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Die wandernde Erde - Erzählungen

Cixin Liu

 

Verlag Heyne, 2019

ISBN 9783641222369 , 688 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

Bremsjahre

Ich habe nie die Nacht gesehen und nie die Sterne, habe nie Frühling, Herbst oder Winter erlebt. Ich wurde gegen Ende der Bremsjahre geboren, als die Rotation der Erde zum Stillstand kam.

Es hatte zweiundvierzig Jahre gebraucht, um die Erdumdrehung abzubremsen, drei Jahre länger, als von der Einheitsregierung ursprünglich veranschlagt. Meine Mutter hat mir erzählt, wie die Familie gemeinsam dem letzten Sonnenuntergang zusah. Wie die Sonne ganz langsam versank und noch einmal innezuhalten schien, als sie den Horizont erreichte. Es dauerte drei Tage und Nächte, bis sie völlig verschwand, obwohl es zu dieser Zeit schon gar keine »Tage« und »Nächte« im herkömmlichen Sinne mehr gab. Anschließend war die östliche Hemisphäre noch lange Zeit – über zehn Jahre, glaube ich – in ewige Abenddämmerung getaucht, denn die Sonne sank nicht sehr tief unter den Horizont, sodass eine Hälfte des Himmels dauerhaft matt erleuchtet blieb. Während dieses langgezogenen Sonnenuntergangs wurde ich geboren.

Die Dämmerung war keinesfalls gleichbedeutend mit Dunkelheit, denn dank des Erdantriebs blieb die gesamte Nordhalbkugel taghell erleuchtet. Man hatte die Triebwerke auf der Eurasischen und der Nordamerikanischen Platte errichtet, da nur diese beiden großen Kontinentalplatten geschlossen und stabil genug waren, um den gewaltigen Schubkräften zu widerstehen, die die Antriebselemente gemeinsam erzeugten. Insgesamt zwölftausend von ihnen waren über die Ebenen Asiens und Nordamerikas verteilt.

Von dort, wo wir wohnten, konnte man Hunderte der leuchtenden Plasmasäulen sehen, die von den Antrieben ausgestoßen wurden. Stell dir einen gewaltigen Tempel vor, so groß wie die Akropolis in Athen, mit unzähligen, himmelhoch aufragenden Riesensäulen – nur dass die Säulen wie gigantische Leuchtstoffröhren aus grellem, bläulich weißem Licht bestehen. Inmitten dieser Säulenhalle bist du nur ein auf dem Boden herumkriechendes Bakterium. Jetzt hast du in etwa einen Eindruck davon, wie die Welt aussah, in der ich aufwuchs.

Dabei ist diese Beschreibung nicht ganz korrekt, denn die Eigenrotation der Erde konnte nur gestoppt werden, indem man ihr die Schubkraft des Erdantriebs tangential entgegensetzte. Die Düsen waren deshalb in einem speziellen Winkel ausgerichtet, wodurch die riesigen Lichtsäulen am Himmel leicht schräg standen. Der Tempel, in dem wir uns befanden, schien also auch noch kurz vor dem Einsturz zu stehen. Nicht wenige Leute von der Südhalbkugel wurden wahnsinnig, als sie in den Norden kamen und sich plötzlich in dieser Szenerie wiederfanden.

Noch schlimmer als der Anblick war jedoch die sengende Hitze, die von den Triebwerken ausging. Die Außentemperatur lag bei siebzig bis achtzig Grad Celsius, man konnte nicht mehr ohne Kühlanzug vor die Tür gehen. Außerdem brachten diese Temperaturen unablässige Gewitter mit sich. Die dunklen Sturmwolken, durchlöchert von den Plasmasäulen der Triebwerke, ergaben ein Bild wie aus einem Albtraum. Das bläulich weiße Licht streute in die Wolken und schuf wild wabernde, in unzähligen Farben glimmende Leuchtkränze, als wäre der gesamte Himmel mit weiß glühender Lava übergossen.

