dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit - Ein Bild von dem Vorstellungs- und Empfindungsleben Nietzsches

Rudolf Steiner

 

Verlag e-artnow, 2018

ISBN 9788026859826 , 126 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

1,99 EUR


 

II. Der Übermensch


10.

Alles Streben des Menschen besteht, wie das eines jeden Lebewesens, darin, von der Natur eingepflanzte Triebe und Instinkte in der besten Weise zu befriedigen. Wenn die Menschen nach Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis und Kunst streben, so geschieht dies deshalb, weil Tugend, Gerechtigkeit und so weiter Mittel sind, durch die die menschlichen Instinkte sich so entwickeln können, wie es deren Natur entsprechend ist. Die Instinkte würden ohne diese Mittel verkümmern. Es ist nun eine Eigentümlichkeit des Menschen, dass er diesen Zusammenhang seiner Lebensbedingungen mit seinen natürlichen Trieben vergisst und jene Mittel zu einem naturgemäßen, machtvollen Leben als etwas ansieht, das an sich einen unbedingten Wert hat. Der Mensch sagt dann: Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis und so weiter müssen um ihrer selbst willen erstrebt werden. Sie haben nicht dadurch einen Wert, dass sie dem Leben dienen, sondern vielmehr das Leben erhalte erst einen Wert dadurch, dass es nach jenen idealen Gütern strebt. Der Mensch sei nicht dazu da, nach Maßgabe seiner Instinkte zu leben, wie das Tier; sondern er solle seine Instinkte dadurch adeln, dass er sie in den Dienst höherer Zwecke stelle. Auf diese Weise kommt der Mensch dazu, das, was er selbst erst zur Befriedigung seiner Triebe geschaffen hat, als Ideale anzubeten, die seinem Leben erst die rechte Weihe geben. Er fordert Unterwerfung unter die Ideale, die er höher schätzt, als sich selbst. Er löst sich los von dem Mutterboden der Wirklichkeit und will seinem Dasein einen höheren Sinn und Zweck geben. Er erfindet einen unnatürlichen Ursprung für seine Ideale. Er nennt sie den «Willen Gottes», die «ewigen sittlichen Gebote». Er will die «Wahrheit um der Wahrheit willen», «die Tugend um der Tugend willen» anstreben. Er betrachtet sich als einen guten Menschen erst dann, wenn es ihm angeblich gelungen ist, seine Selbstsucht, das heißt seine natürlichen Instinkte zu bändigen und selbstlos einem idealen Ziele zu folgen. Einem solchen Idealisten gilt der Mensch als unedel und «böse», der es bis zu solcher Selbstüberwindung nicht gebracht hat.

Nun stammen ursprünglich alle Ideale aus natürlichen Instinkten. Auch was der Christ als Tugend ansieht, die ihm Gott geoffenbart hat, ist ursprünglich von Menschen erfunden, um irgendwelche Instinkte zu befriedigen. Der natürliche Ursprung ist vergessen und der göttliche hinzugedichtet worden. Ähnlich verhält es sich mit den Tugenden, die die Philosophen und Moralprediger aufstellen.

Wenn die Menschen bloß gesunde Instinkte hätten und diesen gemäß ihre Ideale bestimmten, so würde der theoretische Irrtum über den Ursprung dieser Ideale nicht schaden. Die Idealisten hätten zwar falsche Ansichten über die Herkunft ihrer Ziele, aber diese Ziele selbst wären gesund, und das Leben müsste gedeihen. Aber es gibt ungesunde Instinkte, die nicht auf Stärkung, Förderung des Lebens, sondern auf dessen Schwächung, Verkümmerung abzielen. Diese bemächtigen sich des genannten theoretischen Irrtums und machen ihn zum praktischen Lebenszwecke. Sie verleiten den Menschen, zu sagen: ein vollkommener Mensch ist nicht derjenige, der sich selbst, seinem Leben dienen will, sondern derjenige, der sich der Verwirklichung eines Ideals hingibt. Unter dem Einfluss dieser Instinkte bleibt der Mensch nicht bloß dabei stehen, irrtümlich seinen Zielen einen unoder übernatürlichen Ursprung anzudichten, sondern er macht sich wirklich solche Ideale zurecht oder übernimmt sie von anderen, die nicht den Bedürfnissen des Lebens dienen. Er strebt nicht mehr darnach, die in seiner Persönlichkeit liegenden Kräfte ans Tageslicht zu ziehen, sondern er lebt nach einem seiner Natur aufgezwungenen Musterbilde. Ob er dieses Ziel einer Religion entnimmt, oder ob er es selbst auf Grund gewisser, nicht in seiner Natur liegenden Voraussetzungen bestimmt: darauf kommt es nicht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen Zweck der Menschheit im Auge hat und aus diesem seine sittlichen Ideale ableitet, legt der menschlichen Natur ebenso Fesseln an, wie der Religionsstifter, der den Menschen sagt: dies ist das Ziel, das euch Gott gesetzt hat; und dem müsst ihr folgen. Es ist auch gleichgültig, ob der Mensch sich vorsetzt, ein Ebenbild Gottes zu werden, oder ob er ein Ideal des «vollkommenen Menschen» erfindet und diesem möglichst ähnlich werden will. Wirklich ist nur der einzelne Mensch und die Triebe und Instinkte dieses einzelnen Menschen. Nur wenn er auf die Bedürfnisse seiner eigenen Person sein Augenmerk richtet, kann der Mensch erfahren, was seinem Leben frommt. Der einzelne Mensch wird nicht «vollkommen», wenn er sich verleugnet und einem Vorbilde ähnlich wird, sondern wenn er das verwirklicht, was in ihm zur Verwirklichung drängt. Die menschliche Tätigkeit erhält nicht erst einen Sinn, wenn sie einem unpersönlichen, äußeren Zwecke dient; sie hat ihren Sinn in sich selbst.

