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Der Sohn des Tuchhändlers

Richard Dübell

 

Verlag beTHRILLED, 2018

ISBN 9783732553990 , 461 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR

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KAPITEL 1


25. Tag des Lenzmonats, 1486 A.D.

Verkündigung des Herrn

Judex crederis esse venturus

In te, Domine, speravi

Non confundar in aeternum

Salvum fac populum tuum

Judex crederis

»GOTT DER HERR BLICKT AUF DIESE STADT«, brüllte der Mönch. »Und Gott WEINT

Die Anzahl seiner Zuhörer war beträchtlich. Er stand in taktisch günstiger Position gleich außerhalb des Hauptportals der Sankt-Andreas-Kirche mitten in der Vorstadtgasse, und alles, was es gebraucht hatte, um die Zuhörermenge zu bannen, waren ein paar Dutzend Neugierige, die stehen blieben und die Eingänge der nächstgelegenen Gassen verstopften. Dafür, dass es Neugierige gab, hatte der Mönch gesorgt: Er stand auf einer schwankenden Staffelei, die von zwei Chorknaben aus dem Dom nur mangelhaft stabilisiert wurde; und als die ersten Messbesucher ins Freie gestrebt waren, hatte er sich die Kutte bis zum Bauchnabel aufgerissen und laut zu kreischen begonnen wie einer, der auf dem Scheiterhaufen steht und merkt, dass das Ganze kein Spaß mehr ist.

Die Leute blieben stehen und gafften. Die Nachfolgenden strömten aus der Kirche und drängten die Gaffer beiseite, aber da diese ihr Recht zu gaffen behaupteten und sich gegen den Andrang wehrten, wurde aus der Menge bald ein unentwirrbarer Knäuel Leiber, der Schimpfwörter und Flüche absonderte und ganz allgemein die Energie für eine baldige Prügelei ansammelte.

Friedrich von Rechberg und ich waren mittendrin.

»Das muss dieser Kapuzinermönch aus Italien sein«, schrie ich Rechberg ins Ohr. »Er hat sich durch das ganze Reich bis hierher gepredigt und soll seit einer oder zwei Wochen beim Kardinal leben. Fryderyk Jagiello hat scheinbar einen Narren an ihm gefressen.«

»Und was predigt er?«, schrie Rechberg zurück.

»Die frohe Botschaft der Christenheit …«

»Gott der Herr WEINT bittere TRÄNEN!«, donnerte der Mönch.

Die Gesichter der Menschen um uns herum wirkten in der Mehrzahl ungeduldig. Die meisten wandten die Köpfe, um nach einem Ausweg aus der Menge zu suchen; ein paar Glückspilze am Rand schafften es, sich abzusetzen. Sie hatten bis gerade eben eine Stunde lang den Rücken des Priesters der Sankt-Andreas-Kirche betrachtet, dessen Eigenart es war, die Messe flüsternd zu halten und selbst die Wandlung mit so sparsamen Bewegungen auszuführen, dass ein unaufmerksamer Beobachter ihn für eine lebensgroße Heiligenfigur halten konnte – sie hatten, selbst wenn sie mir in all den Jahren meines Hierseins gläubiger und ernsthafter erschienen waren als die Bewohner der Städte des Deutschen Reichs, für heute einfach genug von unverständlichen Predigten.

»Wieso spricht der Bursche in Latein?«, fragte Friedrich von Rechberg. »Ich dachte, hier spricht man entweder deutsch oder polnisch?«

»Auf Latein hört sich selbst Gegeifer edel an.«

»Der Herr SIEHT die gottesfürchtigen Menschen in dieser Stadt«, schrie der Mönch. »Er SIEHT die fleißigen Handwerker, von deren Tagwerk die Gassen widerhallen; er SIEHT die treuen Schreiber, die den Reichtum des Landes aufzeichnen; er sieht die kräftigen Baumeister, die den Ruhm der Stadt in Stein meißeln und in die Höhe bauen; er SIEHT die ehrlichen Dienstboten und die tapferen Scharwächter und die eifrigen Gesellen und die besorgten Betbrüder und die aufopferungsvollen Magister an der Universität und ihre klugen Studenten …«

»Komm zur Sache!«, rief jemand in der Menge, der den Prediger offenbar verstand. Spärliches Gelächter ertönte. Den meisten war nicht klar, worauf der Schreihals anspielte.

»Schmeißt ihn von der Leiter!« Jetzt kamen die Zwischenrufe auf Polnisch und ernteten bedeutend mehr Aufmerksamkeit im Publikum. Die deutschsprachige Oberschicht verschmähte die Sankt-Andreas-Kirche, wenn es darum ging, sich mit Gott in Verbindung zu setzen; sie hing der Ansicht an, dass Gott sie in der Marienkirche besser vernahm. Wer hierher zum Beten kam, gehörte zu den Handwerkszünften oder zum Dienstpersonal in den Häusern der ausländischen Gesandten im südlichen Teil der Vorstadtgasse und war von reiner polnischer Abstammung.

»Oder hängt ihn daran auf.«

»Dann hätten wir wenigstens eine Entschädigung!«

Noch lauteres Gelächter.

»Wenn du bis zum Mittag nicht fertig bist, tun wir’s!«

»Eine Entschädigung wofür?«, fragte Rechberg.

»Die Hinrichtung auf dem Marktplatz«, sagte ich.

