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Keine Gnade - Ein Jonathan-Grave-Thriller

John Gilstrap

 

Verlag Festa Verlag, 2017

ISBN 9783865525697 , 440 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

1

Dass in dieser Nacht ein voller Mond am Himmel stand, machte alles wesentlich komplizierter. Sein intensiver silberner Schein warf Schatten, trotz der dünnen Wolkendecke so klar konturiert wie am helllichten Tag. Wie ein Phantom huschte Jonathan Grave durch die Stille. Er war komplett in Schwarz gekleidet, unter der Maske blitzten nur die Augen hervor. Grillen und Laubfrösche, die üblichen nächtlichen Krawallmacher, sorgten zu Tausenden für eine Geräuschkulisse, die ihm eine gewisse Deckung bot. Allerdings reichte das nicht. Es gab nie genügend Deckung. Er rief sich in Erinnerung, dass er sich in Indiana befand; in einem ländlichen Gebiet, in dem Sojabohnen angebaut wurden – und dass er es mit einem völlig unbedarften Gegner zu tun hatte. Doch dann dachte er daran, welchen Preis man zahlte, wenn man seinen Gegner unterschätzte.

Jonathan belauschte die Patrone-Brüder mittlerweile seit 20 Minuten. Die ganze Zeit über hatten sie nur gestritten. Der Stöpsel im linken Ohr fing jedes Wort des winzigen Funksenders auf, den er an die untere Hälfte der Scheibe am Vorderfenster geklebt hatte. Nach allem, was die flüchtige Recherche der letzten paar Stunden ergeben hatte, handelte es sich bei den Patrones um Nobodys – bloß zwei Versager aus West Virginia. Ihr Motiv für dieses Kidnapping-Abenteuer lag im Dunkeln. Was Jonathan anging, spielte es auch keine Rolle.

Die Geduld der Entführer wurde auf eine harte Probe gestellt. Sie standen unter Druck, und das machte sich allmählich bemerkbar. Sie hatten darauf gesetzt, dass Thomas Hughes’ Eltern das Lösegeld schnell ausspuckten, und konnten nicht nachvollziehen, was schiefgelaufen war.

»Ich hab’s satt, mich von diesem Arschloch an der Nase rumführen zu lassen«, sagte Lionel gerade. Er war der Ältere und Hitzköpfigere der beiden. »Wenn der alte Stevie Hughes noch mehr Beweise braucht, sollten wir vielleicht einfach ein Stück von Tommy abschneiden, es in einen Briefumschlag stecken und seinem Alten schicken.«

Jonathan beschleunigte die Schritte und kniete sich ins taufeuchte Gras, um den schwarzen Rucksack abzusetzen und die Klappe zu öffnen. Mit dem Nachtsichtgerät leuchtete das Dunkel taghell, allerdings in einem unnatürlichen Grünton.

»Das ist nicht dein Ernst«, meinte Barry, der kleine Bruder. In seiner Stimme schwang eine unausgesprochene Bitte mit. Er war der Pazifist des Duos. Jonathan mochte Pazifisten. Sie lebten in der Regel länger.

»Wart’s ab!«

Während Lionel in einer Tour fluchte und schimpfte, holte Jonathan eine Rolle Det Cord – Sprengschnur – aus dem Rucksack, zog ein Kampfmesser aus der Scheide an der linken Schulter, wickelte ungefähr zweieinhalb Zentimeter von der Rolle ab, schnitt ab und verstaute das Messer. Mit schwarzem Isolierband befestigte er das Stück am ins Haus führenden Stromkabel, anschließend schob er den Zünder auf die Spitze. Es gab auf der Welt kaum etwas Besseres als Det Cord. Nicht immer wurde sie für die richtigen Zwecke eingesetzt, aber an ihrer Effektivität bestand kein Zweifel.

»Chris sagte, wir sollen warten«, sagte Barry zu seinem Bruder.

Jonathan drückte die mitten auf seiner kugelsicheren Weste befestigte Sendetaste und flüsterte: »Der Boss heißt Chris.« Das war das letzte Puzzlestück, das ihnen im Rahmen der dreitägigen Beschattung noch gefehlt hatte.

Knisternd meldete sich eine vertraute Stimme im Ohr: »Verstanden! Schon eine Spur von ihm?«

»Das wollte ich dich gerade fragen«, flüsterte Jonathan. »Ich habe hier nur unsere zwei Freunde.« Von einem Augenzeugen, der Thomas Hughes’ Entführung beobachtet hatte, wussten sie, dass drei Maskierte den Studenten der Ball State University mitten in der Nacht nackt aus seinem Apartment verschleppt hatten. Es gefiel Jonathan gar nicht, dass ein Mann des Gespanns fehlte und kein Mensch wusste, wo er sich aufhielt.

Der Streit der beiden Kidnapper nahm Fahrt auf und ihr Tonfall verriet, dass die Stimmung langsam kippte. Längst waren sie nicht mehr nur enttäuscht und verärgert, mittlerweile gewann nackte Verzweiflung die Oberhand. Jonathan beeilte sich.

»Diese ganze Nummer ist doch schon hoffnungslos im Arsch«, meckerte Lionel. »Wahrscheinlich haben die Cops Chris längst geschnappt.«

»Wahrscheinlich siehst du bloß Gespenster«, wollte ihn Barry beruhigen.

»Es hieß, das sei leicht verdientes Geld. Meine Fresse.«

Jonathan befand sich nun hinter dem Haus – auf der dunklen Seite, wie er sie getauft hatte. Es wurde Zeit, sich Zutritt zu verschaffen. Die Patrones hielten Thomas Hughes im Untergeschoss fest. In diesem Landesteil sagte man wahrscheinlich Sturmkeller dazu. Oder auch Rübenkeller. Er bestand komplett aus Stein und ließ sich über eine schwere Holzklappe mit zwei Flügeln erreichen, die wenige Zentimeter aus dem flachen Erdreich herausragte. Wenn es so weit war, wollte Jonathan hier eindringen.

