerkt hätten, wenn ich plötzlich verschwunden wäre.

Sie schüttelte den Kopf. K.-o.-Tropfen hinterließen angeblich einen seifigen Geschmack im Mund. Auch in der Hinsicht – Fehlanzeige. Es musste eine andere Erklärung geben. Nika öffnete die Tür der Waschmaschine. Wie immer überprüfte sie alle Hosentaschen, um nicht versehentlich Geld oder Ausweise mitzuwaschen. In der links hinten stießen ihre Finger auf Papier.

Sie zog es heraus, betrachtete es. Ein grüner Flyer, einer von denen, die hier so gern hinter Scheibenwischer gesteckt wurden. Er sah aus, als wäre er in den Regen gekommen, das Papier war gewellt und tatsächlich noch ein wenig feucht. Werbung für eine Pizzeria mit Namen Nerone. Da war Nika noch nie gewesen – oder vielleicht doch, und sie wusste es bloß nicht mehr. Sie faltete den Zettel auf. Ein lustig gezeichneter Koch mit riesiger Mütze grinste ihr entgegen, in den Händen einen Teller mit einer wagenradgroßen Pizza. Darunter waren die Spezialitäten des Hauses abgedruckt.

Nika drehte das Papier um. Und vergaß in den nächsten Sekunden zu atmen.

Das Blatt war hinten unbedruckt gewesen, doch nun war es vollgeschrieben, kreuz und quer, oft kaum leserlich. Einige Sätze waren mit Kugelschreiber hingekritzelt worden, andere waren hingeschmiert mit etwas, das ein in Matsch getauchter Ast hätte sein können.

Mit dem Gefühl, einen Schritt aus der Realität herauszutreten, sank Nika auf den Rand der Badewanne. Sie las die Notizen auf dem Zettel wieder und wieder, ohne irgendetwas davon zu begreifen.

Weihnachten voller Angst.

Halte dich fern von Einhorn und Adler.

Cor magis tibi sena pandit

Das Blut ist nicht deines.

GR32?ZZ

Sieh nach, was der Kapitän isst.

Sic Transit Gloria.

Du weißt, wo das Wasser am dunkelsten ist.

Tauche mit den Gänsen

With the lights out, it’s less dangerous, here we are now,

entertain us

Der Spiegel des Löwen zwischen den Farben

Nika starrte verzweifelt auf das Papier, bis ihr Blick verschwamm. Sie wischte sich über die Augen, bevor Tränen auf den Zettel fallen und alles noch unleserlicher machen würden.

Sie verstand nicht, was passiert war. Sie wusste bei keiner der Nachrichten, was sie bedeutete.

Aber sie kannte die Schrift. Es war ihre eigene.

Ein schriller Laut ließ sie hochfahren, sie schaffte es nicht, einen Schrei zu unterdrücken, presste erst danach eine Hand auf den Mund.

Hektisch sah sie sich nach etwas um, das sie überstreifen konnte, bis sie begriff, dass sie die Tür ohnehin nicht würde öffnen können.

Wieder die Klingel.

Sie ging mit langsamen Schritten in die Diele, den Zettel immer noch in der Hand. Eine Tür ohne Guckloch. Das fiel ihr heute zum ersten Mal auf. »Wer ist da?«

Wenn es der Briefträger war, würde er jetzt kein Wort verstanden haben, er sprach nur italienisch, rasend schnell und ebenso laut.

»Ich bin’s. Lennard.«

Erleichtert ließ Nika ihren Kopf gegen den Türstock sinken. »Oh Gott, bin ich froh. Du musst mir bitte helfen.«

»Na klar. Wenn du mich reinlässt.«

Obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, drückte Nika die Klinke...