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Begabungen und Talente

Ulrich Trautwein, Marcus Hasselhorn

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2017

ISBN 9783844428469 , 285 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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35,99 EUR


 

|VII|Vorwort der Herausgeber


Fragen um Begabungen und Talente bei Kindern und Jugendlichen gehören zu den klassischen Schwerpunkten der pädagogisch-psychologischen Diagnostik. Dieser Schwerpunkt spiegelt sich auch in einer Vielzahl von psychologischen Testverfahren wider, die insbesondere auf dem Gebiet der (intellektuellen) Begabung bzw. Hochbegabung seit Jahrzehnten vorliegt. Auch in der Reihe Tests und Trends war das Thema wiederholt präsent, besonders deutlich natürlich in dem Band 8, der sich mit der Diagnostik von Hochbegabung beschäftigte (Preckel, Schneider & Holling, 2010).

Dass nur wenige Jahre später nun ein thematisch verwandter Band erscheint, liegt daran, dass das Thema Begabungen und Talente derzeit aus drei Gründen besonders aktuell und spannend ist: Erstens lässt sich, nicht zuletzt durch die 2015 durch die Kultusministerkonferenz (KMK) verabschiedete „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“, ein neues Bewusstsein über die Wichtigkeit des Themas als ein Schwerpunkt in der pädagogischen Praxis konstatieren. Zweitens finden sich Anzeichen für eine Zäsur beim Umgang mit Begabung, die sich u. a. in einer konzeptionellen Weitung des Themas ausdrückt. Drittens wurden in den letzten Jahren eine Reihe neuer diagnostischer Verfahren entwickelt und Programme zur Förderung von Kindern mit besonderen Begabungen und Talenten vorgestellt. Es lohnt sich, die Entwicklungen in allen drei Punkten ein wenig genauer zu beleuchten.

(1) Begabungen und Talente identifizieren und fördern – eine Herausforderung für die pädagogische Praxis

Die „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“ der KMK hat dafür gesorgt, dass das Thema Begabungen und Talente auf der Prioritätenliste von Forschung und Praxis wieder nach oben rutschte. Die KMK nahm die Leistungsergebnisse in internationalen Vergleichsstudien zum Anlass, über die Diagnostik und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Begabungen intensiver nachzudenken: „Ein Blick auf den vergleichsweise geringen Anteil von Schülerinnen und Schülern auf den beiden oberen Kompetenzstufen der PISA-Studien bzw. der Ländervergleiche der Kultusministerkonferenz sowohl im Bereich der Naturwissenschaften/Mathematik als auch in Deutsch und Englisch verdeutlicht die Notwendigkeit, die Förderung von leistungsstarken und potenziell leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern zu verbessern“ (KMK, 2015, S. 3). Aber nicht nur die Ergebnisse der Vergleichsstudien belegen die Notwendigkeit einer vertieften Beschäftigung mit Begabungen und Talenten; vielmehr geht auch die zunehmende Betonung der Individualisierung des Lernprozesses, die sich in praktisch allen neueren Bildungsplänen finden lässt, mit der Notwen|VIII|digkeit einher, Begabungen identifizieren und fördern zu können. Einen dritten wichtigen Anlass stellt der flächendeckende Ausbau von Ganztagsschulen in Deutschland dar. Während der Ausbau in quantitativer Hinsicht beeindruckend ist, finden sich aus pädagogischer Sicht bislang nur wenige Belege für einen umfassenden Mehrwert der Ganztagsschulen (StEG-Konsortium, 2016): Eine besondere Förderwirkung in Hinblick auf die schulische Leistungsentwicklung konnte nicht festgestellt werden. Ohne Zweifel stellt in diesem Kontext auch und besonders die Förderung von Begabungen und Talenten einen Bereich dar, in dem sich die Ganztagsschulen noch bewähren müssen.

