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Bittertrauben - Kriminalroman

Karin Joachim

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2018

ISBN 9783839255841 , 282 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Tag 1 – Freitagnachmittag


Die Bremsen ihres Wagens quietschten, bis er zum Stehen kam. Hinter sich hörte sie ein leises Stöhnen. Obwohl Usti auf der Rücksitzbank angegurtet war, hatte ihn das Bremsmanöver ordentlich durchgeschüttelt. Er begann vor Aufregung zu hecheln. Glücklicherweise hatte sie das Auto, das von der Brücke auf die Bundesstraße einbiegen wollte, noch rechtzeitig bemerkt. Rechtzeitig war jedoch relativ, denn nur wenige Zentimeter trennten die beiden Motorhauben voneinander. Jana hatte völlig unterschätzt, wie eng die Brückendurchfahrt war. Wenigstens hatte sie das Lenkrad nicht verrissen, sonst wäre sie vermutlich in der steinernen Brüstung gelandet. Reumütig suchte sie den Blickkontakt zum Fahrer des Autos, das immer noch auf der Brücke stand und nicht weiterfahren konnte, da sie die Straße blockierte. Das aufgeregte Wedeln hinter der Windschutzscheibe ließ nur einen Schluss zu: Sie sollte schleunigst den Rückzug antreten. Aber wie? Mittlerweile hatte sich hinter Jana eine Schlange gebildet. Sie versperrte allen Fahrzeugen den Weg, auch jenen, die aus der anderen Richtung kamen. Erstes Hupen war zu hören. Zerknirscht legte sie den Rückwärtsgang ein und manövrierte langsam zurück, bis der Rückfahrassistent energisch zu piepen begann. Noch einmal setzte sie nach vorn und dann wieder zurück, bis sie die Fahrbahn endlich frei gemacht hatte. Der Fahrer, den sie so unsanft ausgebremst hatte, warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, während er ahrabwärts an ihr vorbeizog. Hinter ihr erklang erneut ein Hupen, diesmal wesentlich bestimmter als zuvor. Sie hasste es, als schlechte Autofahrerin aufzufallen, die sie nicht war. Die Tarnkappe, die sie sich wünschte, ließ auf sich warten. Immerhin realisierte sie, dass zumindest ein Fahrer ihr durchaus wohlgesinnt war. Mit Lichtzeichen und Winken gewährte ihr der Mann im ersten Wagen auf der Gegenfahrbahn Vorfahrt. Jana bedankte sich artig, legte den ersten Gang ein und steuerte vorsichtig auf die Brücke über die Ahr. Vor ihr lag der kleine Ort Rech. Sie seufzte leise und atmete erleichtert auf, als ihr Navi signalisierte, dass sie ihr Ziel in wenigen Metern erreicht haben würde.

Vor dem Weingut mit den frei liegenden Holzbalken brachte sie ihr Auto zum Stehen. Nachdem sie sich versichert hatte, dass ihrem Hund beim kleinen Zwischenfall von eben nichts passiert war, stieg sie aus und ging zum Eingang des Weingutes. Vergeblich suchte sie nach einer Klingel. Schließlich drückte sie die Klinke der schweren Eingangstür herunter und stellte fest, dass sich diese öffnen ließ. In der dahinter liegenden Halle schlug ihr ein leichter Weingeruch entgegen. Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, da näherte sich Jana bereits ein Mädchen, das dort zu arbeiten schien.

»Guten Tag, Sie wünschen?«, fragte es und wischte seine feingliedrigen Hände an der weinroten Schürze ab.

