dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Adler und Engel - Roman

Juli Zeh

 

Verlag btb, 2018

ISBN 9783641242671 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

1 Walfisch

Sogar durch das Holz der Tür erkenne ich ihre Stimme, diesen halb eingeschnappten Tonfall, der immer klingt, als hätte man ihr gerade einen Herzenswunsch abgeschlagen. Ich nähere ein Auge dem Türspion und sehe direkt in einen übergroßen, weitwinklig verbogenen Augapfel, als läge im Treppenhaus ein Walfisch vor meiner Tür und versuchte, in die Wohnung hereinzuschauen. Ich fahre zurück und drücke vor Schreck auf die Klinke.

Ich war sicher, dass sie schwarzhaarig ist. Aber sie ist blond. Sie steht auf meiner Fußmatte, das linke Auge zugekniffen, den Oberkörper leicht vorgebeugt zu der Stelle, an der sich eben noch, bei geschlossener Tür, die Linse des Spions befand. Ohne Eile richtet sie sich auf.

Oh Scheiße, sage ich. Komm rein. Wie geht’s.

Gut, sagt sie, hast du vielleicht Orangensaft da?

Habe ich nicht. Sie guckt mich an, als müsste ich jetzt sofort losrennen und im Supermarkt an der Ecke drei Flaschen von dem Zeug erstehen. Wahrscheinlich wäre es dann die falsche Marke und sie würde mich noch einmal losschicken. Ich sehe sie zum ersten Mal, und soweit ich es erkennen kann, während sie in meine Wohnung hineinspaziert, hängt an ihr keine Gebrauchsanweisung dran. Sie hat geklingelt, ich habe geöffnet.

Drei Sekunden später sitzt sie am Küchentisch und wartet auf gastgeberische Aktionen meinerseits. Ich bin wie gelähmt von der Erkenntnis, dass es sie erstens wirklich gibt und dass sie zweitens tatsächlich hier auftaucht. Sie macht sich nicht die Mühe, ihren Namen zu nennen. Offenbar geht sie davon aus, dass zu einer Stimme wie ihrer nur ein Mädchen wie sie gehören kann, und irgendwie ärgert es mich, dass sie recht hat damit, trotz der langen blonden Haare, die sie jetzt zurückwirft, damit sie hinter der Stuhllehne herunterhängen. Schon nach den ersten zwei Minuten mit ihr wird es schwierig, mich daran zu erinnern, wie ich sie mir vorgestellt habe, während ich ihrer dämlichen Sendung zuhörte. Ein bisschen wie Mata Hari, glaube ich. Sie wirkt definitiv zu jung, sie sieht aus wie ihre eigene kleine Schwester. Aber sie hat diese unverkennbare Stimme, deren beleidigter Klang sich immer auf die Ungerechtigkeit der Welt im Ganzen zu beziehen scheint, während sie den albernen Geschichten ihrer Anrufer zuhört. Es sind vor allem Männer. Sie hört sie an und macht ab und zu Hmhm-hmhm, dasselbe tiefe, brummende Hmhm, mit dem ihre Mütter sie in den Armen gewiegt haben. Manche fangen an zu heulen. Ich nicht. Dafür begeisterte mich von Anfang an die unglaubliche Kälte, mit der sie ihre schluchzenden Anrufer mitten im Satz abwürgt, wenn sie die vorgeschriebenen drei Minuten Sprechzeit überschritten haben. Sie muss grausamer sein als die Inquisition. Schon vor Monaten, lange bevor ich selbst eine alberne Story zu erzählen hatte, habe ich mir angewöhnt, sie Mittwoch- und Sonntagnacht einzuschalten.

Wahrscheinlich notieren sie im Sender die Nummern aller Anschlüsse, von denen aus angerufen wird. Ich nannte einen Vornamen und der war auch nicht echt. Aber über eine Telephonnummer lässt sich die Adresse herausfinden, wenn man unbedingt will. Das habe ich jetzt davon.