Irgendwann hielt mein Großvater es einfach nicht mehr aus. Die Hitze setzte ihm so zu, dass er im Delirium mit nacktem Oberkörper nach draußen in den Regen rannte, ehe wir ihn aufhalten konnten. Die vom Plasma brühend heißen Regentropfen brannten ihm die Haut vom Leib.

Für meine Generation dagegen war das alles völlig selbstverständlich – zumindest, wenn man auf der Nordhalbkugel geboren war –, so selbstverständlich, wie Sonne, Mond und Sterne für die Menschen vor den Bremsjahren gewesen waren. Wir nannten die gesamte Menschheitsgeschichte der Vergangenheit das »Alte Solarzeitalter«. Das muss eine herrliche, ja, eine goldene Zeit gewesen sein!

Als ich eingeschult wurde, machte die Lehrerin mit unserer dreißigköpfigen Schulklasse eine Bildungsreise einmal um den Globus. Damals war die Erdrotation bereits vollständig erstarrt. Der Erdantrieb hielt den Planeten jetzt nur noch auf seinem Kurs um die Sonne und nahm ab und an kleinere Positionskorrekturen vor. In den drei Jahren zwischen meinem dritten und sechsten Lebensjahr strahlten die Plasmasäulen daher mit niedrigerer Intensität, was der Reise sehr zugute kam, denn so konnten wir unsere Welt besser kennenlernen.

Zuerst sahen wir uns eines der Triebwerke aus der Nähe an. Es befand sich nahe bei Shijiazhuang am Fuße des Taihang-Gebirges, wo es sich wie ein Berg aus Metall vor uns auftürmte, der beinahe den halben Himmel einnahm. Verglichen mit ihm wirkten die Felszüge des Taihang im Westen wie ein paar mickrige Erdhügel. Das Triebwerk sei bestimmt mindestens so hoch wie der Mount Everest, staunte eines der anderen Kinder mit offenem Mund. Unsere Klassenlehrerin – eine hübsche junge Frau, die wir alle nur Stella riefen – verriet uns mit einem verständnisvollen Lächeln, dass dieses Antriebselement elftausend Meter hoch sei und den Mount Everest damit um mehr als zweitausend Meter überrage.

»Der Volksmund nennt diese Gebilde ›Gottes Schweißbrenner‹.«

Unter seinem mächtigen Schatten konnten wir die Vibrationen spüren, die er durch das Erdreich schickte.

Die Triebwerke des Erdantriebs ließen sich in zwei Gruppen unterscheiden. Bei den größeren sprach man von »Bergen«, die etwas kleineren nannte man »Gipfel«. Wir waren auf dem Weg, Berg NC 794 zu besteigen – »NC« für Nordchina. »Gipfel« zu erklimmen ging schneller, da sie mit riesigen Aufzügen versehen waren, auf »Berge« kam man dagegen nur mit dem Auto hinauf, über lange, gewundene Steilstraßen. Unser Bus reihte sich in eine Kolonne von Fahrzeugen ein, die weder Anfang noch Ende zu haben schien und sich im Konvoi die metallisch glänzende Fahrbahn hinaufschob. Links von uns lag die bläulich schimmernde Metallflanke des Berges, rechts ein kilometertiefer Abgrund. Der Rest des Konvois bestand aus gewaltigen, autonom fahrenden Kipplastern, bis zum Rand beladen mit frisch geschlagenem Felsschutt aus dem Taihang-Gebirge.

Nach erstaunlich kurzer Zeit hatten wir bereits eine Höhe von fünftausend Metern erklommen. Der Erdboden war kaum noch auszumachen, jedes Detail von den Reflexionen des bläulichen Triebwerkslichts verwaschen.