»Ich bin Jana Vogt und möchte meine Fotos für die morgige Ausstellung vorbeibringen.«

»Ach ja«, antwortete das Mädchen. Eine dunkelblonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, die sie versuchte wegzupusten. »Frau Bönisch hat mir davon erzählt. Die kommen in den Weinkeller. Wo haben Sie die denn?«

»Mein Auto steht vor der Tür.«

»Oh, das werden Sie wegfahren müssen, die Straße ist an der Stelle sehr eng. Ich komme mal mit raus.«

Mit großen Schritten, die gar nicht zu dem zarten Mädchen passten, eilte es zur Tür, um sie für Jana aufzuhalten. Jana bedankte sich und ging zum Kofferraum, aus dem sie die ersten der auf ein festes Trägermaterial aufgezogenen Fotos entnahm. Gerade wollte sie diese auf den Boden stellen, als auf der Straße ein heller Kastenwagen auf sie zugerollt kam.

»Ich glaube, Sie müssen hier weg. Der kommt nicht durch«, bemerkte das Mädchen. »Am besten Sie fahren auf den Parkplatz hinter dem Haus. Ich kann ja schon mal diese Fotos ins Weingut bringen.«

»Wie komme ich denn dahin?«

»Sie wenden vor der Kirche, fahren dann einige Meter zurück bis zur ersten Straße, die links abgeht. Da fahren Sie rein und wenn Sie am alten Schulgebäude vorbeigefahren sind, erreichen Sie den Parkplatz.«

Jana bedankte sich und signalisierte dem ungeduldig wartenden Fahrer des Kastenwagens, dass sie Platz machen würde. Während sie in ihr Auto einstieg, rief ihr das Mädchen zu: »Wenn Sie gleich wiederkommen, hat die Chefin bestimmt Zeit für Sie!«

»Winzerschmaus« stand auf der Schiefertafel, die an der Rückseite des Weingutes aufgestellt war. Ein Pfeil wies den Weg zum Vordereingang. Jana hatte augenblicklich Bilder von einer Schinken-Käse-Platte garniert mit Weintrauben und Tomaten im Kopf. Vielleicht gab es dazu Bratkartoffeln. Ab und an mochte sie die kleinen, deftigen Gerichte, die einer Region ihren eigenen Charakter verliehen. Sie spielte gedankenversunken mit ihrem Autoschlüssel und atmete die kühle Frühlingsluft ein. Die Ruhe tat ihr gut und der kleine Zwischenfall eben an der Brücke war bereits vergessen. Als sie vorhin in Köln losgefahren war, hatte der übliche Freitagsstau auf den Ringen geherrscht und sie fast in den Wahnsinn getrieben. In ihrem Herz machte sich ein leichtes, wohliges Ziehen bemerkbar, als sie die Berge zu beiden Seiten der Ahr betrachtete. Immer wenn sie sich im Ahrtal aufhielt, entwickelte sich in ihr dieses entspannende Gefühl. Sie seufzte leise. Selbst als sie im Herbst nur wenige Wochen nach der Überführung des Doppelmörders wieder ins Tal zurückgekehrt war, ließ der Zauber der Landschaft keine unangenehmen Erinnerungen wach werden.

Letztes Jahr im Spätsommer hatte sich ihr Leben radikal verändert. Zunächst hatte sie dem Vorfall in einer Kölner Halle keine große Bedeutung beimessen wollen, aber das war ein Fehler gewesen, wie sie sich heute rückblickend eingestehen musste. Das Gefühl der schneidenden Messerklinge hatte sie noch Wochen später an ihrem Hals gespürt, auch als die Wunde längst verheilt und nur eine Narbe zurückgeblieben war, die sie mit einem Halstuch zu kaschieren versuchte. Die sichtbare Narbe kannten die Kollegen, nicht aber die seelische. Sie wussten zudem nicht, was mit ihr passiert war, nachdem ihr jemand das Messer an den Hals gesetzt hatte. Selbst Simone nicht, ihre Freundin und Kollegin in der Dienststelle bei der Kölner Kriminalpolizei.

Jana hatte versucht, so zu tun, als wäre sie die Alte, aber dem war einfach nicht mehr so.

