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Dunkelheit, nimm meine Hand - Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Dennis Lehane

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257607925 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

13,99 EUR


 

{14}1


Angie und ich waren in unserem Büro im Glockenturm und versuchten, die Klimaanlage zu reparieren, als Eric Gault anrief.

Normalerweise ist eine kaputte Klimaanlage Mitte Oktober in New England kein Problem. Eine kaputte Heizung eher. Aber das hier sollte kein normaler Herbst werden. Um zwei Uhr nachmittags lagen die Temperaturen bei 24 Grad, und die Fenster strahlten noch immer den schwülen, durchglühten Geruch von Sommer ab.

»Vielleicht sollten wir einen Handwerker rufen«, meinte Angie.

Ich schlug mit der flachen Hand auf die im Fenster installierte Anlage und schaltete sie wieder ein. Nichts.

»Der Keilriemen, wette ich«, sagte ich.

»Das sagst du auch, wenn der Wagen liegenbleibt.«

»Hm.« Ich starrte die Klimaanlage etwa zwanzig Sekunden lang böse an, doch davon ließ sie sich nicht beeindrucken.

»Beschimpf sie«, meinte Angie. »Vielleicht hilft’s.«

Ich starrte sie statt der Klimaanlage an, bekam aber auch nicht mehr Resonanz. Vielleicht sollte ich mal an meinem bösen Blick arbeiten.

Das Telefon klingelte, und ich hob ab; vielleicht hatte der {15}Anrufer ja Ahnung von Klimaanlagen, aber es war nur Eric Gault.

Eric unterrichtete Kriminologie an der Bryce University. Wir lernten uns kennen, als er noch an der University of Massachusetts war und ich ein paar seiner Kurse belegte.

»Kennst du dich mit Klimaanlagen aus?«

»Hast du es damit versucht, sie an und aus und wieder anzuschalten?«, entgegnete er.

»Ja.«

»Und es ist nichts passiert?«

»Nein.«

»Hau ein paarmal drauf.«

»Hab ich.«

»Dann ruf den Reparaturdienst an.«

»Du bist mir eine große Hilfe.«

»Ist dein Büro immer noch in dem Glockenturm, Patrick?«

»Ja. Warum?«

»Na ja, ich habe vielleicht eine Klientin für dich.«

»Und?«

»Wär doch schön, wenn sie dich anheuert.«

»Gut. Bring sie vorbei.«

»In den Glockenturm?«

»Na klar.«

»Wie gesagt, wär doch schön, wenn sie dich anheuert.«

Ich sah mich in dem winzigen Büro um. »Das ist mies, Eric.«

»Kannst du am Lewis Wharf vorbeikommen, sagen wir, um neun Uhr?«

»Schätze schon. Wie heißt denn deine Freundin?«

{16}»Diandra Warren.«

»Und worum geht’s?«

»Es wäre mir lieber, wenn sie dir das persönlich sagt.«

»Okay.«

»Wir sehen uns morgen.«

»Bis dann.«

Ich wollte schon auf‌legen.

»Patrick?«

»Ja?«

»Hast du eine kleine Schwester namens Moira?«

»Nein. Ich habe eine ältere Schwester namens Erin.«

»Ach.«

»Wieso?«

»Ach, nichts. Wir reden morgen weiter.«

»Bis dann.«

Ich legte auf, sah die Klimaanlage an, dann Angie, dann wieder die Klimaanlage und rief schließlich den Reparaturdienst.

 

Diandra Warren wohnte in einem Lof‌t im fünf‌ten Stock des Lewis Wharf. Sie hatte eine Panoramaaussicht auf den Hafen, riesige Erkerfenster, die die Ostseite des Lof‌t in sanftes Morgenlicht badeten, und sie wirkte wie die Art von Frau, der es in ihrem ganzen Leben an nichts gefehlt hat.

Pfirsichfarbenes Haar lag in einem eleganten Schwung über ihrer Stirn und lief an den Seiten in einen Pagenschnitt aus. Dunkle Seidenbluse und hellblaue Jeans sahen aus wie nie getragen, und die Knochen in ihrem Gesicht lagen wie gemeißelt unter einer makellosen goldfarbenen Haut, die mich an Wasser in einem Kelch erinnerte.

{17}Sie öffnete die Tür und sagte: »Mr. Kenzie, Ms. Gennaro«, in einem sanften, selbstbewussten Flüstern, ganz in dem Wissen, ein Zuhörer würde sich notfalls vorbeugen, um sie zu verstehen. »Bitte kommen Sie herein.«

Das Lof‌t war mit großer Sorgfalt eingerichtet. Couch und Sessel im Wohnbereich waren in einem Cremeton gepolstert, der ebenso gut zu dem hellen skandinavischen Holz der Kücheneinrichtung passte wie zu den gedeckten Rot- und Brauntönen der Perser- und Navajoteppiche, die strategisch verteilt auf dem Hartholzparkett lagen. Die Farben verliehen dem Raum Wärme, doch die fast spartanische Funktionalität wies auf eine Besitzerin hin, die nicht zu ungeplanten Äußerungen oder sentimentaler Gefühlsduselei neigte.

Die nackte Ziegelwand, die an die Erkerfenster grenzte, wurde von einem Messingbett eingenommen, daneben eine Kommode aus Walnuss, drei Aktenschränke aus Birke und ein Sekretär mit Schreibklappe. Im ganzen Raum entdeckte ich keinen Schrank, keine Kleidungsstücke. Vielleicht zauberte sie sich jeden Morgen Wäsche aus der Luft, die frisch gebügelt auf sie wartete, wenn sie aus der Dusche stieg.