Stella ließ uns unsere Atemmasken aufsetzen. Je näher wir dem Plasmaauslass kamen, umso heller und wärmer wurde es. Die Visiere unserer Helme färbten sich zusehends dunkler, die Minikompressoren unserer Kühlanzüge fuhren langsam ihre Leistung hoch. Auf sechstausend Metern passierten wir die Einfüllöffnung, in welche die fünfzigtonnigen Riesenlaster der Reihe nach ihre Ladung abkippten. Immer neue Fuhren an Geröll verschwanden geräuschlos in dem rötlich glimmenden, weit aufgesperrten Schlund.

Ich fragte Stella, wieso die Triebwerke in der Lage waren, Gestein als Treibstoff zu nutzen.

»Die Fusion schwerer Elemente ist ein sehr komplexes Wissensgebiet. Dafür seid ihr noch zu jung. Erst einmal braucht ihr euch nur eines zu merken: Der Erdantrieb ist die leistungsstärkste Maschinerie, welche die Menschheit je gebaut hat. Berg NC 794 zum Beispiel, auf dem wir uns gerade befinden, generiert bei Vollauslastung fünfzehn Gigatonnen Schubkraft, die auf die Erde einwirken.«

Endlich erreichte unser Bus den Gipfel. Obwohl die Auslassöffnung direkt vor uns lag, war der Durchmesser der Plasmasäule einfach zu enorm, als dass wir mehr gesehen hätten als eine riesige Wand aus bläulich strahlendem Licht, die sich nach oben hin ins Unendliche erstreckte. Ich musste an eine Rätselfrage denken, die unser verhärmter Philosophielehrer uns vor einiger Zeit gestellt hatte:

»Du läufst über eine Ebene, immer weiter, bis vor dir plötzlich eine Wand auftaucht. Die Wand ist unendlich hoch, unendlich tief und erstreckt sich zu beiden Seiten unendlich weit. Was ist diese Wand?«

Ich rang kurz mit mir, aber dann erzählte ich Stella das Rätsel doch. Sie dachte eine Weile nach, bis sie ratlos den Kopf schüttelte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihr die schreckliche Antwort ins Ohr:

»Der Tod.«

Sie blickte mich einige Sekunden lang an, ohne etwas zu sagen. Dann nahm sie mich plötzlich in ihre Arme und drückte mich ganz fest. Über ihre Schulter hinweg sah ich die dunstverhangene Ebene. So weit mein Auge reichte, wimmelte sie von hoch aufragenden Metallbergen, von denen jeder eine mächtige Lichtsäule ausspie. Wie ein windschräger, kosmischer Urwald durchlöcherten sie den wankenden Himmel, der jeden Moment auf uns herabzustürzen drohte.

Als Nächstes fuhren wir zur Küste, wo die Spitzen versunkener Hochhäuser aus den Fluten ragten. Wenn die Wellen sich zurückzogen, rann das Meerwasser in weißen Strömen aus Myriaden von Fensteröffnungen und schufen eine Unzahl künstlicher Wasserfälle.

Die Bremsjahre waren eben erst vorüber, doch ihre Auswirkungen auf die Erdkugel waren erschütternd gewesen: Die durch durch den Erdantrieb hervorgerufene Beschleunigung hatte eine Flutwelle ausgelöst, die zwei Drittel der Städte auf der Nordhalbkugel verschlungen hatte. Der von den Triebwerken verursachte Temperaturanstieg hatte die Polkappen zum Schmelzen gebracht und die Überschwemmungen dadurch noch verschlimmert, sodass auch die Südhalbkugel nicht verschont geblieben war. Mein Großvater hatte vor dreißig Jahren selbst mit angesehen, wie eine hundert Meter hohe Monsterwelle Shanghai unter sich begraben hatte. Seine Augen wurden heute noch glasig, wenn er davon erzählte. Tatsächlich war von der Welt von einst nicht mehr viel übrig, und niemand wagte sich auszumalen, welches Leid ihr auf der bevorstehenden Reise durch die Weiten des Weltalls noch...