Draußen vor dem Fenster klebt der Mond am Himmel, rot, viel zu groß und mit zerfleischtem Rand an einer Seite. Er sieht nicht aus wie ein gutes Zeichen, auf einmal kriege ich Angst. Ich habe seit Wochen keine Angst mehr gehabt, warum jetzt plötzlich. Ich benehme mich komisch. Ich muss ihr etwas anbieten.

Orangensaft ist alle, sage ich, aber du könntest Apfelsaft haben.

Nein danke, sagt sie, wenn es keinen Orangensaft gibt, dann will ich gar nichts.

Sie schaut mich verächtlich an. Ich bin Max-der-Orangensaftvernichter und werde erleben müssen, wie sie unter meinen Augen verdurstet. Ich schütte Kaffee in die Espressomaschine, um mich in Bewegung zu halten. Dann steht die Tasse vor ihr, sie schnuppert daran und verzieht angeekelt das Gesicht, als handelte es sich um Schweineblut.

Apropos Blut, sagt sie.

Ich habe nichts von Blut gesagt. Vielleicht gehört Gedankenlesen zu ihrem Job.

Wo ist es passiert?

Niemandem ist es gestattet, danach zu fragen. Ich müsste eigentlich gleich in ihre Haare greifen und sie daran über den Flur zerren, ihr die Füße wegtreten, falls sie versuchen sollte, auf die Beine zu kommen. Sie rauswerfen. Aber ich tue es nicht. Ich habe zu lange mit niemandem gesprochen, außer mit denen im Supermarkt und mit der Schwuchtel, die die Pizza bringt. Er schaut mir ständig aufs Kinn und überlegt, ob mein Bart schon wieder gewachsen ist, und wenn ich ihn in die Küche lasse, während ich nach Kleingeld suche, gerät er außer sich vor Begeisterung darüber, dass die Spüle an Ketten von der Decke hängt und der Herd aus Sandstein gemauert ist. Einmal hat er im Treppenhaus versucht, mir an den Arsch zu fassen, und als ich ihn wegstieß, ist er rückwärts die Stufen runtergefallen. Er kommt trotzdem wieder, jeden Tag außer sonntags, ich weiß nicht, wie oft schon.

Huhu, sagt sie, wo es passiert ist?

Sie lächelt. Dieses Lächeln passt zu ihrer Stimme wie ein bequemes Kleidungsstück, und die Stimme geht einmal durch den Raum und stellt sich neben mich und tippt mir auf die Schulter. Jetzt spüre ich es auch: diesen Wunsch zu heulen. Genau wie die anderen. Aber nein. Nicht mehr. Nie wieder.

Heulen war schon. Zwei Tage und Nächte lang ohne Unterbrechung, ohne Schlaf, ohne mich vom Boden des Zimmers zu erheben. Alle paar Stunden, immer wenn meine Augen so ausgetrocknet waren, dass sie sich wie aufgestochene Brandblasen anfühlten, trank ich einen Schluck Wasser aus der halbvollen Flasche, die herumstand und aus der auch Jessie getrunken haben musste, bevor sie es tat. Ich hatte sie sogar schlucken gehört, am Telephon, ich hatte gehört, wie Wasser aus genau dieser Flasche von den Muskeln in ihrem Hals durch die Kehle gedrückt wurde.

