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Wintersaat - Historischer Roman aus dem Münsterland

Almuth Herbst

 

Verlag Solibro Verlag, 2018

ISBN 9783960790280 , 896 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR


 

Der Kutscher lenkte missmutig die vier Rappen an den Schlaglöchern vorbei, in denen das Regenwasser der vergangenen Tage die vorbeistürmenden Wolkenfetzen unterhalb des Äthers spiegelte wie schmutzige, frischgeschorene Wolle. Nicht immer gelang das. Dann kam es ihm vor, als würde das gesamte Gefährt abheben und für einen Moment innehalten, als hielte es den Atem an, bis es wieder aufsetzte und seine Räder auf dem Waldweg weiterknirschten. Die Pferde störten sich weder an seiner schlechten Laune noch an seiner Sorge, ob die Achsen diese Tour de Force durchstehen würden. Sie trabten munter voraus und bliesen dampfende Wölkchen in die kalte Luft. Immer voran nur, immer voran.

Ein Achsenbruch in diesem Wald? Das wäre nicht gut.

Der Mann schnalzte, anstatt mit der Peitsche zu schlagen, um das Tempo zu halten. Die eine Strecke bis Münster, die über Senden führte, kannte er gut. Aber man fuhr doch, um Himmels Willen, nicht durch die Davert! Der Kutscher zog den Kopf ein und vermied es, den Blick schweifen zu lassen. Durch dieses gottverlassene Gefilde hatte ihn bisher noch niemand gezwungen. Am liebsten hätte er einem der Pferde die Scheuklappen abgenommen und sich selbst aufgesetzt. Er wollte nichts sehen, was ein menschliches Wesen nicht sehen durfte. Um ihn herum schien ihm alles feindlich. Die Davert. Ein sieben Stunden langer Wald, in den seit Menschengedenken aus der gesamten Umgebung alle bösen und unruhigen Geister verwiesen wurden. Musste das sein? Hier lang?

Es wimmelte nicht nur von Geistern, sondern auch von wilden Tieren und es war für jeden dahergelaufenen Lumpen ein Leichtes, sich im gespenstischen Dickicht zu verstecken, um in einem unachtsamen Moment die Reisenden zu überfallen und zu ermorden. Vorausgesetzt natürlich, besagter Lump war kaltblütig genug, sich in diesem Gespensterwald aufzuhalten. Und wenn er das war, war von eben diesem kaltblütigen Lumpen nicht gerade zu erwarten, dass er jeden Sonntag brav in der Kirche saß und ganz genau hinhörte, wenn es um Gewaltverzicht und Nächstenliebe ging.

Kein Christ gesellte sich freiwillig zwischen Moorleichen, Geister, böse Sagengestalten und uralte Fabelwesen wie die Wasserweiber mit ihren Algenhaaren, die es liebten, Kleinkinder in die schwarzen Kolke des Moores zu ziehen. Selbst die Menschen, die in der Nähe des Venner Moores wohnten und die Tücken des Sumpfes kannten, trauten sich nicht in die Davert.

Aber sein Herr, der Amtsdroste, Bücherwurm und selbst ernannter Anhänger der neuen Bildung, hatte es so angeordnet, und damit waren wie üblich jedwede Einwände abgeschmettert, noch ehe sie geäußert waren.

Der Kutscher verfluchte den Tag, an dem sein Herr das erste Buch in die Hände bekommen hatte und seither für die Warnungen der Alten und Weisen zur Gänze immun schien.

Er drehte sich zur Kabine um. Das Leder war heruntergelassen. Die Passagiere wollten offenbar unter sich sein und von seinen Bedenken nichts mehr hören. Die entfernte Verwandtschaft auf Burg Davensberg sollte besucht werden. Und dies hier war eben der kürzeste Weg.

Der Verwandtenbesuch auf Davensberg war wie eine Art Initiationsritus oder Schwertleite, wie man das früher nannte, für den jungen Stammhalter Jeremias gedacht, bevor der zum Studium auf die nächsten Jahre hinter dicken Münsteraner Mauern verschwand. Das bedeutete einen Abend ein Festgelage (vorausgesetzt natürlich, man kam überhaupt in Davensberg an) und dann am kommenden Morgen der Messe so gut wie eben möglich folgen und zu versuchen, über dem lateinischen Singsang nicht wegzudämmern, bis dann nach dem Frühstück der Weg fortgesetzt wurde.

Nun denn, im Hinblick auf die Unterbrechung der Reise war die Idee nicht so schlecht, denn die sieben Stunden bis Münster konnten am Stück eine Qual werden. Nicht zuletzt wegen der verflixten Schlaglöcher. Wumms!

In der Kutsche reisten zwei Personen: Stephan von Neuhoff, Besitzer der Rauschenburg bei Olfen an der Lippe, eben jener Sturkopf von Amtsdroste, begleitete seinen Erstgeborenen Jeremias von Neuhoff-Ascheberg nach Münster. Der Junge war im vergangenen August dreizehn Jahre alt geworden und damit alt genug den elterlichen Herd zu verlassen, um sich dem Studium zu widmen. Aber ganz offensichtlich konnte er trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht aufhören, gegen seinen Vater aufzubegehren, weil er es in der Kutsche sterbenslangweilig fand und lieber auf dem Kutschbock sitzen wollte, um zum einen vom alten Rittmeister die zahllosen Vertellsell aus der gruseligen Davert zu hören und zum anderen, um ein letztes Mal die vier schönen Pferde lenken zu dürfen.

