dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Neujahr - Roman

Juli Zeh

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2018

ISBN 9783641221232 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

Auf dem kleinen Kirchplatz lehnt er das Rad an die Mauer und fällt auf eine gemauerte Bank. Der Stein kühlt Oberschenkel und Rücken. Für einen Augenblick verschwinden die Schmerzen. Hennings Körper sinkt in sich zusammen, die Gedanken schweigen. Er spürt die Wärme der Sonne und das Streicheln des Windes, der hier in der Dorfmitte nur mäßig bläst. Er riecht den würzigen Duft eines Pfefferbaums, der seine Zweige über den Platz hängen lässt. Genau wie sämtliche Häuser und Mauern ist die kleine Kirche blendend weiß, reflektiert das Sonnenlicht, so dass man kaum hinsehen kann. Am schlichten Portal hängt eine Tafel, die an irgendeinen Don Pedro mit sehr langem Nachnamen erinnert. Darüber das Bild einer Maria, der blutige Tränen über das Gesicht laufen. Eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Sie scheint auf Henning herunterzusehen.

An der Ecke des Platzes befindet sich ein kleiner Lebensmittelladen, allerdings geschlossen, was für Henning keine Rolle spielt, da er nicht nur den Proviant, sondern auch das Geld vergessen hat. Er beschließt, sich etwas auszuruhen und dann den Rückweg anzutreten. Von hier aus nach Playa Blanca geht es ausschließlich bergab, die Fahrt dürfte nicht länger als eine Stunde dauern. So lange müssten sich Hunger und Durst noch in Schach halten lassen. Henning stellt sich vor, wie er den Abhang, an dem er sich bis eben gequält hat, in halsbrecherischem Tempo hinunterrast. Auf der ersten Hälfte der Strecke wird er ausschließlich bremsen müssen, später vielleicht ein bisschen treten. Es wird leicht gehen. Er stellt sich vor, wie er zurück ins Scheibenhaus kommt und Theresa von seinen guten Vorsätzen erzählt. Dass er im neuen Jahr mehr lachen und sie öfter umarmen wird. Dass er die Steilauffahrt nach Femés geschafft hat.

Henning hebt das Gesicht in die Sonne und spürt ihre Kraft. Sie lädt ihn auf wie einen Akku. Pure Energie. Es wird nicht lang dauern, dann sind die Batterien wieder voll.

Als er aber aufstehen und aufs Rad steigen will, wird sofort klar, dass das nicht geht. Der Schmerz kehrt zurück, die Muskeln krampfen. Mit beiden Händen hält sich Henning am Lenker fest, setzt mühsam Fuß vor Fuß, als würde er gerade erst das Gehen erlernen. Beim Gedanken ans Radfahren streikt der ganze Organismus. Essen, Trinken. Das ist es, worum er sich kümmern muss. Vielleicht auch um einen Platz zum Hinlegen.

Schiebend überquert Henning die Straße, geht an der Rückseite der Restaurants entlang und ein Stück parallel zum Grat. Rechts und links der Gasse stehen niedrige Häuser mit kleinen Fenstern, schmucklos eingebunkert gegen Sonne und Wind. Sie erinnern daran, dass solche Bergdörfer von Ziegenkäse gelebt haben, bevor der Tourismus auf die Insel kam. Henning hält Ausschau nach einem menschlichen Wesen, das er um Hilfe bitten kann. Er überlegt, was Essen auf Spanisch heißt. Ihm fällt nur »mangiare« ein. Zur Not wird er sich mit Gesten verständlich machen müssen, die Hand an den Mund führen, sich den Bauch reiben, Hunger, Durst. Am Nachmittag kann er mit dem Auto wiederkommen und alles bezahlen. Aber es ist niemand zu sehen. Selbst der Gärtner samt Gartenschlauch ist spurlos verschwunden, Henning könnte nicht einmal sagen, auf welchem Grundstück er gestanden hat. Er wird an eines der Häuser klopfen müssen, an eine grüngestrichene Tür oder einen geschlossenen Fensterladen. Nur kann er sich nicht entscheiden, an welches. Henning geht weiter, betrachtet die Fassaden, diese hier wirkt abweisend, jene auch, hier steht nicht mal ein Auto vor der Tür, dort bellt ein wütender Hund in einem Zwinger. Es ist nicht so, dass Henning sich nicht zu klopfen traut, aber es sind die falschen Häuser, das spürt er genau.

