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Die Villa an der Elbchaussee - Die Geschichte einer Schokoladen-Dynastie

Lena Johannson

 

Verlag Aufbau Verlag, 2019

ISBN 9783841216083 , 416 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Kapitel 1


Frühjahr 1919

Frieda blinzelte, sie musste ihre Augen mit den Händen abschirmen, so hell waren die Strahlen der Sonne. Nie hätte sie sich vorstellen können, welche Leuchtkraft sie in diesem Teil der Erde hatte. Zu Hause hätte ihre Mutter sie längst ermahnt, die Arme zu bedecken, damit ihre Haut nicht den weißlichen Schimmer verlöre, der an Porzellan erinnern sollte. Doch ihre Mutter war weit weg. Frieda fühlte sich frei. Hier fehlte ihr nichts, höchstens der leichte Wind, der meist über die Alster strich. Immerhin spendete das Blätterdach der Baumriesen, die rund um die Plantage standen, ein wenig Schatten.

Ein großer, türkis und nachtblau schimmernder Schmetterling setzte sich auf Friedas Schuh. Sie lächelte und blickte ihm nach, als er in die flirrende Hitze davonflog, zwischen hohen knorrigen Bäumen hindurch, die gelbe und rötlichbraune Kakaofrüchte trugen. Eine besonders große lag, in zwei Hälften geschlagen, am Boden. Ihre Samen würden schon bald als Kakaobohnen in Säcken nach Hamburg verschifft werden.

»Sehe sich einer diese Schlafmütze an! Anscheinend hat sich hier nichts geändert. Das gnädige Fräulein liegt auf der faulen Haut herum, während da draußen die Welt einfach nicht zu Verstande kommen will.«

Frieda schreckte auf. Das Buch über die Geschichte des Kakao-Anbaus, in dem sie nach dem Mittagessen gelesen hatte, rutschte ihr polternd von den Knien. Das war Ernsts Stimme. Unmöglich. Ernst war doch eingezogen worden, noch auf die letzten Tage. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Augen und blickte geradewegs in sein verschmitzt lächelndes Gesicht.

»Ernst!« Sie sprang auf, schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich. Dünn war er geworden.

»Aua! Willst du mich umbringen?« Er schob sie von sich und lachte ein wenig bemüht. »Glaubst du etwa, ich bin den Gewehrkugeln und Granaten ausgewichen und habe mich in Afrika durchgeschlagen, damit du mich jetzt zur Strecke bringst?« Er schnaufte übertrieben.

Typisch Ernst! Als ob es das Normalste der Welt wäre, dass er plötzlich wieder vor ihr stand. Obwohl … typisch? Da war ein Schatten in seinem Blick, der ihr fremd war.

»Ist das alles, was dir einfällt, wenn du mich nach mehr als zwölf langen Monaten wiedersiehst? Schöne Begrüßung«, sagte sie, aber der flapsige Ton wollte ihr nicht recht gelingen.

Ernst Krüger hob die Hand zur Mütze: »Melde mich gehorsamst zurück, Fräulein Hannemann!« Dann streckte er ihr etwas ungelenk die Hand entgegen, ein Hauch von Röte huschte über seine Wangen. »Schön, wieder hier zu sein.« Er räusperte sich, blickte zu Boden, schwieg.

Unschlüssig standen sie sich in der großen Diele gegenüber.

Endlich. An jedem einzelnen Tag hatte sie diesen Moment herbeigesehnt. Die Pendeluhr tickte, als sei nichts geschehen. Auf dem Tischchen neben dem roten Ledersessel stand ein Strauß prächtiger Amaryllis. Alles war so wie immer. Nur dass Ernst endlich wieder da war.

»Ja«, sagte sie, ihre Stimme war plötzlich brüchig, »es ist wirklich schön, dass du wieder da bist.«

Ernst war anderthalb Jahre jünger als sie und ihr beinahe so vertraut wie ihr Bruder. Seit sie denken konnte, lebte er mit seiner Mutter im Gesindetrakt des Hannemannschen Kontorhauses in der Bergstraße. Frieda hatte ihn praktisch täglich gesehen, solange ihre Familie dort selbst noch gelebt hatte. Seine Mutter band Friedas Mutter das Mieder, schnürte ihr die Schuhe und kochte für die Hannemanns. Friedas Mutter fand, dass Ernst kein Umgang für die Tochter eines hanseatischen Kaufmanns war. Doch die beiden kannten sich nun einmal von Kindesbeinen an und verstanden sich prächtig. Und so ließen ihre Eltern Frieda gewähren. Ihre Mutter hoffte wohl, die Jahre würden diese unpassende Freundschaft von ganz alleine beenden. Auch nach dem Umzug in die Villa in der Deichstraße sahen die beiden sich fast jeden Tag. Ernst war mit zehn der Laufbursche ihres Vaters geworden, also ging er auch in dem neuen Haus ein und aus. Bis er plötzlich in den Krieg musste. Zwar verabscheute er das Gemetzel, glaubte aber, dass er als Soldat so manche Zulage bekäme, die er für seine Mutter sparen konnte. Und jeder Mann wurde gebraucht, selbst wenn er noch gar keiner war. »Kanonenfutter«, hatte ihr Vater damals gesagt und den Kopf geschüttelt. »Es ist ein Jammer!«

Frieda würde nie vergessen, wie erschrocken sie gewesen war, als sie von Ernsts Plänen hörte. Damit hätte sie nie gerechnet. Bei ihrem Bruder war es anders gewesen. Hans hatte sich gleich zu Beginn in das große Abenteuer gestürzt, wie er es genannt hatte. Aus freien Stücken und mit ungestümer Begeisterung.

