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Jenseits des Nils

Nicole C. Vosseler

 

Verlag beHEARTBEAT, 2018

ISBN 9783732558858 , 572 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR

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2


»… nehmen wir als Beispiel Lord Raglans Erkundungsritt in der Schlacht an der Alma.«

Colonel Sir William Lynton Norbury machte eine bedeutungsvolle Pause. Seine Augen, kühl und scharf und durchdringend, wanderten über die gut zwanzig jungen Männer, die in ihren marineblauen Uniformen immer zu zweit in den Holzbänken saßen und seinen Blick aufmerksam erwiderten.

Aus dunkelblauem Tuch war auch seine eigene Uniform, jedoch entlang der Hosennaht mit einem scharlachroten Streifen versehen, der ihn als Vorgesetzten und Ausbilder auswies, und während sich die Kadetten mit Messingknöpfen als alleinigem Zierrat begnügen mussten, bezeugten Abzeichen am Stehkragen und auf den Schulterstücken des Colonels Rang.

Hochgewachsen und sehnig, fast hager, hatte er auch lange nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst nichts von der militärisch strammen Haltung eingebüßt, die ihm in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war. Obschon es ihn heute, mit bald sechzig, zunehmend Anstrengung kostete, diese beizubehalten. Die klaren, wie herausgemeißelten Züge seines Gesichts waren mit der Zeit verwittert, abgeschliffen von den scharfen Winden des Hindukusch, ausgewaschen vom Monsun und abgeschmirgelt vom Sand der Wüste. Sengende Sonne und Fieber hatten Linien und Furchen eingegraben, das einst braune Haar zu Eisgrau abgelaugt. Äderchen waren unter dem Biss von Frost und Schnee geplatzt, überzogen Wangen und Nase mit einem feinen Netz von Rötungen. Ein Gesicht, gezeichnet von Mühsal und Krieg, von einem Leben auf Messers Schneide zwischen Töten und Getötetwerden, aber auch geprägt vom Stolz, der Krone mit Leib und Seele gedient zu haben; ein Gesicht, das den Kadetten ihre Zukunft vor Augen hielt und ihnen einen Vorgeschmack bot auf das, was sie erwartete.

»Wer erklärt sich zu einer kurzen Zusammenfassung bereit?«

Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Hand, die sich in der ersten Reihe hob, die Finger locker und der Ellenbogen auf der Tischplatte ruhend, aufmerksam und dennoch lässig, mehr selbstsicher denn strebsam. Dieselbe Hand, die sich immer hob, wenn es eine Frage zu beantworten galt.

Seine Wahl fiel auf einen Offiziersanwärter, der das kantige Kinn auf die Faust gestützt hatte und aus glasigen Augen in die Ferne blickte. Das Gähnen, das der Kadett unterdrückte, lief wie ein Krampf durch seine untere Gesichtshälfte, und unter der Bank wippte ein Knie zu einem unhörbaren Takt, der sich in der schnellen, pendelnden Bewegung des Federhalters zwischen zwei Fingern wiederholte.

»Kadett Digby-Jones!«

Der Kopf mit dem streichholzkurzen lichtbraunen Haar ruckte hoch, und wie ein Schachtelteufel sprang Simon Digby-Jones auf. »Bitte um Verzeihung für meine Unachtsamkeit, Colonel Sir!«

Aus großen Augen sah er den Colonel an. Grau waren sie wie Regenwolken und ebenso veränderlich: In einem Moment noch rauchig in Schuldbewusstsein, klarten sie sogleich auf, bis sie fast ins Bläuliche spielten, und der breite, geschwungene Mund verzog sich auf einer Seite nach oben. »Ich bin einfach machtlos dagegen – sobald ich den Namen Alma höre, wandern meine Gedanken in gänzlich andere Gefilde!«

Vielstimmiges, wissend-raues Gelächter brandete auf, in dem Simon Digby-Jones sichtlich badete.

Die schmalen Lippen des Colonels zuckten flüchtig unter dem silbrigen Oberlippenbart, verhärteten sich dann sogleich wieder. »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen, Gentlemen. Und Ihnen, Mr Digby-Jones, erst recht.«

Augenblicklich herrschte wieder Stille im Raum. Colonel Norbury entging nicht der Verschwörerblick, den Digby-Jones mit den beiden Kadetten in der benachbarten Bank wechselte, als er sich wieder setzte.

»Kadett Ashcombe!«

Royston Ashcombe, der sich mit gelangweilter Miene in die Bank geflegelt hatte, als sei er nur aus Versehen hierhergeraten, setzte sich auf und erhob sich schließlich zu seiner vollen Größe.

»Um eine bessere Sicht auf das Schlachtfeld zu erhalten, ritt Lord Raglan mit seinem Stab über den Fluss«, leierte er herunter, »an der französischen Schützenlinie unter Marschall de Saint-Arnaud zur Linken vorbei und durch die gegenüberliegende russische Schützenlinie unter General Menschikow. Oben auf dem Bergrücken angelangt, befand er diesen für eine hervorragende Geschützstellung und ließ Neunpfünder dort positionieren, mit denen er die Russen zum Rückzug zwang.« Er erwiderte das knappe Nicken des Colonels und ließ sich in die Bank zurückfallen.

»Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören, Gentlemen – wie ist diese Entscheidung Lord Raglans aus taktischer Sicht zu bewerten?«

Die Kadetten sahen sich verunsichert an und beschäftigten sich sogleich angelegentlich mit ihren Schreibutensilien; urplötzlich schien es nichts Wichtigeres zu geben, als die Kolben der Federhalter neu zu befüllen und Bleistifte anzuspitzen.

