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Die Ermordung des Commendatore Band 2 - Eine Metapher wandelt sich. Roman

Haruki Murakami

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2018

ISBN 9783832189891 , 500 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

33 SICHTBARES UND UNSICHTBARES


Auch am Sonntag war herrliches Wetter. Es wehte ein leichter, kaum spürbarer Wind, und die herbstliche Sonne brachte das Laub, das die Berghänge in den verschiedensten Farben sprenkelte, wunderschön zum Leuchten. Kleine weißbrüstige Vögel huschten von Ast zu Ast und pickten munter nach den roten Beeren. Ich saß auf der Terrasse und konnte mich an diesem Anblick nicht sattsehen. Die Schönheit der Natur existiert für Reiche und Arme gleichermaßen. Ebenso wie die Zeit … Nein, Zeit ist Geld. Also können Wohlhabende sich ein Mehr an Zeit erkaufen.

Pünktlich um zehn kam der hellblaue Toyota Prius den Hang hinauf. Shoko Akikawa trug einen dünnen beigen Rollkragenpullover und eine schmal geschnittene hellgrüne Baumwollhose. Die goldene Gliederkette um ihren Hals schimmerte dezent. Wie beim ersten Mal war sie nahezu perfekt frisiert. Ihre schwingenden Haare gaben einen Blick auf ihren hübschen Nacken frei. Statt einer Handtasche trug sie heute eine Umhängetasche aus Wildleder über der Schulter und dazu braune Deckschuhe. Ein lässiges, unprätentiöses, doch bis in jedes Detail geschmackvoll zusammengestelltes Outfit. Und ihr Busen hatte wirklich eine schöne Form. Den internen Informationen ihrer Nichte zufolge stopfte sie den BH auch nicht aus. Ich fühlte mich – wenn auch vor allem in ästhetischer Hinsicht – ein wenig zu diesem Busen hingezogen.

Anders als beim letzten Mal war Marie in ihren verwaschenen Bluejeans und den weißen Turnschuhen von Kompass alltäglich gekleidet. Ihre Jeans hatten an einigen Stellen Risse, die natürlich absichtlich dort platziert waren. Sie trug eine dünne graue Sweatjacke und ein dickes Holzfällerhemd, unter dem sich nach wie vor gar nichts wölbte. Und wieder machte sie ein eingeschnapptes Gesicht, wie eine Katze, der man ihr Futter weggenommen hat.

Wie beim ersten Mal goss ich in der Küche schwarzen Tee auf und brachte ihn ins Wohnzimmer. Anschließend zeigte ich den beiden die drei Zeichnungen, die ich in der vergangenen Woche angefertigt hatte. Shoko Akikawa schienen sie zu gefallen. »Sehr lebensecht. Eigentlich werden sie Maries Persönlichkeit besser gerecht als jedes Foto.«

»Kann ich die haben?«, fragte Marie.

»Ja, natürlich«, sagte ich. »Sobald ich das Bild fertig habe, ja? Bis dahin brauche ich sie.«

»Das ist sehr nett von Ihnen … aber macht es Ihnen wirklich nichts aus?«, fragte die Tante mich besorgt.

»Nein«, sagte ich. »Wenn das Gemälde einmal fertig ist, habe ich keine Verwendung mehr dafür.«

»Nach welcher von den dreien werden Sie es malen?«, fragte Marie.

Ich schüttelte den Kopf. »Nach keiner. Diese drei Zeichnungen dienen mir vor allem dazu, ein plastisches Verständnis von dir zu bekommen. Auf der Leinwand werde ich dich vermutlich ganz anders malen.«

»Haben Sie schon eine konkrete Vorstellung?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Wir beide werden jetzt gemeinsam darüber nachdenken.«

»Über das plastische Verständnis von mir?«, fragte Marie.

»Genau«, sagte ich. »Geometrisch gesehen, ist eine Leinwand nur eine Fläche, aber ein Porträt muss schließlich dreidimensional wirken. Verstehst du?«

Marie runzelte missvergnügt die Stirn. Vielleicht musste sie bei dem Wort »dreidimensional« an ihren nicht vorhandenen Busen denken. Tatsächlich warf sie einen kurzen Blick auf die schön geformten, wohlgerundeten Brüste ihrer Tante unter dem dünnen Pullover und sah erst dann wieder zu mir.

»Wie kommt es, dass Sie das so gut können?«

»Meinst du die Zeichnungen?«

Marie Akikawa nickte. »Ja, zeichnen und skizzieren und so.«

»Durch Übung. Wer viel übt, wird mit der Zeit immer besser.«

»Aber es gibt doch auch Leute, die nicht gut werden, egal, wie viel sie üben.«

Sie hatte natürlich recht. Ich hatte auf der Kunsthochschule eine Menge Kommilitonen gekannt, die so viel üben konnten, wie sie wollten, ohne ein anständiges Bild zustande zu bringen. Vieles hing doch von einer angeborenen Neigung ab, da konnte sich einer abzappeln, so viel er wollte. Hätte ich das jedoch gesagt, hätte das Gespräch sich in eine gänzlich andere Richtung entwickelt.

»Trotzdem geht es ohne Üben nicht. Wenn man nicht übt, kommen auch Begabung und Fähigkeiten nicht richtig heraus.«

Shoko Akikawa pflichtete mir mit einem nachdrücklichen Nicken bei. Marie schürzte nur ein wenig die Lippen, als zweifelte sie an dieser Aussage.

»Du würdest gern gut zeichnen können, nicht?«, fragte ich sie.

Marie nickte. »Mir gefällt Sichtbares genauso wie Unsichtbares.«

In ihren Augen leuchtete ein eigentümliches Licht auf. Ich verstand, was sie sagen wollte. Aber es waren weniger ihre Worte, die mich interessierten, als vielmehr dieses Licht.

