dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Flucht - Kay Scarpettas zweiter Fall

Patricia Cornwell

 

Verlag Hoffmann und Campe, 2009

ISBN 9783455402261 , 380 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

2


Auf meiner langen Fahrt nach Hause schien der Vollmond über Richmond. Nur die hartnäckigsten Kinder drehten noch ihre Halloween-Runden von Haus zu Haus. Die Scheinwerfer meines Wagens beleuchteten ihre grässlichen Masken und furchteinflößenden kleinen Silhouetten. Ich fragte mich, wie oft sie heute wohl vergeblich an meiner Tür geläutet hatten. Mein Haus war ganz besonders beliebt bei ihnen. Ich hatte keine Kinder und schenkte ihnen vielleicht deshalb immer übertrieben viele Süßigkeiten. Morgen würde ich vier volle Tüten Schokoladenriegel an meine Mitarbeiter verteilen müssen.

Als ich die Treppe hinaufstieg, begann das Telefon zu klingeln. Kurz bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete, riss ich den Hörer von der Gabel. Die Stimme war mir zunächst fremd, aber dann erkannte ich sie, und mein Herz schlug plötzlich schneller.

»Kay? Ich bin’s, Mark. Gott sei Dank bist du zu Hause …« Mark James’ Stimme klang so, als spräche er vom Boden eines Ölfasses, und ich konnte im Hintergrund Autos vorbeifahren hören. »Wo bist du?«, brachte ich heraus, und ich wusste, dass sich das so anhörte, als sei ich ziemlich entnervt. »Auf dem Highway 95, etwa achtzig Kilometer nördlich von Richmond.«

Ich setzte mich auf die Bettkante.

»In einer Telefonzelle«, fuhr er fort. »Du musst mir beschreiben, wie ich zu deinem Haus komme.« Ein lauter Lastwagen dröhnte vorüber, dann erst konnte er weitersprechen: »Ich würde dich gern sehen, Kay. Ich war die ganze Woche über in Washington und habe seit dem späten Nachmittag versucht, dich zu erwischen. Jetzt habe ich einfach auf gut Glück ein Auto gemietet. Ist das okay?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

»Ich dachte, wir könnten zusammen etwas trinken und ein wenig darüber reden, wie es uns ergangen ist«, sagte der Mann, der mir einmal das Herz gebrochen hatte. »Ich habe ein Zimmer im Radisson reserviert. Morgen früh fliegt eine Maschine von Richmond zurück nach Chicago. Ich dachte … Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, was Mark und ich zu besprechen hätten.

»Ist es okay?«, fragte er noch einmal.

Nein, es war nicht okay! Doch ich sagte: »Aber natürlich, Mark. Ich freue mich darauf, dich zu sehen.«

Nachdem ich ihm den Weg beschrieben hatte, ging ich ins Badezimmer, um mich frisch zu machen. Ich rekapitulierte. Dreizehn Jahre waren vergangen, seit wir zusammen Jura studiert hatten. Jetzt war mein Haar mehr grau als blond, und als ich Mark das letzte Mal gesehen hatte, trug ich es lang. Meine Augen waren auch nicht mehr so blau wie früher. Der unvoreingenommene Spiegel erinnerte mich unbarmherzig und kalt daran, dass ich die neununddreißig schon überschritten hatte und dass es so etwas wie Gesichtslifting gab. Mark war in meiner Erinnerung immer noch knapp fünfundzwanzig, wie damals, als er das Objekt meiner Leidenschaft und Abhängigkeit und schließlich meiner tiefsten Verzweiflung geworden war. Seit es mit ihm vorbei war, hatte ich nur noch gearbeitet.

Er fuhr anscheinend immer noch schnell und liebte ausgefallene Autos. Weniger als fünfundvierzig Minuten später öffnete ich meine Haustür und beobachtete, wie er aus seinem gemieteten Sterling stieg. Er war immer noch der Mark, den ich gekannt hatte, mit demselben durchtrainierten Körper und seinem selbstbewussten, langbeinigen Gang. Energisch stieg er die Stufen hinauf und lächelte ein wenig. Nach einer schnellen Umarmung blieb er einen Moment lang verlegen in der Diele stehen und wusste nicht, was er sagen sollte. »Trinkst du immer noch Scotch?«, fragte ich schließlich.

»Das hat sich nicht geändert«, erwiderte er und folgte mir in die Küche.

Ich holte den Glenfiddich aus der Bar und mixte ihm automatisch seinen Drink genau so, wie ich es vor so langer Zeit getan hatte. Zwei Schuss Whisky, Eis und einen Spritzer Selterswasser. Er folgte mir mit den Augen, als ich durch die Küche ging und die Drinks auf den Tisch stellte. Er nahm einen Schluck, starrte in sein Glas und ließ die Eiswürfel darin herumkreisen, so wie er es früher getan hatte, wenn er gestresst war. Ich sah ihn lange und aufmerksam an, seine eleganten Gesichtszüge, hohen Wangenknochen und seine klaren grauen Augen. Sein dunkles Haar färbte sich an den Schläfen etwas grau.

Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das sich langsam in seinem Glas drehende Eis. »Ich nehme an, du arbeitest jetzt bei einer Kanzlei in Chicago?«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute mich an. »Ich mache jetzt hauptsächlich Berufungen, nur ab und zu noch einen Prozess. Gelegentlich treffe ich Diesner, und von ihm weiß ich, dass du jetzt hier in Richmond bist.«

Diesner war der Chief Medical Examiner in Chicago. Ich sah ihn auf Kongressen, und wir saßen zusammen in einigen Komitees. Er hatte nie erwähnt, dass er Mark James kannte, und woher er über meine Verbindung zu Mark informiert war, war mir ein Rätsel.