Mit dem bisschen Flüssigkeit gelang es mir, neue Tränen hervorzubringen, und als die Flasche ausgetrunken war, glaubte ich sicher, blind zu werden. Das war mir willkommen. Ich hatte ohnehin nicht vor, jemals wieder die Augen zu öffnen. Zur Hälfte taub war ich schon, meine linke Hand presste ich unablässig gegen das linke Ohr, von dem ich wusste, dass darin die Fetzen meines geplatzten Trommelfells herumflatterten wie Vorhänge an einem offenen Fenster. Auch das war mir willkommen. Ich heulte ohne Feuchtigkeit weiter, mein Körper lag auf den Dielen, erst zusammengekrampft und hart wie ein Holzklotz, später schlaff wie ein abgeworfenes Kleidungsstück. Ich hoffte, aus eigenem Antrieb zu sterben. Stattdessen schlief ich ein, irgendwann. Als ich wieder aufwachte, irgendwann, tastete ich mich in die Küche zum Kühlschrank und entnahm dem Gefrierfach ein Siegel Koks, und weil meine Nase mit sich selbst verwachsen war zu einem festen Klumpen, ohne jede Öffnung, riss ich den Mund auf und warf das Koks hinein und schluckte schnell, bevor mir der Hals so taub wurde, dass das Schlucken nicht mehr ging. Dann ging ich aus der Wohnung, ließ die Tür offen stehen und verließ das Haus. Das ist etwa acht Wochen her. Seitdem habe ich keine Träne mehr vergossen und auch nicht das Bedürfnis danach verspürt. Bis jetzt. Das Radiomädchen hat mit Sicherheit ein besonderes Talent. Für einen Moment denke ich, dass alles gut wird.

Im Arbeitszimmer, sage ich.

Sie guckt durch die offene Küchentür schräg über den Flur. Eine der beiden Flügeltüren ist mit Brettern vernagelt. Sie schaut noch eine Weile hin und nimmt aus Versehen den ersten Schluck von ihrem Kaffee. Es vergeht eine halbe Ewigkeit, während der sie beweist, dass ihre Finger klein genug sind, um drei davon durch den Henkel der Tasse zu schieben.

Woher kanntest du sie denn, fragt sie.

Ich hab sie in den Trümmern einer eingestürzten Stadt gefunden, sage ich.

Als sie mir unvermittelt ins Gesicht sieht, erkenne ich, was mit ihren Augen los ist: Blau sind sie beide, aber das eine wie Wasser und das andere mehr wie Himmel.

Bisschen komisch bist du schon, sagt sie.

Du hast ja keine Ahnung, was in dieser Welt abgeht, sage ich, und wenn ich es dir erzählte, würdest du es nicht glauben.

Nee, sagt sie ironisch, schließlich lebe ich auch erst seit dreiundzwanzig Jahren.

Jetzt hat sie mich wohl darüber informiert, wie alt sie ist. Zehn Jahre jünger als ich. Wenn es überhaupt stimmt.

Du lebst in einer anderen Zone, sage ich. Du kriegst das nicht mit.

Vielleicht solltest du mal darüber sprechen, sagt sie.

Und du, denke ich, solltest vielleicht mal bäuchlings über einen Couchtisch geworfen und kräftig durchgevögelt werden. Nur nicht von mir. Den Job kann ein anderer haben.

Ich erklär’s dir, sage ich.

Sie fummelt an meiner Pfeffermühle herum. Wahrscheinlich stellt sie sich vor, es sei ein Mikrophon, weil sie nicht zuhören kann, wenn sie kein Mikrophon vor sich hat. Mir fällt ein, dass die Leute beim Radio mit einem Kopfmikrophon arbeiten und dass das nicht aussieht wie eine Pfeffermühle.

Siehst du den Großteil Europas verwüstet, frage ich, die Überlebenden betrogen, geschändet und gedächtnislos?

Nein, sagt sie.

Ich aber, antworte ich.

Es vergeht die zweite Hälfte der Ewigkeit. Wir könnten genauso gut getrennt voneinander sitzen, jeder in seiner eigenen Küche, grübelnd oder vollkommen leer, Löcher in die Luft starrend, in genau dieser Haltung, aber an verschiedenen Orten. Dann hätten wir auch nicht weniger miteinander zu tun als jetzt. Sie schiebt möglichst viele Finger durch den Henkel ihrer Kaffeetasse, ich zeichne mit dem Löffel Fluchtpläne in das Kästchenmuster der Tischdecke.

Wie hieß sie überhaupt, fragt sie.

Ich erschrecke, obwohl ich die ganze...