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Dunkle Zahlen

Matthias Senkel

 

Verlag Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2018

ISBN 9783957575791 , 488 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR


 

Schaltelemente


Leningrad, 1948

»Nach Moskau! Nach Moskau!«, hieß es allerorten – in Büchern und in überfüllten Baracken, in provisorischen Kantinen und draußen vor den Kellerlöchern, in denen die Schüler heimlich rauchten, üble Kniffe austauschten oder eben Lehrer belauschten. Ja, sogar in Leningrad sehnten sich offenbar einige Erwachsene nach einer Zuzugsgenehmigung für Moskau. Leonids Mutter hingegen wollte nur an einen Ort: »Nach Kiew!«

Genauer gesagt zog es Irina Kyrillowna Ptuschkowa nach Feofania, in ein ehemaliges Kloster am Stadtrand von Kiew, das dieser Tage in ein technisches Laboratorium umgewandelt werden sollte.

»Dort wird es dir bestimmt auch gefallen, es liegt inmitten herrlicher Eichenhaine …« – dieses Argument überzeugte Leonid nicht. Immerhin waren die Vorstoßpfeile und Frontlinien zweimal über die Hauptstadt der Ukrainischen SSR hinweggezogen und hatten dabei auf der Schulwandkarte zahlreiche Nadellöcher hinterlassen. Eine Vorstellung davon, wofür diese Einstiche standen, hatte er bekommen, als er nach dem Ende der Blockade nach Leningrad zurückkehren durfte. Folglich glaubte er, nur Eins und Eins zusammenzählen zu müssen, um zu wissen, wie es um dieses Feofania sowie um alle anderen Viertel und Vororte Kiews bestellt sein mochte: Die Eichenhaine würden sich als Sperrzone erweisen, da dort zweifellos noch unzählige Minen und Blindgänger lägen. Wenngleich nah an der Wahrheit trug Leonid dies nicht sonderlich überzeugend vor. Wohl weil er wusste, dass sich seine Mutter daran erinnern würde, was er wenige Wochen zuvor für eine Wandzeitung geschrieben hatte. Und tatsächlich servierte sie ihm unverzüglich den Leitsatz seines Beitrags über den Wiederaufbau, einen Satz, den er aus dem Allunionsradio übernommen hatte: »Gerade dort, auf zweifach verbrannter Erde, wird heute eine bessere Zukunft erschaffen.«

Leonid seufzte.

»Papa wird uns auch dort finden, Ljontschik«, beschwor ihn seine Mutter, stieß jedoch auf taube Ohren.

»Du hast immer gesagt, du bräuchtest bloß ein Blatt Papier, um arbeiten zu können«, sagte Leonid.

Irina Kyrillowna, die erst kürzlich ihre Aspirantur erfolgreich abgeschlossen hatte, erklärte, mittlerweile sei so viel mehr möglich geworden und Feofania der denkbar beste Ort, um mit ihrer Forschung weiter voranzukommen. Und die Sonderrationen, die es dort gebe, würden ihnen beiden guttun. Wiederholt erwähnte sie einen Sergei Alexejewitsch Lebedew, der sich von ihrer Doktorarbeit beeindruckt gezeigt und sie zur Mitarbeit in seinem technischen Laboratorium eingeladen habe. Genaueres konnte oder wollte sie Leonid auch an den folgenden Abenden nicht verraten, doch ihre Augen glänzten vielsagend.

Wie das Eismeer unterm Vollmond

und wie ein Moor im Morgenlicht

– so zumindest hatte es Leonids Großmutter einst in ein Seidentuch gestickt. Tagsüber bedeckte dieses Tuch den Frisiertisch im Zimmer der Ptuschkows, weshalb die restlichen Verse meistens im Faltenwurf verborgen blieben. Doch Leonid wusste den eigentümlichen Zwieglanz im Blick seiner Mutter längst ganz prosaisch zu deuten. Denn auch sein sumpfbraunes linkes Auge offenbarte tiefe Wissbegierde. Und das Grau seines rechten Auges schimmerte bald altklug, bald abweisend, da er bereits viel gelesen hatte und einiges davon verstand oder allmählich zu verstehen begann. Wenn allerdings Staub oder Pollen seine Augen reizten, brach Tränenflüssigkeit seinen Blick ins Ungewisse, was schrecklich melancholisch wirkte. Dies hatten seine Lehrer darauf zurückgeführt, dass sein Vater auf der Rückfahrt von der Front verschollen war, und versucht, es ihm mit Hinweisen auf die Abertausenden Kriegswaisen leichter zu machen. Doch nun, da Leonid seinen Koffer aufs Neue verschnürte, nun, da er sich von erst kürzlich gewonnenen Freunden verabschiedete, nun, da es hieß, Leningrad ein weiteres Mal auf ungewisse Dauer zu verlassen, mussten sie ihn für tapfer halten: Denn noch blühte keine einzige Birke, und der schrecklichste Staub lag unter Schnee begraben.