Der Anti-Idealist wird zwar auch in der ungesunden Abkehr des Menschen von seinen ureigenen Instinkten noch eine Instinktäußerung erblicken. Er weiß, dass der Mensch selbst das Instinktwidrige nur aus Instinkt vollbringen kann. Er wird aber doch die Instinktwidrigkeit bekämpfen, wie der Arzt eine Krankheit bekämpft, trotzdem er weiß, dass sie naturgemäß aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Es darf also dem AntiIdealisten nicht der Einwurf gemacht werden: du behauptest, alles, was der Mensch erstrebt, also auch alle Ideale, seien naturgemäß entstanden; dennoch bekämpfst du den Idealismus. Gewiss entstehen Ideale ebenso naturgemäß wie Krankheiten; aber der Gesunde bekämpft den Idealismus, wie er die Krankheit bekämpft. Der Idealist aber sieht die Ideale als etwas an, das gehegt und gepflegt werden muss.

Der Glaube, dass der Mensch vollkommen erst wird, wenn er «höheren» Zwecken dient, ist, nach Nietzsches Meinung, etwas, das überwunden werden muss. Der Mensch muss sich auf sich selbst besinnen und erkennen, dass er Ideale nur erschaffen hat, um sich zu dienen. Naturgemäß leben, ist gesünder, als Idealen nachjagen, die angeblich nicht aus der Wirklichkeit stammen. Den Menschen, der nicht unpersönlichen Zielen dient, sondern der den Zweck und Sinn seines Daseins in sich selbst sucht, der solche Tugenden zu den seinigen macht, die seiner Kraftentfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen - diesen Menschen stellt Nietzsche höher als den selbstlosen Idealisten.

Dies ist es, was er durch seinen «Zarathustra» verkündet. Das souveräne Individuum, das weiß, dass es nur aus seiner Natur heraus leben kann, und das in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung sein persönliches Ziel sieht, ist für Nietzsche der Übermensch, im Gegensatz zu dem Menschen, der glaubt: ihm sei das Leben geschenkt, um einem außer ihm selbst liegenden Zwecke zu dienen.

Den Übermenschen, das heißt den Menschen, der naturgemäß zu leben versteht, lehrt Zarathustra. Er lehrt die Menschen, ihre Tugenden als ihre Geschöpfe betrachten; er heißt sie diejenigen verachten, die ihre Tugenden höher als sich selbst achten.

Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um sich frei zu machen von der Demut, in der sich die Menschen beugen vor ihren Tugenden. Er geht erst wieder unter Menschen, als er die Tugenden verachten gelernt hat, die das Leben bändigen und nicht dem Leben dienen wollen. Er bewegt sich nun leicht wie ein Tänzer, denn er folgt nur sich und seinem Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm von den Tugenden vorgezeichnet werden. Nicht schwer mehr lastet der Glaube auf seinem Rücken, dass es unrecht sei, nur sich selbst zu folgen. Zarathustra schläft nun nicht mehr, um von Idealen zu träumen; er ist ein Wachender, der der Wirklichkeit sich frei gegenüberstellt. Ein schmutziger Strom ist ihm der Mensch, der sich selbst verloren hat und vor seinen eigenen Geschöpfen im Staube liegt. Der Übermensch ist ihm ein Meer, das diesen Strom aufnimmt, ohne selbst unrein zu werden. Denn der Übermensch hat sich selbst gefunden; er erkennt sich als Herrn und Schöpfer seiner Tugenden. Zarathustra hat das Große erlebt, dass ihm alle Tugend zum Ekel geworden ist, die über den Menschen gesetzt wird.

«Was ist das Größte, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der großen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.» Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem Sinne der «modernen Gebildeten». Sie möchten alle Menschen einander gleich machen. Wenn alle nur nach einem Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufriedenheit und Glück auf Erden. Der Mensch soll zurückhalten, so fordern sie, seine besonderen persönlichen Wünsche und nur der Allgemeinheit, dem gemeinsamen Glücke dienen. Friede und Ruhe wird dann auf der Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedürfnisse hat, dann stört keiner die Kreise des andern. Nicht sich und seine individuellen Ziele soll der Einzelne im Auge haben, sondern nach der einmal bestimmten Schablone sollen alle leben. Verschwinden soll alles einzelne Leben, und Glieder der gemeinsamen Weltordnung sollen alle werden.

«Kein Hirt und Eine Herde! Jeder will das gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.

‹Ehemals war alle Welt irre› - sagen die Feinsten und blinzeln.

Man ist klug und weiß alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald; sonst verdirbt es den Magen.»

Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um solcher...