Sein Vater führte ein strenges Regiment und äußerte wie gewöhnlich in dem ihm eigenen, angespannten Ton, dass sein Platz nicht beim Gesinde sei. Er hatte diesmal sogar vor Antritt der Fahrt das Leder zwischen Kutschbock und Kabine schließen lassen, um jegliche Vertraulichkeiten zwischen Rittmeister und Sohn zu unterbinden.

Wäre doch seine geliebte Mutter bei ihm gewesen! Die hätte ihn schmunzelnd mit ihrem warmen Lächeln angeschaut und gesagt, dass er eben nach ihr käme und Vater solle doch ein Einsehen haben.

Der Junge sah aus dem Fenster und wurde immer ungeduldiger. Dabei stieß er wieder und wieder mit dem Fuß gegen den Sitz, auf dem sein Vater saß. Er wusste ganz genau, dass er den Vater damit zur Weißglut bringen würde. Dessen Nerven lagen ohnehin blank. Aber dann kam zumindest Leben in die Bude und sein Vater würde endlich etwas anderes tun, als ewig auszusehen wie ein bekümmertes Meerschweinchen. Ungeachtet der Stimmung seines Vaters wusste er ganz genau, dass er keine Strafe zu erwarten hatte. Denn sein Hauslehrer, der einzige, von dem er Prügel bezog, war inzwischen weit, weit entfernt und entfernte sich zu seiner Freude immer weiter und weiter mit jedem Sprung, den die schönen Pferde taten.

„Jeremias! Was soll das?“, herrschte der Vater ihn endlich an.

„Dann fällt Ihnen der Abschied nicht so schwer.“

Stephan von Neuhoff öffnete empört den Mund. Aber nur, um ihn unmittelbar darauf wieder zu schließen.

„Du trauerst gar nicht, oder?“

„Ich hab es satt, dass seit Mutters Tod alles stillsteht.“

Der Junge sah wieder aus dem Fenster. Er traute sich sogar gleichgültig mit den Schultern zu zucken. Es war noch nicht lange her, da wäre ein derart freches Benehmen undenkbar gewesen.

Der Edelmann lupfte seine Perücke und strich mit der Hand über die Haarstoppel darunter, während er auf seiner Unterlippe kaute. Stephan von Neuhoff fühlte sich wie ein morscher Ast am Ahnenbaum seiner Vorfahren, der Platz machen musste, weil ein stärkerer Trieb bereits nachwuchs. Und dieser Trieb saß ihm gegenüber: sein (wie der Hauslehrer es auszudrücken pflegte) beratungsresistenter Sprössling.

„Dir wird es im Gymnasium Paulinum sicher gefallen. Der Bursche, der dir als Mentor zugeteilt ist, heißt Friedrich“, murmelte der Vater verlegen und konnte seine Schwäche vor dem Knaben kaum verbergen.

„Das sagen Sie mir zum fünften Mal.“

„Weil du alle Namen immer vergisst.“

„Wen kümmert’s?“

„Es ist unhöflich. Es muss ja nicht gleich jeder mitkriegen, dass dir andere Menschen völlig gleichgültig sind.“

Jeremias bohrte seinen kalten Blick in den Vater, hielt aber ausnahmsweise den Kommentar, der ihm durch den Kopf ging, für sich.

„Bischof Galen meint …“, setzte der Vater neu an.

„Sie hätten mir die teuren Bücher vererben sollen, anstatt sie ihm zu schenken, damit ich da studieren kann.“

„Du weißt ganz genau, dass ich dafür zu knapp bei Kasse bin, nach der Dürre im Sommer. Die wertvollen Bücher sind das einzige, was ich noch besitze und in dich investieren kann. Sie sichern deine Zukunft. Sei froh, dass die überhaupt so einen hohen Wert haben.“

„Und der Bischof füttert auf eigene Kosten den Abschaum mit durch und steckt sie in die gleichen Schuluniformen wie seine zahlenden Gäste.“

„Das nennt man Fortschritt, wenn die Kirche mittellosen Waisen, die im Übrigen aufgrund ihres Fleißes und ihrer Begabung ausgewählt werden, den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht.“

„Das nennt man den Anfang vom Ende.“

Der Droste stöhnte. Dieser aufmüpfige, arrogante Bengel machte seinem hohen Stand weder Ehre, noch würde er sich demütig der strengen Disziplin der Jesuitenpater des Paulinums in Münster unterordnen.

Dabei sah er ihm doch so ähnlich. Zumindest äußerlich. Es kam ihm manchmal vor, als würde er unentwegt in seinen eigenen, kleinen, gemeinen Spiegel sehen.

Jeremias war rechthaberisch wie ein abgehalfterter Schulmeister, zwanghaft pedantisch, gierig wie ein ganzes Rudel Frettchen und...