dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Schattenmond - Roman

Nora Roberts

 

Verlag Heyne, 2018

ISBN 9783641224820 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Kapitel 1


Dumfries, Schottland

Als Ross MacLeod abdrückte und den Fasan herunterholte, konnte er nicht ahnen, dass er damit sich selbst getötet hatte. Und Milliarden andere.

An einem kalten, feuchten Tag, dem letzten Tag des Jahres, das sein letztes werden sollte, ging er mit seinem Bruder und seinem Cousin zur Jagd, überquerte unter einem blassblauen Winterhimmel das unter seinen Schritten knackende, reifbedeckte Feld. Er fühlte sich gesund und fit, ein Mann von vierundsechzig Jahren, der dreimal die Woche zum Training ging und ein leidenschaftlicher Golfer war (was sich in einem Handicap von neun zeigte).

Mit seinem Zwillingsbruder Rob hatte er in New York und London ein erfolgreiches Marketingunternehmen aufgebaut, das sie noch immer leiteten. Seine Frau, mit der er seit neununddreißig Jahren verheiratet war, und die Ehefrauen seines Bruders Rob und ihres Cousins Hugh waren in dem bezaubernden alten Farmhaus geblieben.

Die Frauen zogen es vor, am prasselnden offenen Kamin, in dem immer ein Kessel mit Wasser hing, zu kochen und zu backen und sich mit der bevorstehenden Silvesterparty zu befassen.

Die Männer stapften derweil gut gelaunt in ihren Gummistiefeln über den Acker.

Die MacLeod-Farm, seit mehr als zweihundert Jahren vom Vater an den Sohn weitergegeben, war über achtzig Hektar groß. Hugh liebte sie fast so sehr, wie er seine Frau, seine Kinder und seine Enkel liebte. Im Osten zogen sich hinter dem Feld, über das sie schritten, ferne Hügel am Horizont entlang. Und nicht allzu weit im Westen wogte die Irische See.

Die Brüder unternahmen viele Reisen zusammen mit ihren Familien, doch der alljährliche Trip zur Farm war stets und für alle das Highlight. Als Jungen hatten sie im Sommer oft einen ganzen Monat auf der Farm verbracht, waren mit Hugh und seinem Bruder Duncan über die Felder gerannt – Duncan, der nun tot war, weil er sich dafür entschieden hatte, Soldat zu werden. Ross und Rob, die Jungen aus der Stadt, hatten sich immer für die Arbeit auf der Farm begeistert, die ihnen ihr Onkel Jamie und ihre Tante Bess aufgetragen hatten.

Sie hatten gelernt, zu angeln, zu jagen, Hühner zu füttern und Eier einzusammeln. Und sie hatten zu Fuß und auf dem Pferd Wald und Flur durchstreift.

Oft waren sie in dunklen Nächten aus dem Haus geschlichen und zu eben dem Feld gelaufen, über das sie nun gingen, um geheime Treffen abzuhalten und in dem kleinen Steinkreis, den die Einheimischen sgiath de solas, Schild des Lichts, nannten, die Geister zu beschwören.

Es war ihnen nie gelungen, und sie hatten auch nie die Geister oder Feen angetroffen, die nach der Überzeugung kleiner Jungen in den Wäldern hausten. Auch wenn Ross bei einem dieser mitternächtlichen Abenteuer, als die Luft komplett stillzustehen schien, einmal schwor, er habe eine dunkle Präsenz gespürt, das Rauschen von Flügeln gehört und sogar einen schlecht riechenden Atem wahrgenommen.

Und er habe gespürt – das ließ er sich nie ausreden –, dass dieser Atem in ihn eingedrungen sei.

In jugendlicher Panik war er wie wild aus dem Kreis geflohen und hatte sich dabei an einem Stein die Hand aufgekratzt.

Ein einziger Tropfen seines Blutes fiel auf die Erde.

Heute lachten und scherzten sie noch immer über jene längst vergangene Nacht und hielten diese Erinnerung hoch.

Als erwachsene Männer hatten sie ihre Frauen und dann ihre Kinder mit auf die Farm gebracht wie auf eine jährliche Wallfahrt, die am zweiten Weihnachtstag begann und am zweiten Januar endete.

Ihre Söhne und deren Frauen waren erst an diesem Morgen nach London abgereist, wo sie alle mit Freunden das neue Jahr begrüßen und sich noch einige Tage geschäftlich aufhalten würden. Nur Ross’ Tochter Katie, die im siebten Monat mit Zwillingen schwanger war, war in New York geblieben.

Sie plante ein Wiedersehensdinner für ihre Eltern, das jedoch nie stattfinden würde.

An diesem erfrischenden letzten Tag des Jahres fühlte sich Ross MacLeod so fit und voller Freude wie der Junge, der er damals gewesen war. Er wunderte sich nur über die Krähen, die rufend über dem Steinring kreisten, und den kurzen Schauer, der ihm den Rücken hinablief. Doch gerade, als er ihn abschüttelte, erhob sich der Fasan, ein flirrendes Farbenspiel vor dem blassen Himmel, in die Luft.

Ross riss die Flinte Kaliber zwölf hoch, die ihm sein Onkel geschenkt hatte, als er sechzehn geworden war, und folgte dem Flug des Vogels. Womöglich juckte der Handballen einen Augenblick lang, den er sich damals, vor mehr als fünfzig Jahren, aufgescheuert hatte, oder pulsierte noch einen Moment.

Trotzdem …

Er drückte ab.

