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Ein fast perfektes Wunder

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257608090 , 400 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

Mittwoch


1


Am späten Nachmittag des 18. November 2015 gab es im gesamten Stadtgebiet von Fayence, Département Var, Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, einen Blackout, der sich auf den ganzen öffentlichen Verkehr, die Telekommunikation, die Radio- und Fernsehsender, die Konservierung der Lebensmittel, die Sicherheitssysteme, Computernetzwerke und verschiedenste kommerzielle Unternehmen auswirkte, einschließlich der Eisdiele La Merveille Imparfaite am Anfang der gepflasterten Gasse, die in Stufen von der Rue Saint-Clair zum Marktplatz vor der Kirche hinunterführt.

Kurz davor war Milena Migliari, die Eisfrau, aus ihrer Ladentür getreten und dachte gerade, dass man nicht in den Kalender zu schauen brauchte, um zu merken, dass die Touristensaison längst vorbei war. Man musste nur spüren, wie unbewegt die Luft war, in der man noch den Nachhall des spätsommerlichen Gelächters, die Rufe, die Blicke, das Rascheln, das Trippeln, das Klicken der Handys wahrzunehmen meinte. Ein Blick auf die Hauptstraße um die Ecke genügte: Nur wenige Autos kamen durch den Torbogen des Rathauses mit der kursiven Aufschrift Hôtel de ville, den blassblauen Fensterläden, den Töpfen mit welkenden Hängegeranien, der Flagge Frankreichs und der Europäischen Union, fuhren an den Schaufenstern von Restaurants, Bäckereien und Immobilienbüros vorbei und weiter bergauf, nach Mons oder Tourrettes oder Callian oder wer weiß wohin. Es herrschte eine unbestimmte Kälte, in die sich noch ein schwaches, laues Lüftchen mischte; der Himmel war von kraftlosem Blau, das scheinbar dem Grau nicht weichen wollte. In der allgemeinen Stille vernahm man das Gehämmer eines Arbeiters, der in einer der Gassen weiter unten zugange war, und die Musik aus dem Radio in Milena Migliaris Werkstatt.

Plötzlich gingen in der Eisdiele die Lichter aus, das Radio verstummte, nur die fernen Hammerschläge blieben übrig. Milena Migliari sah sich um, ging wieder hinein, wechselte einen erstaunten Blick mit ihrer Assistentin Guadalupe hinter der Theke und lief in die Werkstatt: Auch das hypnotische, beruhigende Brummen der Kühlapparate war verschwunden. Sie eilte wieder hinaus, bog um die Ecke an der Hauptstraße und merkte nach wenigen Schritten, dass der Strom im ganzen Ort ausgefallen war.

Eis tendiert naturgemäß zum Schmelzen, auch wenn es einige Zeit dauert, bis wirklich nichts mehr zu retten ist. Und Instabilität hat Milena Migliari schon immer eine Mischung aus Angst und Faszination eingeflößt: Mag sein, dass das auch mit ihrer persönlichen Geschichte zusammenhängt, wie Viviane behauptet, damit, dass sie keinen soliden Familienhintergrund hat, sich nie irgendwo verwurzelt gefühlt hat. Doch in diesem Fall handelt es sich um ihre Arbeit: um mit unendlicher Sorgfalt ausgesuchte Zutaten, um zeitaufwendig entwickelte Verfahren, um teure Apparate, die noch abbezahlt werden müssen, um eine Bilanz, die aufgehen muss. Deshalb bemüht sie sich jetzt bewusst, sich nicht aufzuregen, sondern vertrauensvoll darauf zu warten, dass der Strom zurückkommt. Sie blickt auf die Wanduhr, die zum Glück mit Batterie funktioniert, und stellt ein paar Berechnungen an: In den Kühlwannen der Theke kann das Eis bestimmt zwei Stunden unbeschadet überstehen, bei der aktuellen Außentemperatur vielleicht sogar drei. Sie unterhält sich eine Weile mit Guadalupe und geht ab und zu in die Werkstatt, um die Rührmaschine zu begutachten, die Reifebehälter, den Schockfroster, den Kühlschrank für die Rohstoffe: alles aus, aus, aus. Nicht ein Kontrolllämpchen blinkt, nicht ein Lüf‌ter brummt. Die Angst kriecht in ihr hoch, und schließlich greift sie zum Handy, ruft beim Stromkonzern und der Stadtverwaltung an, um ein paar Informationen zu bekommen; aber am anderen Ende antworten nur automatische Ansagen oder unglaublich desinformierte, ausweichende oder gleichgültige Menschen. Das beruhigt sie kein bisschen, im Gegenteil.

Erneut läuft Milena Migliari hinaus auf die Hauptstraße, um mit der Bäckerin zu sprechen, die genauso viel weiß wie sie und ebenso besorgt ist, sie schüttelt den Kopf. Dann geht sie ins Immobilienbüro nebenan: Zwei der Angestellten starren gebannt auf die Displays ihrer Handys, eine telefoniert, um etwas zu erfahren, erfolglos. Milena Migliari geht wieder in die Eisdiele zurück, versucht sich zu beruhigen, hört Guadalupe zu, die ihr von der via Skype miterlebten Geburtstagsparty ihres Cousins in Quetzaltenango erzählt. Alle paar Minuten schaut sie auf die Uhr an der Wand, geht die Werkstatt kontrollieren. Noch einmal versucht sie es telefonisch beim Stromkonzern, bei der Stadtverwaltung: nichts. Sie läuft hin und her, von der Theke im Laden zur Werkstatt, von der Werkstatt wieder zur Theke, das Handy ans Ohr gepresst, während ihr Herz schneller schlägt bei der Vorstellung, der Strom werde erst wer weiß wann wieder fließen und die Temperatur in den Behältern unterdessen derart steigen, dass nichts mehr zu retten ist. Da nichts passiert, trifft sie eine Entscheidung, bevor alles zu spät ist: Sie fordert Guadalupe auf, ihr zu helfen, Eis in Waffeln und Becher zu füllen und sie draußen an die Passanten zu verteilen.