Nach ihrer Rückkehr aus Ahrweiler hatte es zunächst so ausgesehen, als habe sie die traumatischen Ereignisse – sowohl den Zwischenfall in der Kölner Halle als auch das unerwartete Ende des Ahrweiler Falles – seelisch gut überstanden. Doch dann mehrten sich die Anzeichen dafür, dass dem nicht so war. Unbedeutende Bemerkungen der Kollegen ließen sie viel zu harsch reagieren, Einsätze, die ihr sonst nichts ausmachten, belasteten sie plötzlich, Kritik konnte sie kaum noch ertragen. Schließlich rastete sie bei einer Dienstbesprechung, bei der ihr Chef sie auf eine Nachlässigkeit ihrerseits hingewiesen hatte, vor allen Kollegen völlig aus, worauf ihr Chef ein Gespräch mit ihr führte und sie dazu drängte, einen Termin beim Polizeipsychologen wahrzunehmen. »So jedenfalls kann ich dich nicht mehr zu Einsätzen schicken«, hatte ihr Chef gemeint und ihr offenbart, dass er, der als Einziger über die wahren Begebenheiten in der Kölner Halle im Bilde war, sie in den Innendienst versetzen musste. »Zu deinem eigenen Schutz«, hatte er ergänzt. Nach dieser unerwartet deutlichen Ansage fiel es ihr nicht leicht, unbefangen mit ihm umzugehen und so vermied sie fortan lieber jedes Gespräch mit ihm, obwohl sie zu gerne in Erfahrung gebracht hätte, wen er eigentlich schützen wollte. Sich, weil er ihr kein Disziplinarverfahren angehängt hatte, oder sie vor sich selbst. Die Verärgerung über seine bevorzugte Mitarbeiterin konnte Jana nach einigem Abstand zu den Ereignissen nur allzu gut verstehen: Dass sie sich in Ahrweiler, in einem anderen Bundesland noch dazu, in die Ermittlungen von Kommissar Wieland eingemischt hatte, hätte sie ihren Job kosten können. Der Vorfall in Köln konnte für ein derartiges Fehlverhalten kaum als Entschuldigung herhalten, auch wenn sie psychisch angeknackst war. Sie hatte ihn enttäuscht.

Jana lehnte sich an die Kofferraumtür ihres Autos. Drinnen hörte sie Usti leise brummeln. Sie ließ ihren Blick schweifen. Jetzt im April wirkten die Weinberge noch recht verschlafen. Aber die vom blauen Nachmittagshimmel entsandten Sonnenstrahlen kitzelten Frühlingsgefühle wach. Und sie wärmten. Jana streifte ihre Strickjacke ab, öffnete den Kofferraum und legte die Strickjacke neben ihre Für-alle-Fälle-Tasche. Zwei große braune Augen schauten sie von der Rücksitzbank aus erwartungsvoll an. Sie konnte Ustis schmachtendem Blick nicht länger widerstehen, öffnete die Autotür, löste den Gurt von seinem Geschirr und ließ ihn herausspringen. Um alle Anspannung loszuwerden, schüttelte er sich kräftig und machte dabei ein paar Schritte vorwärts, was ziemlich komisch aussah.

»Hier geblieben!«, rief Jana und schaffte es gerade noch, den Karabiner der Leine an seinem Geschirr zu befestigen, bevor er sich davonschleichen konnte. An der Leine führte sie Usti zum Kofferraum, in dem noch die restlichen Fotos lagen. Es war so schön hier. Jana ließ sich auf die Ladefläche plumpsen und kraulte Usti gedankenversunken am Kinn, während sie mit einem Auge auf den blauen Himmel und einen dort oben im Segelflug kreisenden Mäusebussard schielte. Von der anderen Ahrseite drangen die Fahrgeräusche der Autos von der Bundesstraße an ihr Ohr. Aber abgesehen davon lag über Rech eine Glocke beschaulicher Zufriedenheit. Nur einmal hatte Jana bisher einen Abstecher hierher...