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Wasser für die Elefanten - Roman

Sara Gruen

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2011

ISBN 9783832185657 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Eins

Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.

Wenn man fünf ist, weiß man auf den Monat genau, wie alt man ist. Auch in den Zwanzigern weiß man noch, wie alt man ist. Ich bin dreiundzwanzig, sagt man, oder: Ich bin siebenundzwanzig. Aber dann, so ab dreißig, geschieht etwas Seltsames. Anfangs ist es nicht mehr als ein Stolpern, ein kurzes Zögern. Wie alt bist du? Oh, ich bin … – man fängt zuversichtlich an, aber dann gerät man ins Stocken. Man wollte sagen dreiunddreißig, aber das stimmt nicht. Fünfunddreißig wäre richtig. Und das beunruhigt einen, denn man fragt sich, ob das der Anfang vom Ende ist. Genau das ist es, aber es dauert noch Jahrzehnte, bis man es zugibt.

Man fängt an, Wörter zu vergessen: Sie liegen einem auf der Zunge, aber anstatt sich schließlich von ihr zu lösen, bleiben sie kleben. Man geht nach oben, um etwas zu holen, und wenn man dort angekommen ist, weiß man nicht mehr, was man wollte. Man spricht sein Kind mit den Namen aller anderen Kinder und sogar mit dem des Hundes an, bevor einem der richtige einfällt. Manchmal vergisst man, welcher Tag gerade ist. Und schließlich vergisst man das Jahr.

Eigentlich habe ich es gar nicht vergessen. Man könnte eher sagen, ich habe nicht mehr darauf geachtet. Die Jahrtausendgrenze haben wir überschritten, so viel weiß ich – das ganze Tamtam wegen gar nichts, überall junge Leute, die ängstlich losschnattern und Konservendosen kaufen, weil irgendwer zu faul war, vier statt nur zwei Ziffern vorzusehen –, aber das könnte letzten Monat oder vor drei Jahren gewesen sein. Und außerdem, was macht es denn schon? Wo ist der Unterschied zwischen drei Wochen oder drei Jahren oder sogar drei Jahrzehnten Erbsenpüree, Tapioka und Windelhöschen?

Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.

Entweder hat es einen Unfall gegeben, oder draußen ist eine Baustelle, denn eine Schar alter Damen steht wie gebannt vor dem Fenster am Ende des Flurs, wie Kinder oder Knastschwestern. Sie sind feingliedrig und zerbrechlich, ihr Haar ist so zart wie Nebel. Die meisten von ihnen sind gut zehn Jahre jünger als ich, und das erstaunt mich. Auch wenn der Körper einen verrät, der Geist will es nicht wahrhaben.

Ich parke im Flur, neben mir meine Gehhilfe. Seit meinem Hüftbruch habe ich Gott sei Dank gute Fortschritte gemacht. Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte ich nie wieder gehen – deswegen habe ich mich überhaupt überreden lassen, hierher zu ziehen –, aber jetzt stehe ich alle paar Stunden auf und mache ein paar Schritte, und jeden Tag komme ich ein Stückchen weiter, bevor ich umkehren muss. Es steckt doch noch Leben in diesen alten Knochen.

Jetzt stehen schon fünf weißhaarige alte Damen da, zusammengedrängt deuten sie mit gekrümmten Fingern auf die Scheibe. Ich warte einen Moment ab, ob sie wieder gehen, aber sie bleiben.

Ich schaue nach unten, um zu sehen, ob meine Bremsen angezogen sind, stehe vorsichtig auf und halte mich an der Armlehne meines Rollstuhls fest, während ich den Wechsel zur Gehhilfe wage. Sobald ich ordentlich stehe, umklammere ich die grauen Gummipolster an den Handgriffen und schiebe die Gehhilfe vorwärts, bis meine Ellbogen durchgedrückt sind, damit schaffe ich genau eine Bodenfliese. Ich ziehe den linken Fuß nach vorne, passe auf, dass ich sicher stehe, und ziehe dann den anderen Fuß nach. Schieben, ziehen, warten, ziehen. Schieben, ziehen, warten, ziehen.