»Wirst sehen, Schwesterchen, Weihnachten bin ich zurück. Dann bin ich ein Held. Und die jungen Damen werden Schlange stehen, um mit mir auszugehen.« Frieda verstand nicht, warum er dafür erst ein Held sein wollte, die jungen Damen hatten doch auch so schon auf der Straße die Köpfe nach ihm verdreht. Ihr geliebter Bruder Hans. Fünfmal hatten sie nun schon Weihnachten gefeiert. Ohne ihn. Wenn er nur auch endlich nach Hause käme …

Ernst räusperte sich und trat von einem Fuß auf den anderen. Sentimentalitäten waren noch nie seine Sache gewesen.

Frieda dagegen hätte ihn am liebsten schon wieder umarmt.

»Du bist zurück. Du bist wirklich wieder zurück! Wie geht es dir denn?«

»Ich hatte wohl noch Glück. Alles in allem.« Er blickte auf seine ausgetretenen Schuhe. »Bin in französische Gefangenschaft geraten und denn nach Afrika gekommen. Da hab ich den Besitzer einer Kakaoplantage kennengelernt und konnte mich gleich ’n büschen nützlich machen. Dadurch ist es mir nicht schlecht ergangen.« Ein schiefes Lächeln. »Wollte trotzdem nach Hause. Wusste doch, dass ich hier gebraucht werde. Am Ende geht Hamburch noch unter ohne mich.«

»Da hast du recht. Es stand kurz davor«, antwortete Frieda lächelnd. Dann fiel ihr Blick auf den zerschlissenen Koffer, der – nur noch von Riemen und Kordeln zusammengehalten – mitten in der Diele stand. »Du bist wahrhaftig gerade erst angekommen«, stellte sie fest. »Hast du deine Mutter überhaupt schon gesehen?«

Ernst schüttelte den Kopf. »Wie geht’s ihr denn?«

Schöner Mist, hätte sie bloß den Mund gehalten. »Es war nicht leicht für sie.« Frieda zögerte. »Na ja, ohne ihre beiden Männer … Sie hat den Anzug deines Vaters zur Ablieferungsstelle gebracht.« Bloß nicht aufblicken, bloß nicht ihm in die Augen sehen müssen. »Und ihren Ehering auch«, fügte sie leise hinzu. »Das war die Anordnung, sie konnte nicht anders. Das Geld hat sie ein paar Wochen über Wasser gehalten, aber dann musste sie sich im Hafen etwas dazuverdienen. Die Arbeit ist ihr gehörig auf die Knochen geschlagen, fürchte ich. Es tut mir leid, Ernst, ich …«

»Frieda, mein Herz?« Frieda verdrehte die Augen, sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Mutter sie so nannte.

»Die gnädige Frau«, flüsterte Ernst und griente kurz.

»Entweder soll ich ihr das Haar flechten oder ihr vorlesen, damit ihr das Sticken nicht zu langweilig wird. Wollen wir wetten?«

»Na, mach schon! Geh du zu deiner Mutter, ich schaue mal, wo meine steckt.«

»Sie wird in der Küche sein, um für Vater den Nachmittagskaffee zubereiten.«

»Vielleicht habe ich Glück und kann ein Zuckerstück stibitzen.« Ernsts Augen leuchteten.

»Wenn du wirklich Glück hast, bekommst du ein Stückchen von der guten Hannemannschen Schokolade«, erklärte Frieda stolz.

»Was soll das sein?«

»Frieda, Kind, wo steckst du nur wieder?«, der Tonfall ihrer Mutter war jetzt deutlich ungeduldiger.

»Erkläre ich dir später«, sagte sie daher eilig und raffte ihr Kleid. »Morgen früh an unserem alten Geheimplatz?«

Frieda hatte richtiggelegen, sie sollte ihrer Mutter die Haare machen und dabei mit ihr plaudern. Es war nicht so, dass Frieda nicht gern einen Plausch mit ihrer Mutter hielt, sie waren einfach nur selten einer Meinung. Für Rosemarie Hannemann bestand ihr Lebenswerk darin, zwei gesunde Kinder zur Welt gebracht zu haben, dem Haushalt eines angesehenen und stadtbekannten Kaufmanns inklusive einer kleinen Schar Bediensteter vorzustehen, stets nach der neusten Mode gekleidet zu sein und hübsch auszusehen. Damit war sie zufrieden. Für Frieda war das unbegreiflich, das konnte doch nicht alles sein. Die Welt war doch so viel größer und stand jedem offen. Gerade in diesen Zeiten. Wenn die Wirren des Krieges sich erst gelegt hatten, wollte Frieda reisen, sie wollte lernen – studieren vielleicht. Es gab so viele Möglichkeiten, dass sie am meisten Angst davor hatte, sich nicht entscheiden zu können. Und ihre Mutter? Sie begnügte sich damit, stolz auf ihren Hausstand, ihr beherrschtes Naturell und ihre Geduld zu sein. Selbst die Tatsache, dass ihr Mann Albert nur wenig Zeit für seine Ehefrau hatte, was sie zu einsamen Stunden der Langeweile verdammte, nahm sie mit großem Gleichmut hin.

»Nun, Frieda, mit wem hast du gesprochen?«

»Stell dir vor, Mutter, Ernst ist aus dem Krieg zurück. Ist das nicht wunderbar? Gertrud wird ganz außer sich sein vor Freude«, erzählte sie strahlend, während sie das kastanienfarbene Haar ihrer Mutter zu zwei dicken Zöpfen flocht, die sie später zu einer Schnecke auf ihrem Kopf auftürmen würde.

»Der Ernst, wirklich? Das ist eine gute Nachricht«, entgegnete Rosemarie leise. Ihre Stimme klang so dünn, als könnte sie im nächsten Moment brechen. In ihrer...