»Ich habe den Fehler begangen, ihm zu erzählen, dass ich dich auf der Universität gekannt habe. Jetzt bringt er von Zeit zu Zeit die Rede auf dich, um mir einen Stich zu versetzen«, erklärte Mark, der meine Gedanken erraten hatte.

Das glaubte ich gern. Diesner war so mürrisch wie ein alter Ziegenbock und nicht gerade ein besonderer Freund von Strafverteidigern. Einige seiner theatralischen Schlachten im Gerichtssaal waren bereits Legende geworden.

Mark sagte: »Wie die meisten Forensiker ist Diesner immer für die Anklage. Wenn ich einen Mörder vertrete, bin ich für ihn automatisch der böse Bube. Manchmal schaut er bei mir rein und erzählt mir ganz beiläufig von einem Artikel, den du gerade veröffentlicht hast, oder von einem besonders schauerlichen Fall, an dem du arbeitest. Dr. Scarpetta. Die berühmte Chief Scarpetta.« Er lachte, aber nicht mit den Augen.

»Du behauptest, wir stünden immer nur auf Seiten der Anklage, und das ist nicht fair«, antwortete ich. »Es sieht nämlich nur so aus. Wenn unsere Beweise für den Angeklagten sprechen, kommt ein Fall gar nicht erst vor Gericht.«

»Kay, ich weiß doch, was los ist«, sagte er mit diesem Lass-es-gut-sein-Ton in der Stimme, an den ich mich noch sehr gut erinnerte. »Mir ist klar, was du täglich anschauen musst. Und wenn ich du wäre, würde ich die Schweinehunde auch am liebsten auf dem elektrischen Stuhl sehen.«

»Ja, du weißt, was ich anschauen muss, Mark«, fing ich an. Es war ein uralter Streit zwischen uns. Ich konnte es einfach nicht glauben. Er war noch nicht einmal fünfzehn Minuten hier, und wir knüpften genau dort wieder an, wo wir damals aufgehört hatten. Einige unserer schlimmsten Kräche hatten sich um genau dieses Thema gedreht. Als ich Mark zum ersten Mal traf, war ich bereits eine fertig ausgebildete Ärztin und Forensikerin und studierte in Georgetown Jura. Ich hatte die dunkle Seite des Verbrechens gesehen, die Grausamkeit und die sinnlosen Tragödien. Ich hatte mit meinen behandschuhten Händen in den blutigen Niederungen des Todes herumgewühlt, während Mark, der Wunderknabe von einer Elite-Universität, sich unter einem Schwerverbrechen das mutwillige Verkratzen des Lacks an seinem Jaguar vorstellte. Mark wollte damals Anwalt werden, weil sein Vater und sein Großvater bereits Anwälte gewesen waren. Ich war Katholikin, Mark Protestant. Meine Herkunft war italienisch, seine so englisch wie die von Prinz Charles. Ich war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, er in einem der wohlhabendsten Wohnviertel Bostons. Ich hatte mir eine Ehe mit ihm früher einfach himmlisch vorgestellt.

»Du hast dich nicht verändert, Kay«, sagte er. »Außer, dass du entschlossener und härter wirkst. Ich wette, dass man sich im Gerichtssaal ganz schön vor dir in Acht nehmen muss.«

»Ich glaube nicht, dass ich hart bin.«

»Das soll keine Kritik sein. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass du phantastisch aussiehst.« Er sah sich in der Küche um. »Und Erfolg hast du anscheinend auch. Bist du glücklich?«

»Ich mag Virginia«, antwortete ich und sah ihn dabei nicht an. »Das Einzige, was mir nicht so gut gefällt, sind die Winter hier, aber ich glaube, dass du es in dieser Hinsicht noch schlimmer getroffen hast. Wie kannst du es in diesen scheußlichen sechs Monaten nur in Chicago aushalten?«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt. Aber für dich wäre es nichts. Du als Gewächshausblume aus Miami würdest dort nicht einen einzigen Monat bleiben.« Er nippte an seinem Drink. »Bist du verheiratet?«

»Ich war es.«

»Hmmm.« Er legte die Stirn in Falten, während er nachdachte. »War da nicht ein Tony sowieso …? Jetzt fällt es mir ein. Du hattest da was mit Tony … Benedetti, richtig? Am Ende unseres dritten Jahres.«

Es erstaunte mich, dass Mark das bemerkt hatte, mehr noch, dass er sich daran erinnerte.

»Wir sind geschieden. Schon lange«, erwiderte ich.

»Das tut mir leid«, sagte er mit sanfter Stimme.

Ich griff nach meinem Drink.

»Hast du einen Freund, einen netten womöglich?«, fragte er.

»Im Moment habe ich niemanden. Ob nett oder nicht.«

Mark lachte nicht mehr so viel wie früher. Freiwillig und sachlich erklärte er: »Vor ein paar Jahren hätte ich fast geheiratet, aber es hat nicht hingehauen. Oder vielleicht sollte ich ehrlich sein und gestehen, dass ich in der letzten Minute panische Angst bekam.«

Es fiel mir schwer, zu glauben, dass er nie geheiratet hatte. Wieder ahnte er, was ich dachte.

»Das war nach dem Tod von Janet.« Er zögerte. »Ich war verheiratet.«

»Janet?«

Seine Eiswürfel kreisten wieder. »Ich lernte sie in Pittsburgh kennen, nachdem ich Georgetown verlassen...