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Das letzte Manuskript

Dan Walsh

 

Verlag Francke-Buch, 2017

ISBN 9783868277449 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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12,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

Kapitel 1

Ich erinnere mich … eigentlich hätte ich traurig sein sollen.

Alle waren traurig. Es ist ja auch traurig, wenn eine Legende aus dem Leben scheidet. Unsere Familie war zur Testamentseröffnung nach Charleston gekommen.

Gerard Warners Romane hatten sich millionenfach verkauft und er hatte sogar den Pulitzerpreis verliehen bekommen. Mehrere seiner Bücher waren verfilmt worden. Ich hatte Interviews mit einigen der Schauspieler gelesen, die in diesen Filmen mitgewirkt hatten. Man hätte den Eindruck gewinnen können, sie wären mit meinem Großvater befreundet gewesen.

Aber das entsprach nicht der Wahrheit.

Sie kannten ihn nicht. Keiner von ihnen kannte ihn. Er hätte nie zugelassen, dass sie ihn kennenlernten.

Für seine Fans war Gerard Warner zeitlebens eine rätselhafte, schwer fassbare Gestalt geblieben. Nicht einmal sein Foto durfte auf das Cover seiner Bücher. Sobald ein neuer Roman erschien, hagelte es Anfragen von Fernsehproduzenten und Talkshowmoderatoren – zum wiederholten Male. Jeder wollte als Erster ein Interview mit ihm machen. Aber er gestattete nur schriftliche Interviews. Fotos waren nicht erlaubt. Und Fragen zu seinem Privatleben beantwortete er grundsätzlich nicht.

Trotzdem wurden seine Bücher den Buchhändlern aus den Händen gerissen, so beliebt waren sie.

Ich nannte ihn Gramps.

„Du lächelst, Michael.“

Ich sah meine wunderschöne Frau an, die meine Hand hielt. Ihre blonden Haare glänzten in der Sonne wie Gold. „Ich kann nicht anders, Jenn. Ich liebe diesen Ort.“ Ein Spaziergang auf der Broad Street in Charleston im Oktober ist ein Erlebnis. Doch eigentlich ist es egal, auf welcher Straße in der Altstadt man unterwegs ist. Sie sind alle wunderschön. Es begeistert mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich das Kopfsteinpflaster der Chalmers sehe, die Höfe in der Queens, die Eisentore und großartigen Treppenaufgänge in der Church Street oder die urigen Stadthäuser auf der Tradd Street.

Mich faszinieren auch die prächtigen Plantagen am Stadtrand, die den Bürgerkrieg überstanden haben. Mein Großvater hat mir all diese Orte gezeigt. Die sehenswerten Gärten und Teiche der Magnolia Plantage. Die atemberaubende Eichenallee, die zu Boone Hall führt. Die ausladenden grünen Rasenflächen und Gärten von Middleton Place, die sich bis zum Ufer des Ashley River erstrecken.

Charleston war die Lieblingsstadt meines Großvaters und während der letzten Jahrzehnte seines Lebens seine Heimatstadt. Einige seiner besten Werke waren hier entstanden. Für mich barg Charleston eine Fülle an Erinnerungen.

Erinnerungen an die Zeit mit ihm.

„Die anderen aus deiner Familie werden bestimmt nicht lächeln“, meinte Jenn. „Deine Schwester Marilyn schon gar nicht. Ach übrigens, als du vorhin unter der Dusche gestanden hast, hat sie angerufen. Ähm, sag mal, könntest du vielleicht ein bisschen langsamer gehen?“

„Entschuldige.“ Das passierte mir immer wieder. Wenn ich aufgeregt oder in Gedanken war, ging ich automatisch schneller. Jenn beschwerte sich dann und sagte, ich solle nicht vergessen, dass sie beinahe doppelt so viele Schritte machen müsse wie ich.

„Sie wollte keine Nachricht hinterlassen“, fuhr Jenn fort. „Aber sie wirkte irgendwie ziemlich angespannt. Glaubst du, das hängt mit der Testamentseröffnung zusammen?“

„Vielleicht, aber es geht ihr nicht um das Geld.“ Wir blieben an der Ecke Church und Broad Street stehen, um eine Kutsche passieren zu lassen, in der begeisterte Touristen saßen. Der Stadtführer bog in die Broad Street ein und lenkte die Aufmerksamkeit seiner Gruppe auf den Turm von St. Michael, der vor ihnen lag. Ich blickte ebenfalls hoch. Es war wirklich ein wunderschönes Bauwerk. „Wie du weißt, hat mein Großvater vor seinem Tod mit jedem von uns persönlich gesprochen.“ Wir überquerten die Straße. „Er wollte nicht, dass wir uns in der Familie darüber streiten, wer was bekommt. Mein Vater und Tante Fran erben zusammen die Hälfte seines Vermögens. Die andere Hälfte wird zu gleichen Teilen unter uns vier Enkelkindern aufgeteilt.“

„Ja, ich weiß, das hast du mir erzählt. Aber worüber macht sie sich dann Gedanken?“

„Es geht um die Familiengeschichte. Irgendwie ist sie besessen davon.“

„Hast du mir nicht erzählt, sie hätte das aufgegeben?“, fragte Jenn.