Verwirrt gelangt er auf den kleinen Kirchplatz zurück, stellt das Rad ab und dreht sich langsam im Kreis. Da ist etwas, Henning weiß nur nicht, was. Etwas, das passieren muss. Er fragt sich gerade, ob er vor Erschöpfung den Verstand verliert, als er es bemerkt. Keine Stimmen, keine Vision, nur eine Richtung, in die er gehen muss. Er packt das Rad am Lenker und schiebt voran. Auf seine schmerzenden Beine kann er jetzt keine Rücksicht nehmen, er muss sich beeilen, bevor er die Richtung verliert. Schnell gelangt er an den Rand des Dorfs, die asphaltierte Gasse endet und geht in eine steinige Piste über. Schon wieder steigt das Gelände an, die Flanke des Atalaya hinauf. Egal, Henning muss weiter. Er steigt über scharfkantige Geröllbrocken, vermeidet große Schlaglöcher, hebt und zerrt das Rad mehr, als dass er es schiebt. Am Wegrand steht ein handbemaltes Schild, ein bunter Pfeil, der nach oben weist: »Artesania /Arts Gallery / Kunst«.

Ich klettere schon wieder auf einen Berg, denkt Henning. Was ist bloß mit mir los. Ein Sisyphos ohne Stein.

Als er einen großen Felsblock erreicht, hinter dem die Piste in eine Kurve geht, hält er an, um eine Pause zu machen. Er wendet sich um und schaut ins Tal. Der Anblick ist ein Schock. Femés liegt tief unter ihm. Schon wieder ist er hoch hinaufgelangt, ohne zu wissen, wie das sein kann. Es fühlt sich an wie ein Filmriss. Als hätte eine unbekannte Macht ihn einfach zweihundert Meter bergaufgeschoben. Das wirklich Erschreckende ist aber, dass er kennt, was er sieht. Die Anordnung der Dächer ist ihm vertraut, der Verlauf der Gassen, der winzige Verkehrskreisel im Zentrum. Der rechteckige Kirchplatz, die kleine Kirche, der plumpe Glockenturm. Er kennt dieses Dorf, genau aus dieser Perspektive. Nämlich von oben. Er trägt einen Abdruck davon im Gehirn. Scheppernd stürzt neben ihm das Fahrrad zu Boden, er hat es zu nachlässig an den Fels gelehnt.

Henning weiß genau, dass er in den vergangenen Tagen nicht hier gewesen ist. Keiner ihrer Ausflüge hat sie nach Femés geführt. Und selbst wenn, wären sie niemals aus dem Dorf heraus und den Berg hinaufgefahren, auf einer Piste, die nicht für glänzende Mietwagen oder Leihfahrräder geschaffen ist, sondern für klapprige Pick-ups mit Gartengeräten auf der Ladefläche, für Ziegenhirten mit gefleckten Herden, vielleicht für den einen oder anderen Eselskarren. Es ist heiß, sengend heiß. Der Wind hat sich vollständig gelegt, als wäre Henning in eine andere Klimazone geraten, in eine völlig neue Jahreszeit. Eine Stimme rät ihm, aufs Rad zu steigen und nach Hause zu fahren. Zu trinken, zu essen, sich auszuruhen. Sein Vorhaben abzubrechen, worin auch immer es besteht.