(2) Begabungen und Talente – konzeptionelle Weitung

Die Änderung in der Bedeutung des Themas Begabungen und Talente für die Praxis ist die erste bemerkenswerte Entwicklung der letzten Jahre, die konzeptionelle Weiterentwicklung insbesondere des Begriffs der Begabung in der Forschung die zweite. War früher von „Begabung“ die Rede, so war damit oftmals die „Hochbegabung“ impliziert, und Hochbegabung wurde wiederum nach dem psychometrischen Kriterium eines allgemeinen Intelligenztestwertes von 130 und darüber identifiziert, was wiederum bedeutet, dass rund 2 % der Bevölkerung als hochbegabt gelten können. Inzwischen lässt sich eine Veränderung erkennen, die sich durch vier Entwicklungen kennzeichnen lässt. Erstens zielen viele jüngere Initiativen auf eine „breite Spitze“ bei der Förderung von Begabungen und Talenten. Die KMK orientiert sich in ihrer Förderstrategie an den Schülerinnen und Schülern in den oberen beiden Kompetenzstufen in PISA und anderen Schulleistungsstudien, deren Anzahl und Anteil gesteigert werden soll. Laut der Befunde von PISA 2012 befanden sich im OECD-Durchschnitt in Mathematik rund 13 % aller Schülerinnen und Schüler auf diesen beiden Kompetenzstufen, und in Deutschland waren es rund 17 %. Beim Lesen lagen die entsprechenden Prozentzahlen im OECD-Durchschnitt und in Deutschland bei rund 8 bis 9 %, und in den Naturwissenschaften lag der OECD-Durchschnitt auf ungefähr demselben Wert wie im Lesen, wohingegen für Deutschland rund 12 % der Schülerinnen und Schüler als besonders leistungsstark identifiziert wurden. Zieht man diese Zahlen als Orientierung dafür heran, welche Schülergruppe die KMK für ihre Förderstrategie im Blick hatte, so wird man von rund 15 bis 20 % der Schülerschaft ausgehen dürfen. Mit einer „Hochbegabtenförderung“ im klassischen Sinne hat dies kaum mehr etwas zu tun. Auch große, systematische Programme zur Förderung von begabten und hochbegabten Kindern und Jugendlichen wie die Hector-Kinderakademien (vgl. Golle et al., in diesem Band), bei denen Angebote für rund 10 % der Schülerinnen und Schülern vorgehalten werden sollen, haben eine ähnlich breite Spitze im Blick.

Zweitens wird bei der Diskussion um Begabungen und Talente zunehmend die Mehrdimensionalität hervorgehoben. Dies betrifft einerseits die Unterscheidung zwischen kognitiven Begabungen und nicht kognitiven Talenten (siehe |IX|Deiglmayr et al., in diesem Band), die auch die KMK in ihrer Förderstrategie hervorhebt: „Entsprechend der Mehrdimensionalität des Leistungsbegriffes geht es neben der vorrangigen Förderung der allgemeinen intellektuellen Begabung auch um die Förderung der musischen, sportlichen und emotionalen Fähigkeiten“ (KMK, 2015, S. 3). Andererseits findet auch innerhalb des kognitiven Bereichs eine zweifache Weitung statt: Zum einen sind hierbei Intelligenzmodelle zu nennen, in denen der klassische g-Faktor eine weniger zentrale Rolle spielt bzw. um weitere Faktoren ergänzt wird. Zum anderen ist die Hinwendung zu Leistungen in schulischen Kernkompetenzfeldern wie Mathematik, Deutsch und Naturwissenschaften zu nennen, wie sie auch in PISA praktiziert wird.

Die dritte konzeptionelle Weitung betrifft den expliziten Einbezug eines Entwicklungsgedankens bei der Beschäftigung mit Begabung (vgl. Subotnik, Olszewski-Kubilius & Worrell, 2011). Begabtenförderung kann dabei als ein Entwicklungsprozess verstanden werden, bei dem zunächst ein Potenzial vorliegt, dann hohe Leistungen gezeigt werden und schließlich Menschen aufgrund ihrer Leistungen von anderen Personen Eminenz zugeschrieben wird. Besondere Begabung bzw. Hochbegabung ist keine statische Eigenschaft, die immer die gleiche Ausprägung besitzt, sondern muss gefördert werden, um sich weiter zu entwickeln. Dabei sind sehr hohe allgemeine kognitive Leistungsfähigkeiten eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für besondere Begabung bzw. Hochbegabung. Zur Umsetzung von Potenzial in Leistung müssen weitere günstige persönliche und soziale Bedingungen hinzukommen (vgl. auch Deiglmayr et al., in diesem Band; Stöger et al., in diesem Band). Der Entwicklungsgedanke drückt sich auch in der Förderstrategie der KMK aus: „Diese Zielgruppe umfasst Schülerinnen und Schüler, die bereits sehr gute beobachtbare Leistungen erbringen, ebenso wie Schülerinnen und Schüler, deren Potenziale es zu erkennen und durch gezielte Anregung und Förderung zu entfalten gilt“ (KMK, 2015, S. 3). Der Entwicklungsgedanke verweist explizit auch auf die Gefahr, dass viele begabte Schülerinnen und Schüler in der Tat nicht passend gefördert werden. Wohlweislich bedeutet dies aber nicht, dass alle Kinder „besonders begabt“ sind. Dieser vor allem im Elementarbereich gerne verbreiteten These sind die auch schon im frühen Kindesalter messbaren Leistungsunterschiede in kognitiven Tests entgegen zu halten, die die Entwicklung von Hoch- oder Höchstleistung interindividuell unterschiedlich wahrscheinlich machen.

Die vierte konzeptionelle Weiterentwicklung betrifft die Erkenntnis, dass in Hinblick auf die konkrete Arbeit in Kindergärten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen Begabungen und Talente als integraler Bestandteil der Beschäftigung mit „Heterogenität“ zu betrachten ist (vgl. Sliwka & Nguyen, in diesem Band). Ein solches...