Der Flur ist lang, und meine Füße wollen nicht mehr so wie früher. Zum Glück habe ich nicht die Lähmung, die Camel hatte, aber ich bin trotzdem langsam. Der arme, alte Camel – ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Seine Füße schlackerten so kraftlos, dass er die Knie hoch anheben und nach vorne schleudern musste. Ich schlurfe, als hätte ich Gewichte an den Füßen, und weil mein Rücken krumm ist, schaue ich ständig auf meine Hausschuhe zwischen den Beinen der Gehhilfe.

Es dauert seine Zeit, bis ich das Flurende erreiche, aber ich schaffe es – und zwar auf eigenen Füßen. Ich freue mich wie ein Schneekönig, aber als ich da bin, fällt mir auf, dass ich es auch wieder zurück schaffen muss.

Die alten Damen machen mir Platz. Sie gehören zu den Agilen, sie sind entweder selbst noch mobil oder haben Freundinnen, die sie herumfahren. Diese alten Mädels sind noch ganz klar im Kopf, und sie sind nett zu mir. Ich bin hier eine Seltenheit – ein alter Mann in einem Meer von Witwen, die sich noch immer nach ihren verstorbenen Männern sehnen.

»Oh, hier«, gurrt Hazel. »Lasst Jacob mal sehen.«

Sie zieht Dollys Rollstuhl ein Stück zurück und schlurft händeringend neben mich, ihre trüben Augen strahlen. »Ach, ist das aufregend! Sie sind schon den ganzen Morgen zugange.«

Ich arbeite mich zum Fenster vor, hebe den Kopf und blinzle in die Sonne. Es ist so hell, dass ich einen Augenblick brauche, um zu erkennen, was da vor sich geht. Dann nehmen die Schemen Gestalt an.

Im Park am Ende des Blocks steht ein riesiges Zelt mit breiten weißroten Streifen und einer unverkennbaren Spitze …

Meine Pumpe macht einen solchen Sprung, dass ich mir eine Faust an die Brust presse.

»Jacob! Oh, Jacob!«, ruft Hazel. »Du meine Güte!« Sie wedelt aufgeregt mit den Händen und dreht sich zum Flur um. »Schwester! Schwester, schnell! Mr. Jankowski!«

»Mir geht’s gut«, sage ich hustend und klopfe mir auf die Brust. Das ist das Problem mit den alten Damen. Sie haben ständig Angst, man würde umkippen. »Hazel! Es geht mir gut!«

Doch es ist zu spät. Ich höre das Quietsch-Quietsch-Quietsch von Gummisohlen und bin wenig später von Schwestern umzingelt. Offenbar muss ich mir keine Sorgen mehr machen, wie ich zu meinem Rollstuhl zurückkomme.

»Und, was steht heute Abend auf der Karte?«, brumme ich, als ich in den Speisesaal geschoben werde. »Porridge? Erbsenpüree? Babybrei? Oh, lassen Sie mich raten, es gibt Tapioka, richtig? Gibt es Tapioka? Oder nennen wir es heute Abend Reispudding?«

»Ach, Mr. Jankowski, Sie sind mir einer«, sagt die Schwester tonlos. Sie braucht nicht zu antworten, und das weiß sie auch. Da heute Freitag ist, gibt es das übliche nahrhafte, aber fade Menü aus Hackbraten mit Maispüree, Kartoffelbrei aus der Tüte und Bratensoße, die vielleicht irgendwann einmal neben einem Stück Rindfleisch gestanden hat. Und da fragen die sich, warum ich abnehme.

