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Welten der Antike - Eine Geschichte von Ost und West

Michael Scott

 

Verlag Klett-Cotta, 2018

ISBN 9783608110272 , 574 Seiten

Format ePUB

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Einleitung


Die Ameisen hatten die Größe von Füchsen, und sie gruben Tunnel in die Erde, wie Maulwürfe. Die Erde, die sie ausgruben, türmte sich in hohen Haufen auf der Erdoberfläche. Es hieß, für Menschen sei es gefährlich, diese Erdhäufen direkt anzuschauen, waren sie doch mit Gold vermischt – dem besten und reinsten Gold der Welt, das unter der gleißenden Sonne einen tödlichen Glanz verströmte. Die dort lebenden Menschen konnten jedoch nicht davon abgebracht werden, das Gold für sich selbst zu begehren.

Sie bestiegen Fuhrwerke, vor die sie ihre schnellsten Pferde spannten, und kamen um die Mittagszeit – während die Ameisen damit beschäftigt waren, tief unter der Erde zu graben –, um so viel wie möglich von dem Erde-Gold-Gemisch wegzuschaffen. Sie mussten sich schnell und leise bewegen, weil sonst die Ameisen etwas merkten und dann an die Oberfläche zurückschwärmten, um die Diebe anzugreifen und zu verfolgen. Die Menschen warfen ihnen – in der Hoffnung, die Ameisen in ihrer Jagd aufzuhalten – Fleischstücke hin, doch ließen sich nicht alle dieser schlauen Insekten ablenken. Einige stürzten sich auf die Menschen und ihre Fuhrwerke und kämpften bis zum Tod …1

Willkommen in Indien – und zwar in jenem Indien, das ein Grieche namens Megasthenes an der Schwelle des 3. Jahrhunderts v. Chr. schilderte.2 Megasthenes malt das lebendige Bild einer Welt voller bemerkenswerter Kreaturen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Die nach Gold grabenden, Menschen tötenden Ameisen, so seine Erklärung, würden sich den menschlichen Dieben gegenüber so aggressiv verhalten, weil sie den Wert des Goldes kannten und lieber ihr Leben dahingeben würden, als sich von ihrem Gold zu trennen.3 Megasthenes berichtet, in anderen Teilen Indiens treffe man auf Tiger, die doppelt so groß seien wie Löwen; auf Affen, größer als die größten Hunde; auf geflügelte Skorpione und fliegende Schlangen, deren Urin auf der Haut des Menschen Blasen und Verwesungserscheinungen hervorrufe. Andere Schlangen seien so riesig, dass sie Hirsche und Stiere am Stück verschlingen könnten; und es gebe Hunde, deren Kiefer stark genug seien, um Löwen festzuhalten.4 All diese Tiere überrage noch der indische Elefant, größer auch als die Elefanten in Afrika; und sein Gegenstück im Meer sei der Wal, der seinerseits den indischen Elefanten an Größe um das Fünffache übertreffe.

Das Interesse von Megasthenes war nicht auf Tiere beschränkt: Sein Indien war auch von exotischen Menschen bevölkert. Er berichtet von winzigen Menschen und von solchen, die groß wie Riesen seien; von nasenlosen Menschen, von anderen ohne Mund, die sich mittels Inhalation ernährten und durch zu penetrante Gerüche umgebracht werden könnten; von Männern, deren – jeweils achtzehige – Füße nach hinten zeigten; von Männern mit Hundekopf, die sich bellend unterhielten.5

Bei dem Text des Megasthenes handelt es sich durchaus nicht um das Elaborat eines in der Nachmittagssonne Athens oder Spartas vor sich hin träumenden griechischen Müßiggängers. Wir haben hier vielmehr den ersten Augenzeugenbericht eines Mannes aus dem Westen vor uns, der die Ebenen Indiens am Ganges aufgesucht hat.6 Und während sein Text nur in Fragmenten auf uns gekommen ist, die von späteren Autoren in ihre eigenen Texte aufgenommen wurden (Autoren, die – durchaus nachvollziehbar – häufig die Wahrheit seines Berichts in Frage stellten), so behält er für unser Verständnis des antiken Indien seine zentrale Bedeutung, bietet er doch eine eingehende Analyse vom Funktionieren der indischen Gesellschaft im Vergleich mit seiner eigenen.7 Megasthenes war ja schließlich nicht irgendein Reisender, den es zufällig nach Indien verschlagen hatte. Er war vielmehr der erste offizielle griechische Gesandte am königlichen Hof in der Stadt Pataliputra (dem heutigen Patna), von dem aus damals ein Großteil des nördlichen Indien beherrscht wurde. Bei den Griechen hatte der dortige Herrscher den Namen König Sandrocottus; in der indischen Geschichte ist er besser bekannt als Chandragupta Maurya, Begründer einer der großen Dynastien Indiens.