»Ah ja … der Gesetzlose, der die Tochter des Kürschners geschändet und erschlagen hat …«

»Ein Bettler«, sagte ich. »Es war ein Bettler. Einer der Gesellen bot ihm etwas zu Essen an, wenn er für ihn eine Weile das Leder walken würde. Der Geselle hatte nämlich Sehnsucht nach seinem Liebchen in der Stadt und brauchte eine Ablösung. Der Bettler setzte sich also hin und bearbeitete das Leder; da kam eine der Mägde des Kürschners in die Werkstatt, sah den Fremden und begann ihn zu beschimpfen und nach der Wache zu rufen. Der Bettler versuchte sie zum Schweigen zu bringen, doch als er ihr den Mund zuhalten wollte, schlug sie ihn mit dem Steinguttopf über den Schädel, den sie bei sich trug. Er stieß sie von sich, und sie fiel mit dem Hintern ins Feuer und begann jetzt WIRKLICH zu brüllen. Die Nachbarn stürzten herein und sahen den Bettler, dem das Blut von der Stirn lief, über die Magd gebeugt, deren Hinterteil qualmte … wie hätten sie das wohl deuten sollen?«

»Meine Güte«, sagte Rechberg. »Das ist ihm zum Verhängnis geworden?«

»Nein, das noch nicht. Der arme Teufel gab Fersengeld. Auf die Straße hinaus konnte er nicht, da standen die Nachbarn. Da stürzte er die Treppe hinauf ins Obergeschoss, platzte blindlings durch die nächste Tür und erwischte die Weiberschlafkammer, wo die Frau des Handwerkers gerade ein Kleid anprobierte, um es zu ändern. Die Alte schrie sofort: »Vergewaltigung!« und ließ das Kleid fallen, um im Hemd auf den Bettler loszugehen und ihn mit der Elle zu verdreschen. Er versuchte zum Fenster rauszuspringen. Die Alte ließ nicht ab von ihm, und …«

»… da hat er die Tochter gepackt und auf sie eingeschlagen.«

Ich sah Friedrich von Rechberg an. »Nein, die war gar nicht im Zimmer. Er kriegte das Fenster nicht auf und raste wieder zur Tür hinaus, wo die Nachbarn gerade die Treppe heraufkamen und die kreischende Alte verstärkten. Jetzt suchte er sein Heil auf der Flucht ins Dachgeschoss, die Nachbarn und die Kürschnermeisterin immer hinterher. Im Dachgeschoss war die Ladeluke im Giebel geöffnet, und der Bettler rannte darauf zu und …«

»… die Tochter stellte sich ihm in den Weg, und er warf sie hinaus, und sie zerschmetterte unten in der Gasse.«

»Wollen Sie’s nun hören oder nicht?«

»Entschuldigung«, sagte Rechberg.

»… alles Betteln um VERGEBUNG wird nichts nützen, wenn der Zorn des Herrn die Gottlosen richtet. DIES IRAE, sage ich euch, DIES IRAE …!«

»Also, der Bettler sieht, dass eine Ladung am Galgen hängt. Er weiß nicht, wie groß sie ist oder wie sicher der Galgen, aber hinter ihm schreien sie schon nach seinem Blut. Er tut das, was er für seine einzige Überlebenschance hält – er springt ins Leere hinaus und greift nach dem Tau! Er sieht, dass eine Ladung Lederballen, auf eine Art hölzerne Palette gebunden, am Tauende baumelt … er kriegt es zu fassen …«

»Aaaah!«, seufzte Rechberg überrascht.

»Genau, das sagten alle anderen auch. Der Bettler hockt jetzt rittlings auf der Ladung, die weit ausschwingt, luftig und unbequem, aber fürs Erste gerettet.« Ich spähte Rechberg unter die Hutkrempe, aber er starrte mich nur mit großen Augen an und hing an meinen Lippen, fern einer weiteren Unterbrechung. »Dann rutschte der Splint, der die Seilrolle oben am Galgen fixierte, halb heraus, und nach einem Schreckmoment wurde der Bettler gemächlich abgewickelt, dem sicheren Boden entgegen.«

Rechberg blinzelte überrascht.

»… und wenn es auch scheint, dass die Gerechten leiden und die Sünder ihrer Strafe ENTGEHEN, so TÄUSCHT euch nicht, ihr Unchristen …!«

»Natürlich nur, bis die Knechte oben zupackten und verhinderten, dass er gänzlich in Sicherheit nach unten sank. Wieder schwebte der arme Teufel zwischen Himmel und Hölle. Sie können sich vorstellen, welche Beschimpfungen in der Zwischenzeit auf ihn herunterprasselten, vornehmlich von der Kürschnermeistersgattin.«

»Was ich mir nicht vorstellen kann, ist, wie die Tochter des Meisters ins Bild kommt.«

»Sofort. Plötzlich schreit die Alte, man solle den Splint ganz herausreißen, dann würde der Hundsfott zu Tode stürzen … dem Leder könne ja nichts passieren, und um die Palette sei es sicher schade, aber sie ende für einen guten Zweck – und gesagt, getan: ein Ruck zurück, der Splint fliegt heraus, der Bettler klammert sich entsetzt an dem nutzlos gewordenen Tau fest, abwärts geht die Reise …«

Rechberg griff unwillkürlich eine Hand voll Luft und starrte mich an.

»Doch da trat unten die Tochter des Hauses vor die Tür, um nachzusehen, welcher Lärm da aus dem Obergeschoss tobte, und …«

»NEIN«, schrie der Mönch so...