Sie führte uns in den Wohnbereich, wir setzten uns in die Sessel, während sie nach kurzem Zögern auf der Couch Platz nahm. Zwischen uns stand ein Couchtisch aus Rauchglas mit einem braunen Umschlag in der Mitte und einem schweren Aschenbecher mit einem antiken Feuerzeug links davon.

Diandra Warren lächelte uns an.

Wir lächelten ebenfalls. In diesem Beruf muss man improvisieren können.

{18}Ihre Augen weiteten sich ein wenig, und das Lächeln blieb, wo es war. Vielleicht wartete sie darauf, dass wir unsere Empfehlungsschreiben ausbreiteten, unsere Waffen vorzeigten und ihr sagten, wie viele heimtückische Bösewichte wir seit Sonnenaufgang erledigt hatten.

Angies Lächeln verblasste; ich hielt noch ein paar Sekunden länger durch. Der unbekümmerte Detektiv, der seiner potentiellen Klientin die Angst nimmt. Patrick »Sparky« Kenzie. Zu Diensten.

»Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll«, sagte Diandra Warren.

Angie sagte: »Eric meinte, Sie würden in Schwierigkeiten stecken, bei denen wir Ihnen behilf‌lich sein könnten.«

Diandra Warren nickte, und ihre haselbraunen Augen schienen für einen Augenblick sehr unsicher, so als habe sich hinter ihnen etwas gelockert. Sie schürzte die Lippen, betrachtete ihre schlanken Hände, und gerade als sie den Kopf hob, öffnete sich die Wohnungstür, und Eric trat ein. Sein graumeliertes, sich lichtendes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, doch er wirkte zehn Jahre jünger als seine tatsächlichen sechsundvierzig, siebenundvierzig. Er trug eine khakifarbene Hose und ein Jeanshemd unter einem dunkelgrauen Jackett, dessen unterster Knopf geschlossen war. Das Jackett sah an ihm etwas merkwürdig aus, so als habe der Schneider nicht damit gerechnet, dass Eric eine Waffe an der Hüfte tragen würde.

»Hey, Eric.« Ich streckte ihm die Hand hin.

Er schüttelte sie. »Ich bin froh, dass du kommen konntest, Patrick.«

»Hi, Eric.« Angie gab ihm die Hand.

{19}Als er sich vorbeugte, um sie zu schütteln, bemerkte er, dass seine Waffe zu sehen war. Er schloss kurz die Augen und wurde rot.

Angie sagte: »Ich würde mich erheblich besser fühlen, wenn Sie die Waffe auf den Couchtisch legen würden, bis wir gehen, Eric.«

»Ich komme mir vor wie ein Blödmann«, sagte er und versuchte zu lächeln.

»Bitte«, forderte Diandra ihn auf, »leg sie einfach auf den Tisch, Eric.«

Er ließ das Holster aufschnappen, als könne es beißen, und legte eine Ruger .38 auf den braunen Umschlag.

Verwirrt sah ich ihm in die Augen. Eric Gault und eine Waffe, das war wie Kaviar und Hotdogs.

Er setzte sich neben Diandra. »Wir waren in letzter Zeit ein wenig nervös.«

»Wieso?«

Diandra seufzte. »Ich bin Psychiaterin, Mr. Kenzie, Ms. Gennaro. Ich gebe zweimal die Woche Kurse an der Bryce University und biete den Lehrkräften und Studenten meine Beratung an, außerhalb meiner Praxis in der Stadt. In meinem Beruf rechnet man mit so einigen Dingen – gefährliche Klienten, Patienten, die einen ausgewachsenen psychotischen Schub haben, während man mit ihnen in einem winzigen Büro sitzt, paranoid dissoziative Schizophreniker, die meine Privatadresse herausfinden. Man lernt, mit solchen Ängsten zu leben. Man rechnet damit, dass eines Tages etwas passieren könnte. Aber das hier …« Sie warf einen Blick auf den Umschlag auf dem Tisch zwischen uns. »Das ist …«

{20}»Erzählen Sie uns doch mal, wie ›das‹ anfing.«

Sie lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Eric legte ihr eine Hand leicht auf die Schulter, sie schüttelte mit noch immer geschlossenen Augen den Kopf, also nahm er die Hand wieder weg, legte sie auf sein Knie und betrachtete sie, als sei er sich nicht ganz sicher, wie sie dorthin gekommen war.

»Eines Vormittags suchte mich eine Studentin auf, als ich an der Uni war. Zumindest sagte sie, sie sei Studentin.«

»Gab es daran irgendwelche Zweifel?«, fragte Angie.

»Zum damaligen Zeitpunkt nicht. Sie hatte einen Studentenausweis.« Diandra schlug die Augen auf. »Als ich das später nachprüfen wollte, fanden sich allerdings keine Unterlagen.«

»Wie hieß die Frau?«, fragte ich.

»Moira Kenzie.«

Ich sah Angie an, und sie runzelte die Stirn. »Sie verstehen also, Mr. Kenzie, dass ich sofort ansprang, als Eric Ihren Namen erwähnte, weil ich hoffte, Sie wären mit der jungen Frau verwandt.«

Ich dachte darüber nach. Kenzie ist kein sonderlich verbreiteter Name. Selbst in Irland gibt es nur ein paar von uns in der Gegend um Dublin und noch ein paar weitere oben in Ulster verstreut. Angesichts der Grausamkeit und Gewalttätigkeit, die in den Herzen meines Vaters und seiner Brüder lauerte, war es wohl keine so schlechte Sache, dass der Stammbaum langsam einging.

»Diese Moira Kenzie ist eine junge Frau, sagten Sie?«

»Ja.«

»Wie jung?«

{21}»Neunzehn,...