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Die Hungrigen und die Satten - Roman

Timur Vermes

 

Verlag Eichborn AG, 2018

ISBN 9783732565467 , 509 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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1


Der Flüchtling versucht betont normal zu gehen, was nicht leicht ist, weil es sich nicht normal anfühlt. Ob sein Gang so natürlicher wird, kann er noch nicht sagen. Er weiß nur, dass das Normalgehen auch deshalb nicht klappt, weil ihn die Blicke der anderen nervös machen. Er zieht daraufhin den Kopf etwas ein, aber das ist der falsche Weg, das merkt er gleich an den Reaktionen: Wahrscheinlich sieht er jetzt aus wie ein buckliger Storch. Dann lieber Brust raus, Kopf hoch und grinsen.

Besser.

Er muss nur aufpassen, dass er nicht anfängt, huldvoll zu grüßen wie die alte Engländerkönigin.

Hätte er es früher tun sollen? Ging eigentlich nicht. Es ist ja nicht so, dass er ewig darüber nachgedacht hat. Er ist auch jetzt noch nicht sicher, ob es richtig war. Ändern kann er es auf jeden Fall nicht mehr.

Er entspannt sich langsam, das Grinsen wird zu einem Lächeln. Er lässt sich allmählich in seine neue Rolle fallen. Ist ja logisch, dass sie ihn ansehen. Wie sollte es auch anders sein: Wenn jeder Tag genauso ist wie der Tag zuvor, dann werden kleinste Veränderungen aufregend. Interessant ist, dass sein sichereres Auftreten andere Reaktionen hervorruft. Es wird weniger gekichert, und er bekommt öfter ein aufmunterndes Nicken oder Anerkennung. Zwei Kinder laufen ihm hinterher, so wie sie manchmal Autos nachlaufen. Es könnten noch mehr werden, aber dann kommt tatsächlich ein Auto, und seine Staubwolke reißt die Kinder mit sich fort.

Der Flüchtling beginnt mit der neuen Situation zu spielen. Ein Mädchen sieht ihn an, und er antwortet auf ihren Blick mit einem Tanzschritt. Sie lacht. Es fühlt sich gut an. Es war richtig. Es war’s wert. Er hätte es wohl doch früher tun sollen. Der Flüchtling biegt um die Ecke und sieht Mahmoud.

Mahmoud hockt auf dem Boden und beobachtet eine Gruppe von Mädchen. Der Flüchtling schiebt die Hände in die Hosentaschen und stellt sich neben Mahmoud. Mahmoud bewegt sich nicht.

»Das bringt nix«, sagt der Flüchtling zu ihm.

»Das weiß man nicht«, meint Mahmoud, ohne aufzublicken.

»Das weiß man. Du guckst falsch.«

»Ich guck, wie alle gucken.«

»Eben«, sagt er. »Alle gucken zu Nayla, alle gucken wie du. Woran soll sie merken, dass du besonders bist?«

»Weil es gar nicht um Nayla geht.«

»Sondern? Um Elani?«

»Vielleicht. Vielleicht nicht.«

»Das wäre ja noch blöder.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil es auch für Elani aussieht, als ob du Nayla anschaust. Dann denkt eben auch Elani, dass du wie alle bist.«

Mahmoud legt den Kopf in den Nacken und dreht die Augen nach oben, bis er den Flüchtling ansehen kann: »Hast du einen besseren Plan?«

»Warum gehst du nicht rüber, ganz cool, so dass Nayla schon überlegt, wie sie dich am besten abwimmelt. Und wenn du dann neben ihr stehst, wenn Nayla schon den Mund aufmacht – dann wendest du dich plötzlich an Elani.«

Mahmoud klappt seinen Kopf wieder nach vorne. Er denkt über den Vorschlag nach und sagt dann: »Das ist deine Nummer. Du bist so ein Quatscher. Ich bin mehr so ein Gucker. Meine Kraft liegt in meinem Blick. Wo hast du die Schuhe her?«

Mahmoud hat nicht ein Mal nach unten gesehen. Vielleicht liegt seine Kraft ja wirklich in seinem Blick.

»Man spart ein bisschen, wenn man selbst nicht raucht«, sagt der Flüchtling und hält Mahmoud die Zigaretten hin.

Mahmoud nimmt sich eine und sagt: »Aber man spart mehr, wenn man schnorrt.« Er steckt die Zigarette hinter sein Ohr und dreht sich in der Hocke zum Flüchtling, wie ein Automechaniker, der einen Schaden begutachtet. »Die sehen gut aus«, sagt er anerkennend, »die sehen sogar echt aus. Wenn ich nicht wüsste, dass du hier keine Echten kriegst, würde ich sagen …«

»Natürlich kriegst du hier Echte.«

Der Flüchtling klemmt die Schachtel wieder unter den linken Ärmel seines T-Shirts auf die breite Schulter. Das macht weder die Schachtel noch die Zigaretten attraktiver, aber man sieht sofort, dass er Zigaretten hat. Und Zigaretten sind in jedem Lager unentbehrlich, auch für Nichtraucher. Man kann damit Kontakte knüpfen, Leuten was Gutes tun, ohne dass man eine große Sache draus macht. Zigaretten kann jeder brauchen, wenn nicht für sich, dann für seine Eltern oder Geschwister oder für einen Freund wie Mahmoud.

Mahmoud klopft ungeduldig an das Bein des Flüchtlings. Er rüttelt so lange, bis der Flüchtling endlich das Bein hebt, damit der Schuhmechaniker auch die Sohle begutachten kann. »Geile Farbe. Bei wem kriegst du die?«, fragt Mahmoud von unten herauf. »Bei Mbeke? Dann sind sie nicht echt.«

»Stimmt.«

»Na also.«

»Was – na also?«

»Nicht echt.«

»Nö. Nicht von Mbeke.«

»Von wem denn sonst? Ndugu steckt die Nase nicht mehr ins Schuhbusiness, das weiß ich sicher.«

»Die sind auch nicht von Ndugu.«

»Dann sind sie erst recht nicht echt.«

»Dann sind’s wohl Fake-Shoes.« Der Flüchtling lacht.

