dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Leinsee

Anne Reinecke

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257608748 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

{7}Kanarienvogelgelb und silbern


Dieses Gelb war unangemessen. Woher die Farbe kam, konnte Karl sich nicht erklären. Soweit er sich erinnerte, hatte er nichts Gelbes gegessen. Seit zwanzig Minuten kotzte er sich – ja, was eigentlich – aus dem Leib. Kanarienvogelgelb in silberner ICE-Kloschüssel, ganz hübsch, ein schönes Bild für – ach, auch egal.

Mara hatte ihm verboten, mit dem Auto zu fahren, weil er betrunken sei und durch den Wind.

Mara. Als der Anruf gekommen war, war sie ans Telefon gegangen. Sie hatte die Stirn gerunzelt und gesagt: »Ja. Einen Moment.« Sie hatte ihm den Hörer gereicht und ihn nicht mehr aus den Augen gelassen, die Hand auf der Brust in Ahnungspose, zu allem Überfluss auch noch umleuchtet von der Sonne, die hinter ihr durchs Fenster fiel. Mara Dolorosa.

Wahrscheinlich holte sie gerade sein schwarzes Jackett aus der Reinigung. Das war eigentlich für die Vernissage gewesen. Praktischer Zufall, dachte {8}Karl und ärgerte sich sofort darüber. Andererseits: Irgendetwas musste er ja denken, er konnte ja nicht einfach aufhören damit, und dieser Gedanke war genauso gleichgültig wie jeder andere. »Soll ich mitkommen?«, hatte Mara gefragt, und Karl hatte den milden Ton in ihrer Stimme nicht ertragen und gesagt: »Nein. Komm dann zur Beerdigung.«

Erhängt, hatte der Mann am Telefon gesagt. Karl überlegte seitdem, wie das aussehen musste: sein Vater, erhängt. Am Lampenhaken, im Salon, in Leinsee. Aber er bekam nicht mal mehr zusammen, wie sein Vater im Leben ausgesehen hatte. Vor allem das Gesicht fehlte. Er erinnerte sich nur an den doppelköpfigen Umriss seiner Eltern, Arm in Arm in flackernden Fernsehbildern. Ada und August Stiegenhauer, das Künstlerpaar, die Ikonen des späten zwanzigsten Jahrhunderts, leuchtend und schön, abwechselnd redend und nickend. Wenn er sich anstrengte, sah Karl seine Mutter vor sich. Dunkle Augen, geschwungene Lippen, viel Stirn und scharfe Brauen in Schwarz. Das Gesicht des Vaters aber hatte er verloren. Nicht mal mehr ungefähr hatte er es vor Augen. Stattdessen die schöne, konkrete Oberfläche der Silberschüssel.

Früher hätte jemand in seiner Situation das Gleisbett durch das Kloloch sehen können, dachte Karl, das wäre vielleicht ein tröstlicher Anblick {9}gewesen, das gleichmäßige Vorbeiziehen der Schwellen, wahrscheinlich tröstlicher als die Landschaft. Er versuchte, den Gedanken festzuhalten. Aber da musste er schon wieder kotzen.

Rachen, Zunge, Nase, alles brannte. Der Schmerz tat gut. Das war wenigstens eine Wahrnehmung. Was Karl verrückt machte hier drin, war das Fehlen der Geräusche. Kein Rattern, nichts. Alles, was er hörte, kam aus ihm selbst oder von anderen Menschen an Bord, Schritte und Gemurmel im Gang.

Karl stand auf und stützte sich auf das Waschbecken. Sein Gesicht im Spiegel war nicht zu fassen, es kippte hin und her wie ein Vexierbild. Er griff sich ein paar Papierhandtücher, hielt sie unters Wasser und wischte sich den Mund ab. Im Spiegel fischte er nach seinen Augen, als er sie hatte, fixierte er sie einen Moment lang, atmete zweimal ein und aus und trat dann auf den Gang hinaus, in die besorgten Blicke der wartenden Fahrgäste.