Er hebt das Rad auf und schiebt es um die Kurve, weiter bergauf, die Schotterpiste entlang. Da oben steht ein Haus, auf einer kleinen Hochebene, an die Schulter des Bergs geschmiegt. Henning beschleunigt seinen Schritt, stemmt sich wütend gegen den Lenker des Fahrrads, dessen Reifen im Kies ständig zur Seite rutschen. Hohe weiße Mauern, über die Palmwedel ragen. Eine Terrasse, die das Tal überschaut. In der Mitte des Gebäudes ein turmartiger Aufsatz, von einer Glaskuppel überwölbt, unter der sich ein Saal oder eine Art Lichthof befinden muss. Die Schotterpiste endet vor dem Haus. Kein Landwirtschaftsweg, sondern eine Zufahrt, wenn auch in miserablem Zustand. An der Außenmauer erkennt Henning den bunten Schriftzug wieder: »Artesania /Arts Gallery / Kunst«.

Mit einer letzten Kraftanstrengung erreicht er das kleine Plateau. Vor seinen Augen tanzen schwarze Punkte. Er lässt das Rad fallen und lehnt sich gegen die Mauer, bis der Schwindel nachlässt. Das Sichtfeld bleibt verschwommen, Wind und Sonne haben die Augen gereizt, Henning trägt keine Sonnenbrille. Er muss dringend in den Schatten, er muss sich setzen. Immerhin kann er erkennen, dass auf dem Parkplatz vor dem Haus ein einzelnes Auto steht, ein Range Rover in rostigem Dunkelblau. Also ist jemand zu Hause. Hennings Rettung.

Das schmiedeeiserne Tor steht offen, er bugsiert sein Rad hindurch und hält nach einem Ort Ausschau, wo er es abstellen kann. Weil er kein Fahrradschloss besitzt, sucht er einen geschützten Platz, auch wenn er nicht weiß, wer hier oben ein Rad stehlen soll. Am besten schiebt er es hinter das Haus. Henning verlässt den Grava-Weg, der auf die doppelflügelige Holztür zuführt, und geht zwischen Palmen, Mangobäumen und Bougainvilleen bis zur anderen Grundstücksseite und dort um die Hausecke herum. Der Durchlass zwischen Haus und Mauer ist nicht sehr breit und wirkt ungepflegt. In den Ästen einiger verkrüppelter Mimosen hängt Flugmüll, der schwarze Kies am Boden ist staubig. An Hennings Steißbein vibriert das Handy. Während er mit einer Hand das Fahrrad durch den tiefen Kies schiebt, nestelt er mit der anderen das Telefon aus der Tasche. Eine SMS. Die Sonne schwärzt das Display, Henning muss in den Schatten, er kann überhaupt nichts erkennen.

Im Durchlass ist es spürbar kühler. Henning will gerade sein Rad an die Hausmauer lehnen, da fährt er entsetzt zurück. An der hoch aufragenden, fensterlosen Wand sitzen Unmengen von Spinnen. Kugelförmige Körper, lange Beine, sternförmig ausgebreitet. Achtstrahlige Sonnen, ungleichmäßig verteilt zu einem bizarren Muster, erschreckend in ihrer Vielzahl, obwohl sich keine von ihnen bewegt und jede einzelne sicher harmlos ist. Der Anblick lässt Henning weiter zurückweichen. Tief in seinem Inneren schlägt eine Alarmglocke an. Ein klagender Ton, unerträglich wie das Weinen eines kleinen Kindes. Kurz überlegt Henning, ob ES sich meldet, ob er kurz davorsteht, eine Attacke zu erleiden. Aber das ist es nicht. In seinem Inneren erhebt sich etwas, aus Tiefen, zu denen er keinen Zutritt hat.

Er blickt auf das Handy. Die SMS ist von Theresa. Da steht etwas von Schluss machen. Henning muss die Spinnen anstarren. Der Ekel zwingt ihn dazu. Sie dürfen da nicht sitzen, er muss sie entfernen, aber wie? Die Spinnen verhindern, dass er Theresas...