Mahmoud richtet sich auf: »Jetzt sag schon!«

»Und wenn sie von Zalando sind?«

»Zalando verkauft keine Schuhe.«

»Für mich macht er vielleicht eine Ausnahme.«

Mahmoud mustert ihn. Keiner weiß, wie Zalando wirklich heißt. Alle wissen nur, dass er bei der Organisation arbeitet und Deutscher ist. Und dass er immer dasselbe antwortet, wenn man ihn um einen Gefallen bittet: »Was fragst du mich? Bin ich Zalando?« Ein selten blöder Spruch, wenn doch keiner seinen echten Namen kennt. Vielleicht ist er ja tatsächlich jener berühmte Zalando.

»Dann sagst du’s eben nicht«, sagt Mahmoud. Er holt die Zigarette hinter dem Ohr hervor und hält sie dem Flüchtling mit einem fragenden Gesichtsausdruck hin.

Der Flüchtling holt sein Feuerzeug aus der Hose. Wer Leute mit Zigaretten beglücken will, muss die Zigarette auch anzünden können. Sonst suchen die Leute jemanden mit Feuer, und dann ist ein brauchbares Gespräch unmöglich. Sie hören nicht mehr zu, sie vergessen die Hälfte oder kriegen sie erst gar nicht mit. Mahmoud und er gehen schweigend die staubige Straße entlang. Mahmoud schaut auf sein Smartphone.

»In Berlin essen sie jetzt Kartoffeln und Schweinefüße.«

»Wer will schon nach Berlin?«

»Ich nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Es ist schön hier!«, ruft Mahmoud.

»Es ist herrlich«, antwortet der Flüchtling und breitet die Arme aus. »Die schönsten Steine der Welt. Sonne kostenlos. Was gibt’s in Berlin, was es hier nicht gibt?«

»Blonde Frauen«, sagt Mahmoud und raucht.

»Und wenn schon? Wer will blonde Frauen?«

»Ich. Zum Ausprobieren.«

»Aber Mahmoud!« Der Flüchtling stellt sich Mahmoud in den Weg, er nimmt ihn sanft bei den Schultern und sieht ihm mahnend ins Gesicht: »Blonde Frauen hat der Teufel gemacht. Wer Blonde ins Haus lässt, erntet Unglück. Du wirst krank. Deine Felder verdorren. Höre auf deinen alten Vater: Eine blonde Frau wird dich verfluchen, so dass alle deine Ziegen verhungern.«

»So ein Glück: Meine Ziegen sind schon verhungert. Jetzt hab ich eine blonde Frau gut.«

»Du hast nie Ziegen gehabt.«

»Umso ungerechter! Dann kriege ich sogar zwei blonde Frauen.«

Der Flüchtling lacht. Mahmoud auch.

»Und? Woher sind jetzt die Schuhe?«

»Gekauft.«

»Neu?«

»Neu.«

»Und wo nimmst du die Kohle her?«

»Du hättest die Kohle auch.«

»Schon. Aber ich geb sie nicht aus. Jedenfalls nicht für so einen Quatsch wie Schuhe.«

»Sondern? Für einen Schlepper?«

»Da kannste deinen Arsch drauf wetten. Aber für einen Spitzenschlepper.«

»Hört, hört«, spottet der Flüchtling, »sogar für einen Spitzenschlepper!«

»Schau an. Wieder einer mit Reiseplänen.«

Das kommt von Miki. Miki steht hinter seiner Bar am Lager-Highway. Er hat sie aus Brettern und Spanplatten zusammengenagelt, einige Wellblechteile und die Motorhaube eines alten Mercedes sorgen für Schatten. Anfangs war mal geplant, sie einheitlich anzustreichen. Aber wie es eben so ist, mal kommt jemand zu Besuch, mal regnet es, mal hilft einem der beste Freund nicht, weil man gerade was mit seiner Frau hat – schon sind fünf Jahre vorbei, und man wartet nur noch, bis die Bar zusammenfällt, damit man endlich eine neue bauen kann. Aber dafür ist sie leider zu stabil.

Die Bar ist nicht so klein, dass Miki sie unbehelligt führen kann, niemand kann das. Aber sie ist klein genug, dass ihm die Gangs nicht so genau auf die Finger schauen. Ohne Gangschutz kriegt er allerdings auch nicht immer Strom für seinen Kühlschrank.

»Und ob ich verreise!« Mahmoud bleibt stehen. »Dieses Drecksloch ist nämlich nicht für jeden das Ziel seiner Träume.«

»Sei mal nicht so sicher«, sagt Miki, »wie fühlt sich das an?« Er greift unter die Theke und wirft den beiden einen Eiswürfel über die Straße entgegen. »Ein kaltes Getränk, kurz vor der großen Reise?«

Der Flüchtling will den Eiswürfel auffangen, aber Mahmoud schnappt ihn sich zuerst und steckt ihn in den Mund.

»Danke, ich hab schon.«

»Komm«, sagt der Flüchtling, »ich lad dich ein.« Er schiebt Mahmoud zu Mikis Theke. »Zwei. Import. Und mach dir auch eins auf.«

»Danke, der Herr«, sagt Miki vornehm und stellt drei Flaschen auf die Theke, eine davon vor sich. Mahmoud ist einigermaßen überrascht.

»Erst neue Schuhe, dann Importbier. Hab ich was...