Wahrscheinlich hatten sie die Kotzgeräusche gehört. Und alles in allem war er wohl kein besonders erbaulicher Anblick. Er schwitzte und fror. Außerdem spürte er deutlich, dass er nicht unerheblich geschrumpft war, das musste irgendwie mit der Fahrtrichtung zusammenhängen. Vielleicht irritierte die Leute auch, dass er ein Kippbild war. Also glotzten sie eben, was sollten sie machen, das {10}hatte er erwartet. So höf‌lich er konnte, nickte er allen der Reihe nach zu, dann hangelte er sich zurück in sein Abteil.

Dort war es etwas besser, dort waren es nur noch zwei, beide allein reisend, beide mit Buch, eine junge Frau im blauen Kleid, mit Zopf und nackten Füßen in Sandalen und eine etwas ältere im Trenchcoat, mit hautfarbenen Strümpfen. Um zu seinem Platz zu kommen, musste er kompliziert über ihre vier Beine steigen. Wahrscheinlich roch er irgendwie, vielleicht hatte er auch ein bisschen geflucht, als er seine Füße zwischen ihre zu setzen versuchte, jedenfalls glotzten sie auch, aber nur kurz, dann klebten sie ihre Blicke in die Bücher, und Karl war ihnen dankbar und legte seine Schläfe ans Fenster, um das Glas zu fühlen und zu sehen, wie sich die Landschaft von ihm wegbewegte.

Die norddeutsche Tiefebene war fortgezogen worden, stattdessen gab es jetzt Wald ohne Horizont. Bäume und Bäume und Bäume auf irgendeinem Gelände, das sich dicht neben dem Fenster auf‌türmte und den Sichtraum abschloss wie eine Wand. Das musste Hildesheim sein, so ungefähr. Aus dem Fenster zu sehen half ein wenig gegen den Schwindel. Das Schrumpfen musste tatsächlich eine Folge des Rückwärtsfahrens sein. Das war plausibel. Mit der Ursache vor Augen war es leichter zu {11}ertragen: Er schrumpf‌te, aber wenigstens wurde er nicht verrückt.

Karl nahm sein Handy aus der Hosentasche und legte es vor sich auf das Tischchen. 16:19. Keine neuen Nachrichten. Also operierten sie noch. Also lebte sie noch. Sobald es etwas Neues gäbe, wollten sie sich melden. Aber gleich kam Hildesheim. Und danach kamen immer diese vielen Tunnel, das wusste er noch. Da würde es Funklöcher geben, und wenn die Mutter ausgerechnet dann starb, würden sie ihn nicht erreichen.

»Raumforderung«, das Wort hatte Karl gefallen, es klang nach Sternfahrt und Kraft und so weiter, und er hatte es noch nie gehört. Seine Mutter würde mit hoher Wahrscheinlichkeit noch heute einer Raumforderung erliegen. Karl hatte nichts gesagt, nur ins Telefon geatmet, und der Arzt hatte »Hirntumor« gesagt und »Koma« und »plötzlich« und »faustgroß«, und Karl hatte geatmet, und der Arzt hatte »Notoperation« und »mit hoher Wahrscheinlichkeit« gesagt und »nicht« und »keine Zeit zu verlieren« und »trotz allem unser Bestes«. Und Karl hatte geatmet und an den Schädel seiner Mutter gedacht, an ihre Stirn, an ihren Hinterkopf. Dunkle Locken. Einmal hatte er seine Nase in ihr feuchtes Haar gehalten. Da musste er drei oder vier gewesen sein. Seine Mutter war mit ihm auf dem {12}Rücken durch den Garten gerannt, nackt, unterm Strahl des Rasensprengers, hin und her, immer wieder. Sie hatte laut gelacht, und Karl hatte sich an ihr festgeklammert und geschrien und nicht genug bekommen.

