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Heimliche Versuchung - Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257608670 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{9}1


Da er eine Verabredung mit seinem Vorgesetzten hatte, war Brunetti pünktlich von zu Hause aufgebrochen, saß nun im Heck des Vaporetto Nummer eins und blätterte müßig im Gazzettino.

Sie fuhren gerade, wie er auch ohne hinzusehen wusste, von der Station Salute nach Vallaresso hinüber, da schaltete der Motor plötzlich in den Rückwärtsgang. Brunettis venezianischer Orientierungssinn sagte ihm, dass sie noch weit vom linken Kanalufer entfernt waren, das Geräusch kam also zu früh: Musste der Kapitän einem Hindernis ausweichen?

Brunetti ließ die Zeitung sinken, richtete den Blick nach vorn und sah – nichts. Eine Nebelbank versperrte ihm die Sicht. Er traute seinen Augen kaum, war der Himmel doch ganz klar gewesen, als er vor zwanzig Minuten aus dem Haus kam. Während ihn die jüngste Verzögerung beim Bau des MOSE-Hochwasserschutzprojekts beschäftigte – geplant und unterschlagen wurde nun schon dreißig Jahre –, war vor dem Vaporetto ein dicker grauer Vorhang heruntergegangen.

Es war November, seit einer Woche kühl und mit Nebel daher durchaus zu rechnen. Brunetti sah zu seinem Nachbarn hinüber, aber der war so sehr in sein Smartphone vertieft, dass er nicht einmal mitbekommen hätte, wenn Engel vom Himmel herabgestiegen und in geschlossener Formation neben dem Boot hergeflogen wären.

{10}Wenige Meter vor der grauen Wand kam das Boot zum Stehen, der Motor tuckerte im Leerlauf. Eine Frau hinter dem Commissario flüsterte »Oddio«, nicht ängstlich, nur überrascht. Das Hotel Europa und der Palazzo Treves waren noch zu erkennen, von Ca’ Giustinian fehlte jede Spur hinter dem dichten Nebel auf dem Canal Grande.

Der Mann neben ihm blickte von seinem Handy auf, dann stur geradeaus, dann wieder auf das Display. Brunetti faltete die Zeitung zusammen und schaute zum Bug. Durch die hintere Tür und die Fenster sah er Boote entgegenkommen, andere fuhren Richtung Rialto-Brücke. An der Accademia legte eine Nummer zwei ab, hielt auf ihr Vaporetto zu, stoppte aber noch rechtzeitig.

Darauf umkurvte ein Taxi hupend die stehende Nummer zwei, um geradewegs auf ihr Vaporetto zuzurasen. Der Bootsführer sprach mit der Blondine hinter sich, als sich der Mund der Frau zu einem Schrei öffnete. Schnell schaute der Fahrer nach vorn, riss geistesgegenwärtig das Steuer herum und jagte vor Brunettis Vaporetto mitten hinein in die Nebelwand.

Brunetti zwängte sich an seinem Nebenmann vorbei und eilte an Deck, um zu hören, ob es weiter vorne krachte, doch nur das leiser werdende Geräusch des Taxis verebbte in der Ferne. Ihr eigener Motor wurde lauter, und das Boot setzte sich langsam in Bewegung. Brunetti konnte nicht erkennen, ob das Radar auf dem Dach der Kajüte sich drehte, aber ohne Radar würden sie sich jetzt doch wohl nicht auch nur einen Zentimeter in diesen Nebel hineinwagen?

Plötzlich, wie von Zauberhand, schwang der graue Vorhang beiseite, und sie glitten ins helle Sonnenlicht. Der {11}Matrose lehnte vollkommen entspannt am Fenster der Führerkabine, der Kapitän blickte gelassen geradeaus, und die versammelten Palazzi glitten still vorüber, während das Vaporetto auf die Haltestelle Vallaresso zuhielt.

Hinter Brunetti ging die Tür auf, und die Passagiere drängten zum Ausgang. Das Boot legte an, der Matrose schob das eiserne Geländer zur Seite, Leute stiegen aus und ein, der Durchlass schloss sich wieder, und sie legten wieder ab. Auch Richtung Accademia vom Nebel keine Spur. Boote fuhren hin und her: Vor ihnen lag das bacino, zur Linken standen die Basilica, die Marciana und der Dogenpalast unverrückbar an ihren Plätzen, und die Morgensonne vertrieb die letzten Schatten der Nacht.

Brunetti schaute in die Kabine und fragte sich, ob es für das, was er gesehen hatte, Augenzeugen gab, wusste aber nicht mehr, wer von den Anwesenden schon an Bord gewesen war. Er hätte sie gerne ausgefragt, konnte sich jedoch vorstellen, was für ein Gesicht sie machen würden, und ließ es lieber sein.

Mit der Hand strich er über das Geländer, doch das war genauso trocken wie das Deck. In seinem dunkelblauen Anzug wärmte ihm die Sonne die rechte Schulter, ja sie brannte geradezu; die Luft war frisch und trocken, der Himmel wolkenlos.

Bei San Zaccaria stieg er aus; die Zeitung ließ er ebenso zurück wie die Hoffnung, einen Zeugen jenes Nebelspuks zu finden. Er ging langsam die riva entlang, verscheuchte den Spuk aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf das, was ihn in der Questura erwartete.

Gestern Nachmittag hatte ihn sein Vorgesetzter, {12}Vice-Questore Giuseppe Patta, für heute früh zu einer Unterredung bestellt. Genaueres stand nicht in der Mail, das war normal; nicht normal war Pattas höf‌liche Ausdrucksweise.