Ich weiß ja, dass einige hier keine Zähne mehr haben, aber ich schon, und ich will Schmorbraten. Den von meiner Frau, mit ledrigen Lorbeerblättern. Ich will Möhren. Ich will Pellkartoffeln. Und ich will das alles mit einem kräftigen, schweren Cabernet Sauvignon runterspülen, nicht mit Apfelsaft aus der Dose. Aber vor allem will ich einen ganzen Maiskolben.

Manchmal glaube ich, wenn ich zwischen einem Maiskolben und einer Nacht mit einer Frau wählen müsste, würde ich den Mais nehmen. Nicht, dass mir eine letzte Nummer im Heu nicht gefallen würde – ich bin immer noch ein Mann, und manche Dinge ändern sich nie –, aber die Vorstellung, wie die süßen Körner zwischen meinen Zähnen zerbersten, macht mir den Mund wässrig. Das sind Tagträume, ich weiß. Ich werde keines von beidem bekommen. Ich wäge nur gern die Möglichkeiten ab, so als stünde ich vor Salomo: Eine letzte Nummer im Heu oder ein Maiskolben. Ein wunderbares Dilemma. Manchmal ersetze ich den Mais durch einen Apfel.

Bei Tisch sprechen alle über den Zirkus – jedenfalls alle, die sprechen können. Die Stummen, Sprachlosen sitzen mit starren Gesichtern und verkümmerten Gliedmaßen oder mit Köpfen und Händen, die so stark zittern, dass sie ihr Besteck nicht halten können, entlang der Wände, neben sich Pflegerinnen, die ihnen löffelweise Essen in den Mund schieben und sie dann zum Kauen bewegen wollen. Sie erinnern mich an Vogeljungen, nur dass ihnen jeder Enthusiasmus fehlt. Bis auf ein leichtes Mahlen der Kiefer bleiben ihre Gesichter unbewegt und entsetzlich leer. Ich finde es so entsetzlich, weil ich genau weiß, was auf mich zukommt. Noch ist es nicht so weit, aber es kommt. Es gibt nur eine Möglichkeit, dem zu entrinnen, und ehrlich gesagt gefällt mir die auch nicht besonders gut.

Die Schwester stellt mich vor meinem Teller ab. Die Soße auf dem Hackbraten hat schon eine Haut gebildet. Ich steche versuchsweise mit der Gabel hinein. Wie zum Hohn wabbelt die Soßenschicht. Ich blicke angewidert auf und sehe Joseph McGuinty direkt in die Augen.

Er sitzt mir gegenüber, ein Neuer, ein Eindringling – ein pensionierter Anwalt mit kantigem Kinn, zerfurchter Nase und großen Schlappohren. Die Ohren erinnern mich an Rosie, aber damit hat es sich auch schon. Sie hatte eine schöne, edle Seele, und er … Er ist eben ein pensionierter Anwalt. Mir ist schleierhaft, wo die Schwestern Gemeinsamkeiten zwischen einem Veterinär und einem Anwalt vermuten, aber am ersten Abend haben sie ihn mir gegenüber abgestellt, und seitdem sitzt er dort.

Während er mich anstarrt, bewegt er den Kiefer vor und zurück wie ein wiederkäuendes Rind. Unglaublich. Er isst das Zeug tatsächlich.

Die alten Damen schnattern in wonniger Ignoranz wie die Schulmädchen.

»Sie bleiben bis Sonntag«, sagt Doris. »Billy hat nachgefragt.«

»Genau, Samstag gibt es zwei Vorstellungen, und eine am Sonntag. Randall und die Mädchen gehen morgen mit mir hin«, erzählt Norma. Sie dreht sich zu mir um. »Jacob, gehen Sie auch hin?«

Ich setze zu einer Antwort an, aber ehe ich etwas sagen kann, sprudelt Doris los: »Und hast du die Pferde gesehen? Was für herrliche Tiere! Als ich klein war, hatten wir auch Pferde. Ach, was bin ich gerne geritten.« Sie blickt in die Ferne, und den Bruchteil einer Sekunde lang kann ich sehen, wie...