Der Vater hätte ihn anrufen müssen, verdammte Scheiße. Nicht einmal deswegen hatte er ihn anrufen können. Stattdessen hatte dieser Mann angerufen und der Arzt, und der Vater baumelte währenddessen vom Lampenhaken im Salon, weil er es nicht hatte aushalten können.

Und jetzt kamen auch schon diese scheiß Tunnel, und vielleicht starb die Mutter an der Faust in ihrem Gehirn, und woher sollte er das dann wissen in diesem netzlosen Schwarz, und hatten sie ihr alle Haare abrasiert oder nur die Stelle, an der sie ihren Kopf aufmachten, und welche Stelle war das, und würden die Haare dann nach ihrem Tod noch nachwachsen, und wo hatte er das gelesen, und weinte er etwa?

Keine Ahnung, verschwommenes Schwarz sah schließlich nicht anders aus als klares Schwarz, was er jetzt brauchte, war ein Wodka, ja. Vielleicht würde dann auch endlich das Schrumpfen aufhören, das war unangenehm und peinlich.

Mara hatte ihn keinen Wodka mitnehmen lassen, also musste er in den Speisewagen, also musste er {13}wieder über die vier Beine steigen: »Pardon.« Er war auf einen Sandalenfuß getreten, die Zopf‌frau zog die Augenbrauen hoch und schnaubte, Karl musste sich nochmals entschuldigen, er griff nach seiner Tasche, um nicht wieder zurückzumüssen.

Zu Karls Erleichterung war das Bordrestaurant fast leer. Es gab keinen Wodka, es gab nur Bier, aber das war besser als nichts. Er stürzte es hinunter, das half ein bisschen. Die weiße Tischdecke half auch, Karl befühlte sie gerührt, legte sein Telefon darauf und bestellte ein zweites Bier. Er putzte sich die Nase mit der Serviette, nahm die Tunnelschwärze hinter der Scheibe als Spiegel und strich sich das Haar glatt. Wenn seine Mutter jetzt starb, dann saß er wenigstens an einem Tisch mit Tischdecke.

Aber als es wieder Netz gab, in Göttingen, war sie noch nicht gestorben, und auch in Kassel noch nicht. Karl trank Bier um Bier und rechnete. Sie operierten jetzt seit über acht Stunden. Draußen wurden Weiden vorbeigespult, mit Tieren darauf, vielleicht hätte man sie zählen können, Schafe und Kühe.

Er streichelte die Tischdecke und wartete. Kassel, Fulda, nichts. Frankfurt, nichts. In Mannheim würde er umsteigen müssen. Wo war der Zettel? Mara hatte es ihm ausgedruckt: Gleis neun. Elf Minuten Umsteigezeit, wenn er den ersten Zug verpasste, fuhr {14}nach achtundzwanzig Minuten der nächste, vom selben Gleis. Mara hatte die Zahlen mit gelbem Textmarker bemalt, das rührte ihn ein bisschen.

Er trank das letzte Bier aus, gab dem Kellner viel zu viel Trinkgeld, steckte Portemonnaie und Handy ein, nahm seine Tasche und versuchte aufzustehen, was gleich beim zweiten Versuch gelang. »Nicht schlecht, Karl, nicht schlecht«, flüsterte er sich zu und hangelte sich in den Gang hinaus und dann in die Nähe der Tür.

Rechts und links drängten Menschen, es wurden immer mehr, sie kamen aus allen Abteilen, aber vor ihm war ein Fenster, da konnte er hinausschauen, und darunter war eine Stange, da konnte er sich aufstützen, es würde schon gehen. Gleich wäre er hier raus, die Häuser da, das war schon Mannheim, an eine Mauer hatte jemand geschrieben: »Halten Sie sich fest!« Und dann fuhr der Zug eine scharfe Kurve, und Karl lachte und lachte und floss einfach in der...