Doch die Touristensaison ist eben längst zu Ende: Auf den Dorfstraßen kommen nur ein paar alte Frauen mit Einkaufstaschen vorbei, ein paar scheue nordafrikanische Hilfsarbeiter, einige verloren dreinschauende Touristenpaare aus dem Norden, einige Ladenbesitzer, die besorgt herausfinden wollen, wie es weitergeht. Hätte der Blackout im Juli oder August oder sogar im September stattgefunden, wäre es ihr und Guadalupe mühelos gelungen, das gesamte vorrätige Eis in einer halben Stunde loszuwerden, noch dazu mit einem schönen Werbeeffekt. Aber so, wie es jetzt aussieht, müssen sie die wenigen Vorübergehenden geradezu anflehen, sich eine Waffel oder einen Becher schenken zu lassen. Verwunderte Gesichter, abgewandte Blicke, Kopfschütteln, beschleunigte Schritte: Unglaublich, welches Misstrauen es erregt, etwas gratis anzubieten. Manche Leute müssen sie anlächeln, um sie zu überzeugen, müssen besänftigend auf sie einreden, erklären, dass sie als Gegenleistung weder eine Blutspende noch den Beitritt zu einer religiösen Sekte verlangen. Doch das Ganze geht mit solcher Langsamkeit voran, dass Milena nach einer Weile in die Eisdiele zurückkehrt und anfängt, Ein-Pfund-Boxen zu füllen und sie in die Immobilienbüros und die Geschäfte mit Pseudo-Kunsthandwerk zu bringen. Eigentlich wäre es zum Lachen, denn im Sommer wird sie jeden Tag mit Bestellungen bombardiert, die sie gar nicht bewältigen kann, sie muss dann wieder und wieder erklären, dass ihre Produktion beschränkt, dass der Herstellungsprozess langsam und komplex ist, dass sie nur eine bestimmte Anzahl von Leuten auf einmal zufriedenstellen kann. Jetzt dagegen, bei Blackout und saisonal bedingter Leere, ist anscheinend niemand in der Stimmung, sich für das zauberhafte Gelbrot der Maquis-Baumerdbeere, das Goldbraun der Jujube aus Montauroux und das schimmernde Grün der Stachelbeere aus Mons zu begeistern. Ja, ein paar Leute bedanken sich, aber meistens wirkt es, als täten sie ihr einen Gefallen, wenn sie gnädig eine Box annehmen, um die sie sich vor zwei Monaten noch fast geprügelt hätten. Wenn sie dann mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme erklärt, dass das Eis bald gegessen werden muss, damit es nicht seine ideale Konsistenz verliert, schauen sie sie an wie eine arme Irre, die sich in einer für alle schwierigen Situation absolut unangebrachte Sorgen macht.

Milena Migliari kehrt in die Eisdiele zurück, führt weitere nutzlose Telefonate, erhält weitere nutzlose Antworten. Mit dem zum Glück auch batteriebetriebenen Infrarotthermometer kontrolliert sie die Temperatur der Behälter in der Theke: minus zehn Grad. Noch okay, wird aber steigen, das ist klar. Schon stellt sie sich vor, wie sie untröstlich mit einer Schöpfkelle in kleinen, verschiedenfarbigen Pfützen rührt, wechselt einen verzweifelten Blick mit Guadalupe. Es ist nicht nur der bevorstehende Verlust ihres Eisvorrats; es ist ein viel umfassenderes Gefühl von Auf‌lösung, das sich bis zu den Grenzen ihres Lebens ausbreitet.

Plötzlich klingelt das Handy; sie springt auf, um zu antworten, kann kaum glauben, dass womöglich eines der dumpfen Ämter, an die sie sich vergeblich gewandt hatte, die Initiative ergreift, um sie über die Situation aufzuklären. Mit vor Aufregung leicht zitternder Hand presst sie das Gerät ans Ohr: »Hallo?!«

»Spreche ich mit La Merveille Imparfaite in Fayence? Mit der Eisdiele?« Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung übertönt ein wenig rauh das Hintergrundgeräusch eines fahrenden Autos.

»Ja, was wünschen Sie?« Milena Migliari bemüht sich, professionell zu klingen, schafft es aber unter diesen Umständen nicht besonders gut.

»Ich habe gerade unglaubliche Dinge über Ihr Eis gelesen.« Man hört einen leichten ausländischen Akzent aus der Stimme heraus, obwohl sie das Französische perfekt beherrscht.

»Oh, danke.« Milena Migliari schwankt: Soll sie sich nun getröstet fühlen von der Vorstellung, dass ihre Arbeit geschätzt wird, oder darüber trauern, dass sich ihre Produkte in Kürze vor ihren Augen auf‌lösen werden?

»Milena Migliari, eine nach Frankreich verpflanzte Italienerin, fängt mit bewunderungswürdiger Einfühlung und Treffsicherheit die Quintessenz ihrer streng natürlichen, streng lokalen und saisonalen Ingredienzien ein und bietet sie dem Feinschmecker in herrlichsten Bechern und Waffeln, in bald zarten, bald lebhaft malerischen Farben dar …« Bestimmt hat ihre Gesprächspartnerin den Artikel von diesem Liam Bradford vor Augen, dem Gastronomie-Blogger, der im Juli hier...