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Die Mondschwester - Roman

Lucinda Riley

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641201944 , 768 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

I


»Nie werde ich vergessen, wo ich war und was ich tat, als ich hörte, dass mein Vater gestorben war.«

»Ich weiß auch noch genau, wo ich war, als der meine starb.«

Charlie Kinnaird musterte mich mit einem intensiven Blick seiner blauen Augen.

»Und, wo waren Sie?«

»In Margarets Wildtierschutzgebiet. Ich habe Rotwildkot geschippt. Natürlich hätte ich mir eine passendere Umgebung gewünscht, aber so war’s nun mal. Letztlich ist es auch okay. Obwohl …« Ich schluckte und fragte mich, wie um Himmels willen wir in diesem Bewerbungsgespräch auf Pa Salts Tod gekommen waren. Schon als Dr. Charlie Kinnaird die stickige Krankenhauskantine betreten hatte, war mir aufgefallen, dass sich die Augen aller auf ihn richteten. Mit seiner schlanken, eleganten Figur, den welligen dunkelbraun-rötlichen Haaren und dem grauen Anzug wirkte er nicht nur attraktiv, sondern besaß natürliche Autorität. Einige der Klinikangestellten hatten ihm respektvoll zugenickt. Als er mir zur Begrüßung die Hand hinstreckte, hatte so etwas wie ein kurzer Stromschlag meinen Körper durchzuckt. Nun, da Charlie Kinnaird mir gegenübersaß, beobachtete ich, wie seine langen Finger nervös mit einem Pager herumspielten.

»›Obwohl‹ was, Miss d’Aplièse?«, hakte Charlie in leicht schottischem Tonfall nach.

»Ähm … ich bin mir nicht sicher, ob Pa wirklich tot ist. Er muss tot sein, denn er ist verschwunden und würde seinen Tod bestimmt nicht vorspielen – schließlich wüsste er, wie viel Schmerz er seinen Mädchen damit zufügen würde –, aber ich habe das Gefühl, dass er ständig in meiner Nähe ist.«

»Eine völlig normale Reaktion«, erklärte Charlie. »In Gesprächen mit Hinterbliebenen höre ich immer wieder, dass sie die Anwesenheit geliebter Menschen auch nach deren Tod noch spüren.«

Er als Arzt musste es wissen, denn er hatte beruflich häufig mit dem Tod und trauernden Angehörigen zu tun.

»Merkwürdig«, meinte er seufzend, nahm den Pager von der Kunstharzoberfläche des Tischs und drehte ihn zwischen den Fingern. »Wie ich gerade erwähnt habe, ist auch mein Vater vor Kurzem gestorben, und ich werde von Albträumen geplagt, dass er aus dem Grab heraussteigt!«

»Sie standen einander also nicht nahe?«

»Nein. Er war mein biologischer Vater, doch da endet unsere Beziehung auch schon. Sonst hatten wir keine Gemeinsamkeiten. Bei Ihnen ist das offenbar anders.«

»Ja, obwohl meine Schwestern und ich als Babys von ihm adoptiert wurden und wir folglich nicht blutsverwandt mit ihm sind. Trotzdem habe ich ihn sehr geliebt. Er war ein erstaunlicher Mensch.«

»Was nur beweist, dass die Biologie im Verhältnis zu unseren Eltern nicht die Hauptrolle spielt. Es ist so etwas wie eine Lotterie, nicht wahr?«

»Das glaube ich nicht«, widersprach ich. »Meiner Ansicht nach finden wir einander aus einem bestimmten Grund, egal, ob blutsverwandt oder nicht.«

»Sie denken also, alles ist vorherbestimmt?« Er hob spöttisch eine Augenbraue.

»Ja, doch ich weiß, dass die meisten Menschen mir da nicht beipflichten würden.«

»Ich leider auch nicht. Als Kardiologe beschäftige ich mich tagtäglich mit dem menschlichen Herzen, das angeblich der Sitz der Gefühle und der Seele ist. Ich muss es als großen Muskel betrachten, der oft nicht richtig funktioniert. Man hat mir beigebracht, die Welt rein wissenschaftlich zu sehen.«

»Ich glaube, auch in der Wissenschaft ist Raum für Spiritualität«, entgegnete ich. »Es gibt so viele Dinge, für die die Wissenschaft keine Erklärung hat.«

»Sie haben recht, aber …« Charlie warf einen Blick auf seine Uhr. »Irgendwie sind wir vom Thema abgekommen, und ich muss in fünfzehn Minuten auf Station sein. Entschuldigen Sie, wenn ich mich wieder unserem eigentlichen Thema zuwende. Was hat Margaret Ihnen über das Kinnaird-Anwesen gesagt?«

»Dass es sich um eine sechzehntausend Hektar große Wildnis handelt und Sie jemanden brauchen, der sich mit einheimischen Tieren, zum Beispiel Wildkatzen, auskennt und wie man sie dort ansiedeln kann.«

»Genau. Nach dem Tod meines Vaters geht das Kinnaird-Anwesen nun auf mich über. Dad hat es jahrelang als seinen persönlichen Spielplatz missbraucht, gejagt und geangelt und die örtlichen Destillerien leer getrunken, ohne einen Gedanken an das ökologische Gleichgewicht zu verschwenden. Der Fairness halber muss ich erwähnen, dass nicht nur er so vorgegangen ist – sein Vater und dessen männliche Vorfahren haben im vergangenen Jahrhundert tatenlos zugesehen, wie riesige mit schottischen Kiefern bewachsene Flächen für den Schiffsbau gerodet wurden. Damals wusste man es nicht besser. Natürlich kann man die Uhr nicht zurückdrehen, aber ich möchte einen Anfang machen. Der beste Verwalter der Highlands beginnt für mich mit der Wiederaufforstung. Und wir haben die Jagdhütte, in der Dad wohnte, auf Vordermann gebracht. So können wir sie an zahlende Gäste vermieten, die sich die frische Luft der Highlands um die Nase wehen lassen und sich am kontrollierten Abschuss beteiligen wollen.«

»Aha.«

»Sie scheinen nicht viel vom kontrollierten Abschuss zu halten.«

»Ich bin gegen jegliche Tötung von Tieren. Aber mir ist klar, dass es nicht anders geht«, fügte ich hastig hinzu. Schließlich bewarb ich mich um eine Stelle auf einem Anwesen in den Highlands, wo der organisierte Abschuss von überzähligem Rotwild gesetzlich vorgeschrieben war.