„Nein, ich habe gesagt, sie sollte das aufgeben.“ Frustriert seufzte ich auf. „Sie verbringt lächerlich viel Zeit damit, irgendein Geheimnis enthüllen zu wollen, das mit meinem Großvater zu tun hat. Ich rede ihr seit Jahren gut zu, dass sie das Thema endlich ruhen lassen soll. Wann immer sie Gramps darauf angesprochen hat, wurde er nervös. Das war schon auffällig. Aber sie hat einfach keine Ruhe gegeben.“ Der Duft von frischem Knoblauchbrot stieg mir in die Nase, als wir an der offenen Tür eines italienischen Restaurants vorbeikamen. „Riechst du das? Nach der Testamentseröffnung könnten wir hier eine Kleinigkeit zu Mittag essen.“

„Das wäre toll. Aber wonach sucht Marilyn? Was ist das große Geheimnis?“

Jenn und ich waren erst seit einem Jahr verheiratet und wohnten in der Nähe von Orlando. Die Fahrt hierher dauerte sieben Stunden. Meinem Großvater war sie nur ein paarmal begegnet. „Sie denkt, er hätte etwas verheimlicht.“

„Was denn?“

„Keine Ahnung. Sie behauptet das.“

„Sicher, er hat die Öffentlichkeit gemieden“, meinte Jenn. „Aber das ist bei berühmten Persönlichkeiten doch nicht ungewöhnlich.“

„Marilyn ist davon überzeugt, dass es einen tieferen Grund dafür gibt.“

„Auf mich machte er einen sehr netten Eindruck“, sagte sie. „Er hatte so freundliche Augen.“

„Gramps war ein ungewöhnlicher Mann. Nicht nur wegen seiner Bücher, sondern es war auch einfach ein Erlebnis, in seiner Nähe zu sein, ganz gewöhnliche Dinge mit ihm zu tun. Und deswegen ärgere ich mich auch so über Marilyns Recherchen.“

„Wie kommt sie denn darauf, dass es ein Geheimnis gibt?“

„Sie will schon seit einer Weile einen Familienstammbaum erstellen, weil einige ihrer Freundinnen das gemacht haben. Sie haben nach alten Fotoalben und Briefen gesucht, im Internet recherchiert und sich einmal im Monat über die Ergebnisse ihrer Recherchen ausgetauscht. Alle anderen haben Unmengen an Material gefunden, aber unser Familienstammbaum scheint mit meinem Großvater zu Ende zu sein.“

„Tatsächlich?“

„Jetzt fang du nicht auch noch an.“

„Das tue ich nicht, aber du musst doch zugeben, dass das irgendwie seltsam ist.“

„Ach komm schon, Jenn.“

„Was denn? Ich will damit doch gar nichts andeuten. Aber es ist tatsächlich ungewöhnlich, dass euer Stammbaum nicht weiter zurückreicht. Die meisten Familien wissen etwas mehr über ihre Vorfahren.“

„Können wir das Thema fallen lassen?“ Mein Blick wanderte ziellos zur anderen Straßenseite.

„Du bist verärgert.“

„Das stimmt nicht.“ Aber es stimmte doch.

Unvermittelt blieb Jenn stehen und zerrte an meinem Ärmel. Sie zog mich ein paar Schritte zurück zu dem großen Schaufenster einer Gemäldegalerie.

„Oh Michael, sieh dir nur dieses Bild an!“

Wie gebannt standen wir vor dem Schaufenster. Das Bild faszinierte uns. Eine Sumpflandschaft bei Sonnenaufgang. Das Gemälde war so groß, dass es wunderbar über einen Kamin gepasst hätte. Palmwedel wiegten sich in einer sanften Brise. Eine große Eiche breitete ihre Äste über das Wasser. Im Vordergrund stand ein überlebensgroßer Blaureiher, der stolz den Kopf reckte und seinen stechenden und durchdringenden Blick über die Landschaft schweifen ließ. Das Gemälde war so bunt und detailgetreu – es hätte von Audubon stammen können. Blaureiher waren die Lieblingsvögel meiner Großmutter gewesen, das wusste ich noch. Ich schaute nach dem Preis. Achtzehnhundert Dollar.

„Vielleicht gibt es einen kleineren Druck davon“, seufzte Jenn, während sie mit ihren großen braunen Augen zu mir aufschaute. Sie wusste genau, dass ich diesem Blick nicht widerstehen konnte. „Was denkst du eigentlich, wie viel wir bekommen werden?“, fragte sie.

Ich hatte ihr bisher weder verraten, wie hoch das Vermögen meines Großvaters war, noch dass ich damit rechnete, dass sich unser Leben in ein oder zwei Stunden dramatisch verändern würde. „Wir werden sehen“, erwiderte ich vage und zog sie vom Schaufenster fort. „Aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir auf dem Weg zurück zum Hotel vielleicht hier vorbeigehen werden.“

Während Jenn vor Freude leise aufquietschte und begeistert meine Hand drückte, setzten wir unseren Weg auf der Broad Street fort.

Zu diesem Zeitpunkt war ich mir bereits ziemlich sicher, dass mein Erbe mich in die Lage versetzen würde, meinen Job bei der Bank aufzugeben und der anderen Leidenschaft zu folgen, die ich außer meiner Liebe zu Charleston mit meinem Großvater teilte.

Ich wollte auch Schriftsteller werden.

Erst jetzt kommt mir der Gedanke, die Worte „genau wie er“ anzufügen, aber das wäre Unsinn. Ich war immer der Überzeugung gewesen, dass ich niemals so würde schreiben können wie er. Mein Geschreibsel würde garantiert weit hinter seinen Werken zurückbleiben. Es wären Kinderzeichnungen, die man an den Kühlschrank heftet, während er große...