»Das ist eine sehr sonderbare Ansicht, nicht?«, sagte Shoko Akikawa. »Du sprichst in Rätseln.«

Marie blickte auf ihre Hände, ohne zu antworten. Als sie kurz darauf wieder aufsah, war das eigentümliche Licht aus ihren Augen verschwunden. Es hatte sich nur einen Moment lang dort gehalten.

Marie und ich gingen ins Atelier. Wie in der letzten Woche nahm Shoko Akikawa ein dickes Buch – dem Aussehen nach vermutlich dasselbe wie zuvor – aus ihrer Tasche, setzte sich aufs Sofa und begann zu lesen. Sie schien völlig vertieft. Diesmal war ich noch neugieriger auf das Buch, aber ich hielt mich zurück.

Der Abstand zwischen Marie und mir betrug auch heute etwa zwei Meter. Nur dass ich diesmal vor der Staffelei mit der Leinwand saß. Aber noch nahm ich Pinsel und Farben nicht zur Hand, sondern schaute zwischen Marie und der leeren Leinwand hin und her. Meine Gedanken kreisten um die Frage, wie ich sie möglichst »plastisch« auf die Leinwand bannen sollte. Ich brauchte eine Art von Geschichte. Ich konnte sie ja nicht einfach so abmalen, wie sie war. So käme kein Werk zustande. Mein wichtigster Ansatzpunkt war, eine Geschichte zu entdecken, die es wert war, gemalt zu werden.

Lange betrachtete ich von meinem Hocker aus das Gesicht Marie Akikawas, die mir gegenüber auf dem Küchenstuhl saß. Sie wich meinem Blick nicht aus und sah mir, fast ohne zu blinzeln, direkt in die Augen. Es war kein herausforderndes Starren, aber es lag so etwas wie der Entschluss darin, nicht nachzugeben. Durch ihr puppenhaftes Aussehen erweckte sie vielleicht einen falschen Eindruck, denn in Wahrheit besaß dieses Kind einen harten Kern. Sie hatte ihre eigene unerschütterliche Art zu handeln. Hatte sie einmal für sich eine gerade Linie gezogen, wich sie nicht so leicht davon ab.

Bei genauem Hinsehen erinnerte mich etwas in Marie Akikawas Augen an Menshiki. Mir war das schon früher aufgefallen, aber nun erstaunte mich diese Gemeinsamkeit aufs Neue. Es war ein eigentümliches Leuchten, das einer momentan zu Eis erstarrten Flamme glich. Mit seinem kalten Feuer ließ es an einen besonderen Edelstein denken, der im Inneren eine Lichtquelle barg. Zwei widerstreitende Kräfte fochten darin einen Kampf aus – ein nach außen gerichtetes freimütiges Wollen und ein nach innen gewandtes Streben nach Vollendung.

Doch vielleicht rührten meine Empfindungen auch daher, dass Menshiki mir anvertraut hatte, Marie Akikawa sei eventuell seine leibliche Tochter, und ich deshalb unbewusst nach Ähnlichkeiten suchte.

Jedenfalls musste mein Bild dieses eigentümliche Licht in ihren Augen einfangen, es als ein Element darstellen, das den Kern ihres Ausdrucks ausmachte. Das die Anmut ihrer Gesichtszüge durchkreuzte und erschütterte. Aber ich vermochte keinen Rahmen innerhalb meines Bildes zu finden, in den es sich eingefügt hätte. Wenn ich ungeschickt vorging, würde ich höchstens die Wirkung eines kalten, leblosen Edelsteins erzielen. Woher stammte die Wärmequelle im Inneren dieses Lichts, und wohin wollte sie? Das musste ich herausfinden.

Nachdem ich ungefähr fünfzehn Minuten zwischen ihrem Gesicht und der Leinwand hin und her geschaut hatte, gab ich auf. Ich schob die Staffelei beiseite und atmete mehrmals tief durch. »Lass uns reden«, sagte ich.

»Gut«, antwortete Marie. »Worüber?«

»Ich möchte noch etwas mehr über dich wissen, wenn es dir recht ist.«

»Was zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, was dein Vater für ein Mensch ist.«

Marie verzog ein wenig die Lippen. »Ich kenne ihn nicht sehr gut.«

»Redest du nicht mit ihm?«

»Nein, ich sehe ihn ja auch kaum.«

»Dein Vater ist wohl beruflich sehr eingespannt?«

»Keine Ahnung, was mit seiner Arbeit ist«, sagte Marie. »Aber für mich interessiert er sich ja wohl nicht besonders.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, warum lässt er mich sonst die ganze Zeit bei meiner Tante?«

Dazu konnte und wollte ich mich nicht äußern. »Kannst du dich an deine Mutter erinnern? Du warst sechs, als sie starb, nicht?«

»Ich kann mich daran nur lückenhaft erinnern.«

»Inwiefern lückenhaft?«

»Für mich war meine Mutter auf einmal verschwunden. Damals verstand ich noch nicht, was es bedeutet, wenn ein Mensch stirbt. Also war es für mich, als wäre meine Mutter einfach nicht mehr da. Als wäre sie wie Rauch in irgendeinen Spalt gesogen worden.« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort. »Und wegen dieses abrupten, unerklärlichen Verschwindens kann ich mich nicht erinnern, was vor und was nach ihrem Tod war.«

»Du musst sehr verstört gewesen sein.«

»Die Zeit, in der meine Mutter noch da war, und die, als sie nicht mehr da war, sind wie durch eine hohe Mauer getrennt. Ich kann den Übergang nicht nachvollziehen.« Sie schwieg einen Moment lang und biss sich auf die Lippen. »Verstehen Sie, was ich...