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Chaplin - Sein Leben, seine Kunst

David Robinson

 

Verlag Diogenes, 2017

ISBN 9783257607918 , 944 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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38,99 EUR


 

{7}Vorwort zur ersten Ausgabe


Die Welt besteht nicht nur aus Helden und Schurken, sondern aus Männern und Frauen mit allen Leidenschaften, die Gott ihnen gegeben hat.

Die Unwissenden verdammen,

aber die Weisen haben Mitleid.

Charles Chaplin
Vorspanntext zu Eine Frau in Paris, 1923

Diese enormen Schuhe sind mit 50000000 Ösen geschnürt.

Gene Morgan
Journalist aus Chicago, 1915

Charles Chaplins Autobiographie erschien 1964. Er war zu diesem Zeitpunkt fünfundsiebzig Jahre alt. Das Buch war über fünfhundert Seiten dick, eine phantastische Gedächtnisleistung, wenn man bedenkt, dass es zum größten Teil ohne dokumentarische Hilfsmittel entstand. Manchen Rezensenten erschien diese Leistung damals allerdings zu phantastisch: Sie bezweifelten, dass sich jemand derartig detailliert an Ereignisse erinnern konnte, die ein ganzes Leben zurücklagen.

Nach Chaplins Tod gewährte man mir Zugang zu der gewaltigen Menge an Arbeitsunterlagen, die er hinterließ – Papiere, die zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert lang unberührt geblieben waren. In den öffentlichen Archiven Londons und in alten Theaterakten stieß ich auf längst vergessene Spuren des jungen Chaplin und seiner Familie. Außerdem haben viele Menschen in England und Amerika großzügig ihre Erinnerungen und persönliche Dokumente zur Verfügung gestellt.

Nach Durchsicht dieser riesigen Menge von Material war mein {8}Respekt vor Chaplins phänomenalem Erinnerungsvermögen größer denn je, ich stieß auf nichts, was die Wahrhaf‌tigkeit seiner Aufzeichnungen hätte in Zweifel ziehen können. Als Beispiel für seine Detailtreue, die durch Archivmaterial immer wieder belegt wird, mag eine Erinnerung aus seinem dreizehnten Lebensjahr dienen, derzufolge sein Bruder, als er zum ersten Mal zur See fuhr, von seiner Heuer fünfunddreißig Schillinge nach Hause geschickt hat. In Sydney Chaplins Seemannspapieren – die für Chaplin nicht zugänglich waren, als er schrieb – ist genau diese Summe aufgeführt. Kleine Ungenauigkeiten sprechen sogar eher für sein Gedächtnis als dagegen. Ein Kinderschreck, einer seiner Lehrer, bekommt in seiner Erinnerung den Namen ›Captain Hindrum‹, eine alte Varieté-Freundin seiner Mutter heißt ›Dashing Eva Lestocq‹ und ein freundlicher Inspizient am Duke of York’s Theatre ›Mr. Postant‹. Wie sich herausstellte, hießen sie Hindom, Dashing Eva Lester und William Postance. Wahrscheinlich hat Chaplin keinen dieser Namen je geschrieben gesehen, und zweifellos hat er sie so wiedergegeben, wie er sie als Kind gehört hatte. Eigentlich zeigen diese kleinen Irrtümer ganz deutlich, dass sich Chaplin beim Niederschreiben seiner Lebensgeschichte eher auf sein phänomenales Gedächtnis verließ als auf nachträglich angestellte Untersuchungen und Rekonstruktionen. Seine Erinnerungen werden fast immer durch andere Belege gestützt, so dass man bei eventuellen Unstimmigkeiten im Zweifel gut daran tut, Chaplin recht zu geben.

Das vorliegende Buch, ursprünglich zwanzig Jahre nach Chaplins eigenem Lebensbericht geschrieben, stellt in Teilen eine Ergänzung zu My Autobiography (Die Geschichte meines Lebens, Frankfurt 1964) dar. An das Werk anknüpfende Nachforschungen haben es ermöglicht, die manchmal etwas zufällig ausgewählten Erinnerungen des Meisters durch weitere Dokumente und Einzelheiten zu vervollständigen. Raoul Sobel und David Francis haben in ihrer Untersuchung Chaplin, Genesis of a Clown bemängelt, dass in den Anfangskapiteln von My Autobiography klare Fakten und Daten fehlen: »Wenn man sich bei der Lektüre von My Autobiography zeitlich orientieren will, kommt es einem so vor, als müsste man in einer bewölkten Nacht nach den Sternen navigieren. Wenn die Wolken sich endlich einmal wieder auf‌tun, ist das Schiff womöglich viele Meilen vom Kurs abgekommen.« Das mag vielleicht stimmen, aber der besondere Reiz {9}dieser ersten Kapitel von My Autobiography ergibt sich gerade aus der Freiheit des Erinnerungsstroms, den kein unsichtbarer akribischer Forschergeist im Hintergrund eindämmt. Es ist kaum verwunderlich, wenn der kleine Chaplin im Alter von sechs oder sieben Jahren sich die Reihenfolge der Armenhäuser und Armenschulen, in die man ihn steckte, nicht merken konnte. Der Reiz der Autobiographie liegt gerade darin, dass hier seine Gefühle angesichts solcher unangenehmen Erlebnisse wiedergegeben werden. Ich habe, auf die Gefahr hin, pedantisch zu wirken, in diesem Buch versucht, unter Fakten und Zeitabläufen Ordnung zu schaffen.