Er zog das Handy aus der Tasche an der Weste, klappte es auf und betrachtete die Aufnahmen der spaghettigroßen Endoskop-Kamera, die er durch die Falltür geschoben hatte. Im trüben Schein der einsamen Glühbirne, die unten brannte, fiel es schwer, konkrete Einzelheiten auszumachen, doch ihm reichte, was er sah. Die wertvolle Ware der Patrones hatte sich innerhalb der letzten halben Stunde nicht vom Fleck gerührt. Nackt lag der Musikstudent, der kurz vor dem Abschluss stand, auf dem Kellerboden, Arme, Beine und Mund mit Gewebeband verklebt.

»Halt noch ein bisschen durch«, raunte Jonathan. Der Junge hatte nicht die geringste Ahnung, dass ihn nur noch wenige Augenblicke von seiner Rettung trennten. Er ging vermutlich davon aus, dass dieser Kellerraum das Letzte war, was er im Leben zu Gesicht bekam. Niemand konnte das Trauma dieser vergangenen vier Tage im Nachhinein auslöschen. Den Jungen, der Thomas Hughes vor der Entführung gewesen war, gab es nicht länger. Es mochte Jahre dauern, bis er wieder echte Freude empfinden konnte. Es stand sogar zu befürchten, dass er im Gegensatz zu früher nie mehr Vertrauen zu anderen Menschen fassen würde.

In Jonathans rechtem Ohrstöpsel – jenem, der nicht von den Übertragungen der Patrones in Beschlag genommen wurde – knisterte es erneut. »Lagebericht, bitte.« Offensichtlich waren zwei Minuten vergangen, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. Jonathans unsichtbarer Partner Brian van de Meulebroeke, genannt ›Boxers‹, wollte eine aktuelle Statusmeldung haben. So machten sie das immer und nutzten verschlüsselte Funkkanäle für die Kommunikation, um nicht damit rechnen zu müssen, dass sie jemand zufällig belauschte.

»Bereite mich aufs Eindringen vor«, meldete Jonathan.

Mithilfe des Nachtsichtgeräts fand er die drei mitgebrachten GPCs im Rucksack. Jeweils eine der Mehrzweckladungen war für die beiden Flügel der Bodenklappe und das schwere Vorhängeschloss in der Mitte reserviert. Sie bestanden aus C4-Plastiksprengstoff mit einem Stückchen Det Cord zum zuverlässigen Aktivieren. Formbar wie Knetmasse, absolut zuverlässig und enorm effektiv. Das galt insbesondere, wenn sich die Druckwellen auf eine so beengte Fläche wie diesen Keller konzentrierten.

»Los, schneiden wir dem Burschen die Eier ab«, schlug Lionel vor.

Jonathan wurde flau im Magen.

»Was?« Immerhin reagierte Barry entsetzt. Ein gutes Zeichen.

»Du hast mich schon richtig verstanden. Wir schneiden ihm die Eier ab und schicken sie seinem Dad zur Belohnung dafür, dass er uns die ganze Zeit verarscht hat.«

»Das ist doch krank«, fand Barry.

»Was ist daran krank? Der Kerl stirbt doch eh.«

»Sag so was nicht.«

Jonathan drückte die Sendetaste. »Lässt sich unser Freund Chris irgendwo blicken? Sieht aus, als müsste ich vorzeitig reingehen.«

»Sorry, Boss«, erklang es im Ohr. »Negativ. Das nächste Paar Scheinwerfer ist zwei Meilen von deiner Position entfernt und bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung.«

»Verstanden«, sagte Jonathan. Dann beruhigt euch besser mal, ihr beiden Pisser.

Lionel erklärte seinem kleinen Bruder gerade, wie der Hase lief. »Hast du echt geglaubt, dass wir ihn am Leben lassen? Warum sollten wir?«

»Weil sie Lösegeld für ihn zahlen.«

Lionel lachte. »Deshalb mochte Grandma dich lieber als mich. Du warst immer so süß naiv.«

Nachdem die Sprengladungen platziert und so austariert waren, dass sie im Abstand von 500 Millisekunden zündeten, trat Jonathan ein paar Schritte von der Falltür zurück und überprüfte noch einmal die Cam-Übertragung auf dem Handy. Thomas Hughes hatte sich vom Bauch auf die Seite gedreht, die Knie aber unverändert an die Brust gezogen, so wie schon seit Stunden. Jonathan legte die Stirn in Falten. Wenn der Junge die Beine seit vier Tagen nicht mehr ausgestreckt hatte, wurde es nichts mit Laufen, falls sie abhauen mussten.

»Kapierst du’s denn nicht, kleiner Bruder?«, fuhr Lionel fort. Jonathan glaubte, sein krankes Lächeln förmlich zu sehen. »Bei Kidnapping kommst du nie mehr aus dem Knast raus. Noch ein kleiner Mord dazu, dann kriegst du lebenslänglich plus ein paar Jahre obendrauf. Das spielt dann eh keine Rolle mehr. Ich geh jedenfalls nicht das Risiko ein, dass dieses verwöhnte Millionärssöhnchen gegen mich aussagt. Wir schnappen uns die Kohle, legen ihn um, verscharren den Leichnam und verschwinden.«

»Keiner hat was von Umlegen gesagt«, protestierte Barry.

»Weil keiner dachte, dass man es dir Idiot extra erklären muss.«

»Und wozu dann der ganze Bullshit mit den Fotos...