••

Feofania, 1950

Das defekte Thermometer, dessen Bimetallfeder auf null Grad festhing, zeigte seit einer Woche zur Mittagsstunde die korrekte Temperatur an. Der Frühling nahte plangemäß. Gleichwohl war die Eisdecke der Teiche noch dick genug, dass Sergei Alexejewitsch seine Mitarbeiter weiterhin zum sonntäglichen Eisschwimmen anhalten konnte. Die nachgewachsene Eisschicht in der Badestelle hatte er bereits zerstoßen, die Haltebalken an den Rand gerollt. Nun rieb er seinen schmächtigen Oberkörper mit Schnee ab und stieg die ins Eis gehauenen Stufen hinunter. Nach ein paar genüsslich intonierten Atemstößen griff der Laborleiter seinen Gedankenfaden wieder auf: »―und man müsste an alle Röhren, phhha, eine korrespondierende Zusatzspannung anlegen, phhhha, das sollte das Signal stabilisieren, phhha, und die Verzögerung im Stromkreis reduzieren …«

Inzwischen hatten auch die Aspiranten und technischen Assistenten ihre Badetücher abgeworfen und tauchten nacheinander ins Wasser ein. Ihr Schnaufen und Stöhnen drang bis zu Leonid, der quer über den Teich №3 humpelte. Dabei stützte er sich auf Gehkrücken, und ein Steigeisen gab seinem Gipsfuß Halt. Außer ihm war es lediglich Hauswart Kuzmenko und dem chronisch verschnupften Sicherheitsoffizier Nitotschkin gelungen, sich der regelmäßigen Abhärtungsmaßnahme zu entziehen. Die beiden saßen auf Holzschemeln neben ihrem eigenen Eisloch und führten eine außerplanmäßige Versuchsreihe durch. Der alte Kuzmenko wechselte gerade den Köder, band eine noch größere, aus Reifenresten geschnittene Fischattrappe ins Vorfach und tauchte diese vorm Auslegen in ein Einweckglas voll Brühe, eine ölige Melange aus zerkochten Sprottenschwänzen. Kaum war der triefende Köder in die Tiefe gesunken, schlug Kuzmenko die Angelschnur hart an. Nitotschkin lachte, als er sah, wie mühelos der Alte die Beute einholte: »Wohl noch ein Fritzenstiefel für deine Sammlung.«

Doch schon zeigte sich die spitze Schnauze eines Hechts an der Wasseroberfläche. Kuzmenko stieß seinen Schemel um, als er den moosbewachsenen Fisch auf die Eisfläche hievte.

»Was heißt hier Stiefel? Würde mich nicht wundern, wenn wir ein ganzes Bein in seinem Magen fänden«, keuchte er. Der Raubfisch klatschte dazu mit den Flossen aufs Eis, als zolle er dem Alten Respekt. Dabei riss er das Maul auf und presste Blutbläschen aus seinem randvollen Schlund.

Nein, nicht bloß Blutbläschen: »Euelufschmekimmanonich!«, hörte Leonid aus dem Blubbern heraus. Doch schon übertönte Nitotschkin den Hecht: »Schauen Sie dort, Kuzmenko, an seiner Rückenflosse.«

Mit der Linken zückte Nitotschkin seinen Dolch und setzte zwei gekonnte Schnitte, trennte eine Bronzeklammer aus der Flossenhaut heraus.

»Da ist etwas eingraviert«, rapportierte er und rieb die Klammer am Mantelsaum blank. »Esox lucius rex. Markiert und wieder ausgesetzt im Jahre achtzehn … achtzehnhundertvierundachtzig? Zurückzugeben an E.I.W. Akademie der Wissenschaften, SPB. Das soll wohl ein Scherz sein«, ging der Sicherheitsoffizier den alten Kuzmenko an. Dieser entfernte den Haken aus dem Maul des Hechts, entwand ihm vorsichtig den Köderfisch.

Dem Hecht gelang es nun, die Kiemenklappe so weit zu öffnen, dass sich sein Kopf ein wenig zur Seite hob. Mit goldenem Auge blickte er Leonid an und stieß die ungenießbare Luft in einem Schwall hervor: »Teurer Muschkote, lass mich frei, und ich werde dir drei Dienste erweisen!«

Leonid warf einen Seitenblick auf die beiden Männer. Diese schienen sich von der Offerte des Fisches überhaupt nicht angesprochen zu fühlen.

»Drei Dienste?«, hauchte er.

»Musst bloß sagen: Auf des Hechtes Geheiß, nach meinem Willen sei’s, und schon―«

»Jaja, ich weiß. Aber wieso immer drei? Wieso nicht zwei? Oder zehn?«

»Ach herrje, noch einer von dieser Sorte«, stieß der Hecht hervor, »bist wohl auch ein Götzendiener des―«, weiter kam er nicht. Der Hecht keuchte bloß noch und krümmte sich unter Nitotschkins Sohle.

»Hören Sie auf, mich zum Narren zu halten, Bürger Kuzmenko!«, forderte der Offizier und stieß den Fisch im Affekt noch weiter vom Eisloch weg. »Wer sonst sollte diese kindische Markierung angebracht haben?«

Damit warf er dem Hauswart die Bronzeklammer vor die Stiefel und stapfte davon. Der Hecht aber verlor zusehends an Kraft, das Klatschen seiner Schwanzflosse klang längst nicht mehr beifällig.

»Ich schlage vor«, japste er, »du wirfst mich sofort ins Wasser zurück, chh, und liest in einer ruhigen Minute bei Propp...