Während My Autobiography Selbsterlebtes absolut wahrheitsgemäß wiedergibt, konnte sich Chaplin in Dingen, die er aus zweiter Hand hatte, durchaus hin und wieder täuschen. Wie jede Mutter wird Mrs. Chaplin versucht haben, ihre Kinder nach Möglichkeit von hässlichen Tatsachen abzuschirmen. Einige Kritiker der Autobiographie bezweifelten, ob Chaplins Kindheit wirklich so schrecklich war, wie er sie beschrieben hat. Neue Erkenntnisse legen dagegen die Vermutung nahe, dass Mrs. Chaplin ihren Kindern sogar das Schlimmste verheimlicht hat. Zum Beispiel hatten die Chaplin-Jungen offenbar nie etwas von dem traurigen Schicksal ihrer Großmutter mütterlicherseits mitbekommen, die zunehmend dem Alkohol und der Landstreicherei verfallen war. Charles war immer der Überzeugung, dass seine Großmutter eine Zigeunerin war. Tatsächlich hatte er das Zigeunerblut von seiner Großmutter väterlicherseits geerbt. Hier liegt ein ganz natürlicher kindlicher Irrtum vor: Großmutter Chaplin starb bereits Jahre vor seiner Geburt. Wenn man ihm nun erzählte, dass seine Großmutter eine Zigeunerin war, ging er natürlich davon aus, dass von der Großmutter die Rede war, die er gekannt hatte.

Chaplin gab also alles, was er erlebt hatte, wahrheitsgetreu wieder, allerdings nicht immer vollständig. In seiner Autobiographie gibt es große Lücken, die er ganz bewusst nicht gefüllt hat. Die Auswahl der erwähnten Freunde, Bekannten und Ereignisse ist durchaus eigenwillig. Während einige Beziehungen in der Autobiographie mit großer Offenheit und viel Humor beschrieben werden, lässt er manche Personen, die ihm zu irgendeinem Zeitpunkt sehr nahestanden, einfach weg. Taktgefühl mag bei der Auswahl teilweise eine Rolle gespielt haben. Die meisten Leute, die er unerwähnt ließ, lebten damals noch. {10}Vielleicht hat Chaplin befürchtet, sie könnten zu leicht gekränkt oder beleidigt sein. Tatsächlich waren dann viele gerade deswegen beleidigt, weil sie nicht im Buch vorkamen.

Die Zurückhaltung, die er an den Tag legte, wenn es um seine eigene Arbeit ging, fällt aber weit mehr ins Gewicht. Er äußerte sich nur über sehr wenige seiner Filme und dann auch kaum darüber, wie er sie gemacht hatte. Als er schon recht berühmt war, waren Besucher bei Dreharbeiten nicht erwünscht. Die Abneigung, die er dagegen hatte, andere in seine Arbeitsgeheimnisse einzuweihen, pflegte er immer mit den Worten zu erklären: »Wenn die Leute wissen, wie’s gemacht wird, ist der ganze Zauber dahin.« Damit lässt sich Chaplins Verschlossenheit allerdings nur zu einem kleinen Teil erklären. Vielleicht hatte er selbst zunehmend das Gefühl, dass er seine Geheimnisse schlicht und einfach deswegen nicht enthüllen konnte, weil sie ihm im Kern selbst verhüllt blieben. Wie sollte er auch sich selbst oder einem andern je erklären, wie er dazu kam, eines Nachmittags im Jahre 1914 bei Keystone in die Requisitenkammer zu spazieren, ein Kostüm auszuwählen und in null Komma nichts eine Figur zu schaffen, die die bekannteste Menschendarstellung der Geschichte werden sollte? In späteren Jahren entzauberten Chaplin und seine Apologeten die magische Anziehungskraft des Tramps; aber niemand konnte sich jemals erklären, warum ausgerechnet er und just dieser Augenblick für Charlies mystische Geburt auserkoren waren.

Es gab auch banalere Gründe, warum er seine Arbeit aus seiner Autobiographie ausklammerte. Chaplin schrieb das Buch im Geiste des Unterhalters, der er ja zeit seines Lebens war. Wie die meisten Menschen fand er an seiner Arbeit nichts sonderlich Glanzvolles. Er äußerte einmal, dass sein Arbeitsleben auch nicht aufregender sei als das eines Bankkassierers. Er dachte wahrscheinlich, dass es einfach langweilig wäre, wenn er andern erläutern würde, wie seine Filme entstanden. Wenn Genie sich aus zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration zusammensetzt, dann wiegen in Chaplins Fall diese neunzig Prozent weit schwerer. So hartnäckig wie er hat wohl nie jemand versucht, das Beste aus sich herauszuholen.

Angesichts seiner legendären Geheimnistuerei zu seinen Lebzeiten erscheint es paradox, dass Chaplin eine umfassendere Dokumentation der Prozesse seines kreativen Schaffens hinterlassen hat {11}als irgendein anderer Filmemacher seiner Generation...