Megasthenes war mit dieser Aufgabe von Seleukos Nikator (dem »Sieger«) betraut worden, der ehemals General Alexanders des Großen gewesen war und später Herrscher über das Reich der Seleukiden wurde, das sich von der Küste Kleinasiens am Mittelmeer bis über das heutige Afghanistan tief hinein nach Zentralasien erstreckte und dann hinunter über den Hindukusch in das nordwestliche antike Indien (jetzt Pakistan). Von seiner privilegierten Ausgangslage aus liefert uns Megasthenes einen höchst informativen Einblick in die Prachtentfaltung am Hofe von Chandragupta im Vergleich mit den Verhältnissen an den Höfen der Herrscher im Westen.

Er informiert uns, dass Pataliputra an der Stelle erbaut war, an der die großen Flüsse Ganges und Erannoboas aufeinandertrafen, und dass diese Ortschaft als Parallelogramm angelegt war: Ihre mit 570 Wachtürmen bestückten Palisadenmauern waren durchbrochen von 64 Toren. Ringsherum zog sich ein tiefer Graben, der nicht nur zur Verteidigung, sondern auch als praktische Auffangmöglichkeit für die Abwässer der Stadt diente (der Gestank muss, vor allem in den wärmeren Monaten, für das Geruchsempfinden von Besuchern der Stadt eine Zumutung gewesen sein). Doch der Glanz im Innern des Königspalastes, so Megasthenes, übertraf bei weitem denjenigen der großen persischen Paläste von Susa oder Ekbatana in Kleinasien, die bislang für die Griechen den Gipfel luxuriöser Extravaganz dargestellt hatten. In den königlichen Parkanlagen tummelten sich zahlreiche zahme Pfauen und Fasane; es gab schattige Haine und immergrüne Bäume. Dem König folgte ein Schwarm von Papageien, die über ihm dahinflogen; und riesige, künstlich angelegte Seen, in denen es von Fischen nur so wimmelte, dienten ausschließlich den Vergnügungen des Königs und seines Sohnes.8

Megasthenes schildert sogar, wie König Chandragupta einen Großteil seines Tages verbrachte: Während er über Rechtsfragen zu Gericht saß, wurde er fortwährend mit hölzernen Rollen massiert, um sein Blut flüssig und seine Muskeln locker zu halten. Wenn er sich nicht in einer Sitzung befand, dann vollzog er Opferhandlungen, oder er jagte. Die Jagden führte er in seinen eigenen Parks durch (wobei er von einer Plattform aus mit Pfeilen schoss) oder draußen in der Wildnis auf dem Rücken seines Lieblingselefanten. Alles, was er tat, wirkte sich auf sein Volk aus – wenn er seine Haare wusch, wurde von der Bevölkerung von Pataliputra ein großes Fest gefeiert. Der König verkörperte nämlich die Macht seiner königlichen Stadt: Traditionellerweise, so Megasthenes, übernahmen die indischen Herrscher den Namen ihrer Stadt als Bestandteil ihres königlichen Titels. Chandragupta war Pataliputra, ebenso wie Pataliputra Chandragupta war.9

Die lokale Bevölkerung, so Megasthenes, war überwiegend groß gewachsen und von stattlicher Haltung – Eigenschaften, die er der fruchtbaren Bodenbeschaffenheit zuschrieb. Überrascht berichtet er von dem Umstand, dass jeder frei zu sein schien, es offenbar keine Sklaven gab – eine damals für den Westen unbekannte Gesellschaftsverfassung. Recht und Gesetz, so Megasthenes, würden auf recht schlichte Art aufrechterhalten: Keiner könne schreiben, es werde also alles aus dem Gedächtnis wiedergegeben, und wenn jemand nachgewiesenermaßen falsches Zeugnis ablegte, würden ihm Hände und Füße abgehackt. Wer eine andere Person verstümmelte, würde entsprechend seiner Untat bestraft werden, und es würden ihm die Hände abgehackt. Beraube jemand einen Künstler seines Auges oder seiner Hand, sei er des Todes. Und Megasthenes berichtet erstaunt, dies habe eine Gesellschaft zur Folge, in der es, im Unterschied zu seiner eigenen, fast keine Diebstähle gab.10

Natürlich wollte Megasthenes wissen, wie es dazu kommen konnte, dass diese sehr andere Welt entstanden war. Zur Erklärung zog er indische Legenden heran, die die Geburt der dortigen Gesellschaft mit den griechischen Göttern des Mittelmeerraums in Verbindung brachten. Und er klärt ...