Im Grunde benahm sich Vice-Questore Patta wie der typische Karrierist in Staatsdiensten. Er gab sich geschäftiger, als er war; er beanspruchte jedes Lob für sich, und er besaß einen schwarzen Gürtel in der Kunst, Schuld oder die Verantwortung für Misserfolge auf andere Schultern abzuwälzen. Einzig, dass er jahrzehntelang am selben Ort geblieben war, mochte verwundern. Die meisten Männer seines Rangs bewegten sich bei ihrem Aufstieg im Zickzack von einer Provinz und einer Stadt zur nächsten, bis sie am Ende nach Rom befördert wurden, wo sie wie Klumpen in der Dickmilch hockten und allen unter sich Licht und Luft und jede Chance auf Gedeihen wegnahmen.

Patta war wie ein kambrischer Trilobit in der Questura von Venedig versteinert und längst zu einem lebenden Fossil geworden. Neben ihm, in derselben Gesteinsschicht, ruhte sein Assistent, Tenente Scarpa, der ebenfalls aus Palermo stammte und in diesen neuen Jagdgründen heimisch geworden war. Commissari kamen und gingen, drei verschiedene Questori hatten während Pattas Zeit in Venedig das Zepter geschwungen, sogar die Computer waren zweimal durch neue ersetzt worden. Patta aber blieb – eine Napfschnecke, die sich an ihren Felsen so festgesaugt hatte, dass die Fluten ihr nichts anhaben konnten –, den treuen Tenente immer an seiner Seite.

Und doch hatten weder Patta noch Scarpa sich je für Venedig erwärmt. Wenn jemand sagte, die Serenissima sei schön – oder sich gar zu der Bemerkung verstieg, es sei die {13}schönste Stadt der Welt –, tauschten Scarpa und Patta vielsagende Blicke. Ja, schienen sie zu denken, aber haben Sie schon einmal Palermo gesehen?

Pattas Sekretärin, Signorina Elettra Zorzi, begrüßte Brunetti im Vorzimmer. »Ah, Commissario«, sagte sie. »Eben hat der Vice-Questore angerufen und mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er sich um ein paar Minuten verspäten wird.«

Hätte sich Vlad der Pfähler für die Stumpfheit seiner Pflöcke entschuldigt, wäre dies kaum verblüffender gewesen. »Stimmt was nicht mit ihm?«, fragte Brunetti unwillkürlich.

Signorina Elettra neigte grübelnd den Kopf zur Seite, ein Lächeln erschien auf ihren Lippen und verschwand wieder. »Er hat in letzter Zeit viel mit seiner Frau telefoniert«, sagte sie. »Schwer zu beurteilen: Er antwortet ihr immer nur sehr einsilbig.« Irgendwie war es Signorina Elettra gelungen, eine Art Abhörgerät im Büro ihres Vorgesetzten zu installieren, aber Brunetti tat lieber so, als wisse er nichts davon.

»Wenn er mit Scarpa redet, stellen die beiden sich immer ans Fenster.« Dann wusste Patta also von der Wanze auf seinem Schreibtisch? Oder zog sich der Vice-Questore zu geflüsterten Unterredungen mit seinem Assistenten aus gesundem Misstrauen ans Fenster zurück? Oder gefiel ihnen einfach nur die Aussicht?

»Was hat er bloß?«, fragte Brunetti. Ihre Bluse war so dunkel wie Rote Bete, mit weißen Knöpfen vorne und an den Ärmeln, und umschmeichelte ihre Schultern wie Seide.

Signorina Elettra legte die gespreizten Finger beider Hände vor sich hin. »Ich habe keine Ahnung.« Brunetti {14}spürte ihre Ratlosigkeit. Doch wer, wenn nicht sie, konnte wissen, was mit Patta los war? Ohne aufzublicken, fuhr sie fort: »Er wirkt nicht gereizt, wenn er mit seiner Frau spricht. Er hört ihr zu und sagt, sie soll tun, was sie für richtig hält.«

»Und bei Scarpa?«

»Bei ihm schon.« Und nach kurzem Nachdenken: »Offenbar gefällt ihm nicht, was Scarpa ihm zu melden hat. Er fällt ihm ins Wort. Einmal hat er ihn regelrecht angefahren, er soll ihn endlich in Ruhe lassen«, erzählte sie und vergaß dabei ganz, wie unwahrscheinlich es war, dass sie dergleichen durch die geschlossene Tür hören konnte.

»Ärger im Paradies«, meinte Brunetti trocken.

»Sieht ganz so aus. Möchten Sie in seinem Büro auf ihn warten, oder soll ich Sie anrufen, wenn er kommt?«

»Ich warte oben.« Er konnte sich eine letzte Bemerkung nicht verkneifen: »Der Vice-Questore soll schließlich nicht auf die Idee kommen, ich könnte seinen Schreibtisch durchwühlen.«

»Was Sie nicht sagen«, ertönte eine tiefe Stimme auf der Schwelle.

»Ah, Tenente«, säuselte Brunetti und drehte sich lächelnd zu dem Mann am Türpfosten um. »Wieder einmal sprechen wir wie mit einer Zunge, wenn es um das Wohl des Vice-Questore geht.«

»Soll das ironisch sein? Oder eher sarkastisch, Commissario?«, fragte Scarpa. »Diejenigen unter uns, die nicht studiert haben, kennen den Unterschied nicht so genau.«

Brunetti machte ein nachdenkliches Gesicht: »In diesem Fall, würde ich sagen, ist es lediglich eine Hyperbel, {15}Tenente, wobei die offenkundige Übertreibung dazu dient, die gesamte Aussage als falsch und unglaubwürdig zu entlarven.« Und da Scarpa nichts entgegnete: »Es handelt sich um ein rhetorisches Stilmittel, das eine komische Wirkung erzielen...