»Der Mensch hat das Gleichgewicht der Natur in Schottland durcheinandergebracht. Hier gibt es keine natürlichen Feinde wie Wölfe oder Bären, die die Rotwildpopulation in Schach halten. Deswegen müssen wir das übernehmen. Immerhin können wir es so human wie möglich tun.«

»Ich muss gestehen, dass ich nicht in der Lage wäre, beim Abschuss zu helfen. Ich bin es gewöhnt, Tiere zu schützen, nicht, sie zu töten.«

»Das kann ich nachvollziehen. Ihr Lebenslauf ist beeindruckend. Sie haben nicht nur einen ausgezeichneten Abschluss in Zoologie, sondern sind auch auf Umweltschutz spezialisiert?«

»Ja. Die theoretische Seite meiner Ausbildung – Anatomie, Biologie, Genetik, Verhaltensmuster einheimischer Tiere und so weiter – kommt mir dabei zugute. Ich habe eine Weile in der Forschungsabteilung des Zoo de Servion gearbeitet, jedoch sehr schnell gemerkt, dass es mir wichtiger ist, Tieren zu helfen, als sie aus der Ferne zu beobachten und ihre DNA zu analysieren. Ich liebe Tiere, und obwohl ich keine Veterinärsausbildung habe, scheine ich ihnen, wenn sie krank sind, helfen zu können.« Ich zuckte verlegen die Achseln.

»Margaret hat Sie sehr gelobt und mir erzählt, Sie hätten sich um die Wildkatzen in ihrem Schutzgebiet gekümmert.«

»Ja, ich habe das Tagesgeschäft erledigt, aber die Expertin ist letztlich Margaret. Wir hatten gehofft, dass die Katzen sich diese Saison im Rahmen des Auswilderungsprogramms paaren, doch jetzt wird das Schutzgebiet geschlossen, und die Tiere müssen umgesiedelt werden, weswegen das vermutlich nicht geschieht. Wildkatzen haben ihren eigenen Kopf.«

»Das sagt mein Verwalter Cal auch. Er ist nicht sonderlich glücklich darüber, dass ich die Katzen übernehmen will, aber weil Schottland ihr natürlicher Lebensraum ist und sie extrem selten sind, empfinde ich es als unsere Pflicht, alles in unserer Macht ­Stehende zu tun, um die Art zu erhalten. Und Margaret meint, wenn überhaupt jemand in der Lage ist, die Katzen an ihre neue Umgebung zu gewöhnen, dann Sie. Hätten Sie also Lust, mit ihnen herzukommen?«

»Ja, doch es wäre kein Fulltime-Job, mich um sie zu kümmern. Könnte ich mich sonst noch irgendwie nützlich machen?«

»Bisher hatte ich keine Zeit, über detaillierte Zukunftspläne für das Anwesen nachzudenken. Mit meiner Arbeit in der Klinik und der Regelung des Nachlasses bin ich momentan voll beschäftigt. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie sich das Terrain ansehen und seine Tauglichkeit für andere einheimische Arten beurteilen könnten. Ich spiele mit dem Gedanken, rote Eichhörnchen und Schneehasen dort anzusiedeln. Außerdem prüfe ich gerade die Eignung von Wildschweinen und Elchen und möchte die Wildlachsbestände in den Bächen und Lochs aufstocken sowie Lachstreppen errichten, um sie zum Laichen zu animieren. Mit ausreichenden Investitionen eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten.«

»Klingt interessant. Allerdings muss ich Sie warnen: Mit Fischen kenne ich mich nicht so gut aus.«

»Kein Problem. Und ich muss Sie warnen, dass ich Ihnen nur ein eher geringes Gehalt sowie Kost und Logis bieten kann. Sosehr ich Kinnaird liebe: Es entpuppt sich immer mehr als zeitintensives und komplexes Projekt.«

»Ihnen war doch sicher klar, dass Sie das Anwesen eines Tages erben würden, oder?«, meinte ich.

»Ja, aber ich dachte, Dad wird steinalt. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, ein Testament aufzusetzen. Obwohl ich Alleinerbe bin und das Ganze reine Formsache ist, muss ich jede Menge Papierkram bewältigen, und das hasse ich. Bis Januar dürfte endlich alles geregelt sein, meint mein Anwalt.«

»Wie ist er gestorben?«, erkundigte ich mich.

»Ironie des Schicksals: Er hatte einen Herzinfarkt und wurde mit dem Hubschrauber hierher zu mir ins Krankenhaus gebracht.« Charlie seufzte. »Allerdings war nichts mehr zu machen, die Engel hatten ihn bereits auf einer Whiskywolke gen Himmel getragen, hat die Obduktion ergeben.«

»Das muss hart für Sie gewesen sein.«

»Es war ein Schock, ja.«

Ich beobachtete, wie seine Finger sich erneut um den Pager schlossen.

»Könnten Sie das Anwesen denn nicht verkaufen, wenn Sie es nicht wollen?«

»Nach dreihundert Jahren Kinnairds?« Er verdrehte belustigt die Augen. »Dann...