Colonel Norbury war für seine Fangfragen berüchtigt, besonders wenn es Schlachten betraf, in denen er selbst gekämpft hatte. Er war dabei gewesen, in jenem Krieg vor gut dreißig Jahren, lange bevor die jungen Männer geboren waren, als auf der Krim englische und französische Truppen mit den Soldaten des Zarenreichs in tödlicher Umklammerung lagen. In der Schlacht an der Alma, in der Schlacht von Inkerman, als das Regiment des Colonels mehr als die Hälfte seiner Männer verlor. Es mögen nur wenige vom 95. übrig sein – aber die sind aus Eisen gemacht, hieß es danach über dieses Regiment, und niemand hier am Royal Military College hegte Zweifel an dieser Aussage.

In der ersten Reihe war wieder eine Hand zu sehen, dieselbe wie zuvor, und geradezu herausfordernd langsam ging der Colonel darauf zu, jeder seiner Schritte ein klackender Akzent. Nur wer genau hinsah, bemerkte, dass er dabei mit dem linken Bein vorsichtiger auftrat. Ein Überbleibsel seiner schweren Verwundungen während des Aufstands in Indien, die das Ende seines aktiven Dienstes bedeutet hatten. Das Victoria Cross, die höchste militärische Auszeichnung des Empire – von vielen begehrt, doch nur den allerwenigsten für herausragende Tapferkeit im Angesicht des Feindes verliehen –, war sein Trost dafür gewesen, und hier in Sandhurst machte es Colonel Norbury beinahe zu einer Legende.

Stephen zog den Kopf ein, als sich der Colonel auf die Bank zu bewegte. So starr sich seine Augen auf die Notizen vor ihm hefteten, so fieberhaft drückte sein Daumen die Kappe des Füllfederhalters auf und zu. Knick-knack. Knick-knack. Knick-knack. Kalter Schweiß brach ihm aus, als der Colonel unmittelbar vor ihm stehen blieb und er sich von dessen Augen durchbohrt fühlte. Nimm Jeremy dran, bat er stumm. Du siehst doch, dass er sich drum reißt! Nimm ihn dran! Bitte, verschon mich heute!

»Kadett Norbury!«

Es war schlimm genug, hier sein zu müssen, in Sandhurst. Doch als Sohn des Professors für Gefechtsführung in dessen Unterricht zu sitzen war die Hölle.

Mit weichen Knien stemmte Stephen sich hoch. Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, um dem Colonel in die Augen zu sehen, wie es Anstand und Respekt geboten. Keine Güte oder Milde konnte er darin lesen, in diesen Augen, die den seinen so gar nicht ähnelten. Stephen und seine Schwestern hatten die braunen Augen ihrer Mutter; von ihr hatte Stephen auch den empfindsamen Mund geerbt und die hohen Wangenknochen, während er sonst bis hin zum nussbraunen Haar, fein und weich wie Daunenfedern, äußerlich ganz seines Vaters Sohn war.

»Nun?«

»Lord … Lord Raglans Ritt war eine Tat heldenhaften Mutes, Colonel Sir«, gab Stephen gehorsam das wieder, was sein Vater ihn gelehrt hatte.

»Weshalb?«

»Weil …« Stephens Stimme versagte, und jeglicher Gedanke, den er sich zuvor zurechtgelegt hatte, zerfaserte unter dem strengen Blick des Colonels und löste sich in einer weißen Wattigkeit auf, bis sein Kopf wie leergefegt war.

Die Art, wie der Colonel durch die Nase Luft holte, verriet ihm, dass dessen Geduld bereits erschöpft, aber auch, dass er gnädig entlassen war. Mit einem tiefen Ausatmen setzte sich Stephen. Und mit einem elenden Gefühl in der Magengrube.

»Da Sie offenbar ein solch großes Mitteilungsbedürfnis besitzen, Kadett Danvers«, richtete Colonel Norbury das Wort an Stephens Banknachbarn, der noch immer mit erhobener Hand dasaß, »sind wir natürlich äußerst gespannt, was Sie zu sagen haben.«

»Danke, Colonel Sir.« Ohne übergroße Eile stand Jeremy Danvers auf und nahm seine bevorzugte Haltung ein, Schultern straff, Kinn hochgereckt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Meiner Ansicht nach ist der Erkundungsritt von Lord Raglan nicht anders als fahrlässig und leichtfertig zu bezeichnen.«

Irgendwo in den hinteren Reihen zischelte jemand missbilligend, und eine Braue des Colonels schnellte hoch. »Tatsächlich? Was lässt Sie zu diesem Schluss kommen?«

»Lord Raglan nahm nicht nur in Kauf, selbst getötet zu werden – er hat auch die Mitglieder seines Stabes in Gefahr gebracht. Das Risiko, dass der Truppenverband von einem Augenblick zum anderen ohne Führung dastehen würde, war beträchtlich. Die einzelnen Divisionen wieder unter einheitlichem Kommando zu versammeln hätte kostbare Zeit verstreichen lassen. Ein Umstand, den der Feind zu seinem Vorteil hätte nutzen können. Im ungünstigsten Fall wäre eine vernichtende Niederlage unserer Truppen die Folge gewesen.«

Colonel Norbury musterte den Kadetten einige Augenblicke lang, als könnte er ergründen, was...