Der Schuss zerriss die Stille, die Krähen kreischten auf, doch sie stoben nicht auseinander. Stattdessen löste sich eine aus der Gruppe, als wolle sie sich die Beute holen. Einer der Männer lachte, als der herabstoßende schwarze Vogel mit dem fallenden Fasan kollidierte.

Das tote Tier fiel genau in die Mitte des Steinkreises. Sein Blut besudelte den von Reif überzogenen Boden.

Rob legte eine Hand auf Ross’ Schulter, die drei Männer grinsten, und einer von Hughs aufgeweckten Labradors rannte los, um den Vogel zu apportieren. »Hast du die verrückte Krähe gesehen?«

Kopfschüttelnd lachte Ross noch einmal. »Die wird leider keinen Fasan zum Abendessen haben.«

»Aber wir«, sagte Hugh. »Das sind drei für jeden, genug für ein Festmahl.«

Die Männer sammelten ihre Vögel ein, und Rob zog einen Selfiestick aus seiner Tasche.

»Allzeit bereit.«

So posierten sie – drei Männer mit von der Kälte roten Wangen und alle drei mit den für die MacLeods typischen blauen Augen, bevor sie sich vergnügt auf den Weg zurück zur Farm machten.

Hinter ihnen sickerte das Blut des Vogels, wie von einer Flamme erhitzt, in den gefrorenen Boden ein. Und pulsierte, während der Schild zerbrach.

Die erfolgreichen Jäger marschierten vorbei an Feldern mit Wintergerste, die sich im leichten Wind bewegte, und an Schafen, die auf einem Hügel grasten. Eine der Kühe, die Hugh zur Mast hielt, muhte träge.

Während sie so ausschritten, wähnte sich Ross einen zufriedenen Mann, der auf der Farm im Kreise seiner Lieben ein Jahr beendete und ein neues begann.

Rauch stieg aus den Kaminen des gedrungenen Steinhauses auf. Als sie näher kamen, rannten die Hunde – sie hatten ihr Tagwerk getan – voraus, rauften und spielten. Die Männer kannten die Regeln und hielten auf eine kleine Scheune zu.

Hughs Millie, eine Bauerstochter und nun selbst Bäuerin, war unnachgiebig, wenn es um das Säubern von erlegtem Wild ging. Deshalb machten sie sich auf einer Bank, die Hugh eigens für diesen Zweck gezimmert hatte, daran, das selbst zu erledigen.

Sie unterhielten sich – über die Jagd, das bevorstehende Abendessen –, und Ross trennte mit einer scharfen Schere die Flügel des Fasans ab. Er säuberte ihn, wie es ihm sein Onkel beigebracht hatte. Einige Teile würden für eine Suppe Verwendung finden; sie wanderten in eine dicke Plastiktüte für die Küche. Andere landeten zur Entsorgung in einer weiteren Tüte.

Rob hob einen abgetrennten Kopf hoch und krächzte laut. Ross musste unwillkürlich lachen. Er schaute zu ihm hinüber und verletzte sich an einem gesplitterten Knochen den Daumen.

»Mist«, murmelte er und versuchte, mit dem Zeigefinger das Blut zu stoppen.

»Solltest du eigentlich wissen, dass man da aufpassen muss«, meinte Hugh leicht spöttisch.

»Jaja. Bin halt ein alter Trottel.« Als er die Haut zurückschob, vermischte sich das Blut des Vogels mit seinem.

Nach getaner Arbeit wuschen sie die Vögel in eisigem Wasser aus dem Brunnen und brachten sie ins Haus.

Die Frauen saßen in der großen Bauernküche, wo es herrlich nach Gebackenem roch und die Wärme des Feuers im Kamin Gemütlichkeit verbreitete.

Es kam Ross alles so anheimelnd vor – eine perfekte Szene, die sein Herz berührte. Er legte seine Vögel auf die breite Anrichte und umarmte seine Frau mit einer großen Geste, die sie zum Lachen brachte.

»Die Rückkehr der Jagdgenossen.« Angie gab ihm einen raschen, schmatzenden Kuss.

Hughs Millie mit ihrer hochgesteckten roten Lockenmähne begutachtete die Vögel und nickte anerkennend. »Genug für den Festbraten, und für die Party reicht es auch noch. Vielleicht sollten wir Fasanenpastetchen mit Walnuss machen. Ich weiß noch, dass du die gern magst, Robbie.«

Der klopfte sich grinsend auf sein Bäuchlein. »Vielleicht sollte ich losgehen und noch ein paar holen, damit die anderen auch alle was abbekommen.«

Robs Frau, Jayne, bohrte ihm einen Finger in den Bauch. »Da du allmählich etwas dick wirst, solltest du dir dein Essen erst verdienen müssen.«

»Genau«, stimmte Millie zu. »Hugh, du und die Jungs schafft den langen Tisch in die große Stube. Bringt auch die Spitzendecke meiner Mutter und die festlichen Kerzenständer mit. Und stellt noch ein paar Stühle aus dem Kämmerchen dazu.«

»Ganz egal, wo wir sie hinstellen, du willst sie ja doch wieder anderswo haben.«

»Dann fangt am besten gleich damit an.« Millie beäugte die Vögel und rieb sich die Hände. »Gut, Ladys, schmeißen wir die Männer raus und widmen uns dem Essen.«

Sie bekamen ihr Festmahl, gebratenen wilden Fasan, gewürzt mit Estragon und gefüllt mit Orangen, Äpfeln, Schalotten und Salbei, auf einem Bett aus Karotten, Kartoffeln und Tomaten. Dazu Erbsen, gutes dunkles Brot aus dem...