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Wundbrand - Kriminalroman

Cilla Börjlind, Rolf Börjlind

 

Verlag btb, 2019

ISBN 9783641201326 , 528 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Sie versucht, ihr Kind über der Oberfläche zu halten, doch der kleine Körper gleitet ihr aus der Hand und sinkt nach unten, nein, er sinkt nicht, sondern wird runtergesogen. Blau, Rot, Gelb, Grün – Farben umschließen ihren Körper und ziehen ihn unbarmherzig mit sich in die Tiefe. Rund? Die Farben sind rund, und sie drücken sich an sie, schließen sie ein, verschlucken sie, sanft, aber gleichzeitig erstickend. Schwer, Luft zu holen. Sie muss hoch. Hoch zu ihrem Kind. Es ist doch so klein. Kommt allein nicht klar. Panik wallt auf. Sie tastet mit den Füßen. Es muss doch einen Boden geben. Es gibt immer einen Boden. Sie merkt, wie ihr Mund sich öffnet und zu einem Schrei formt, aber die Farben absorbieren die Stimme, ehe sie die Lippen überwinden kann, und es kommt kein Laut heraus. Sie muss rauf an die Oberfläche. Hilfe holen. Plötzlich löst sich der saugende Griff um ihren Körper, und sie kann sich wieder hochhieven. Zwischen den Farben glitzern Lichtfunken. Da! Da sind die Konturen des kleinen Körpers. Das Kind ist noch da oben! Es lebt! Es hüpft auf der Oberfläche aus runden Farben! Das Glücksgefühl gibt ihr die Kraft, sich nach oben durchzuschieben. Was ist das hier? Als sie endlich die letzten runden Farben beiseiteschiebt und ins warme Licht zurückkehrt, da sieht sie: ein Meer aus Bällen? Sie befindet sich in einem unendlichen Meer aus Bällen? Ein leises Jammern ist zu hören, sie wendet den Kopf, und gerade außerhalb ihrer Reichweite sieht sie ihr kleines Kind. Sie sieht, wie der flaumige Kopf des Babys langsam unter die Oberfläche aus Bällen sinkt, während sie selbst endlich Luft in die Lungen bekommen hat. Sie ruft und versucht verzweifelt, sich zu dem Kind hinzuarbeiten, doch sie kommt nicht vom Fleck. Sie sitzt fest. Wie in einem Schraubstock. Die Bälle haben sich wie nasser Sand um ihren Körper geschlossen. Hat meine Mutter das gefühlt?, denkt sie und sieht, wie das kleine Mädchen von derselben Kraft, gegen die sie eben gekämpft hat, ins Bällemeer gezogen wird. Sie sieht, wie ihre ungeborene Tochter von den Ballmassen verschluckt wird und in der Tiefe verschwindet. Eine kleine gestrickte hellgelbe Socke, die sich vom Fuß des Babys gelöst hat, bleibt noch ein Weilchen auf einem roten Ball, ehe auch sie weg ist.

Machtlos!

Warum bin ich so machtlos!

Das hartnäckige Klingeln ihres Handys riss Olivia schließlich aus dem Albtraum. Sie war schweißgebadet. Auf dem Display stand »Mette Olsäter«, das konnte sie gerade noch erkennen, ehe der Schirm wieder dunkel wurde.

Sie setzte sich im Bett auf. Es war ein wiederkehrender Traum, doch zeigte er sich in unterschiedlicher Gestalt. Das Kind, das sie nicht zu retten vermochte. Ihr Kind, das beschlossen hatte, ihren Körper bereits nach zehn Wochen zu verlassen. Eine schwere Zeit. Sie hatte den ganzen Weg zurückgelegt: von der Überraschung, schwanger zu sein, und der Angst vor der Entscheidung, was sie tun sollte, bis zum Glück darüber, ein Kind zu erwarten.

Und am Ende dieses Weges war sie fast ein bisschen euphorisch gewesen.

Und dann kamen die Blutungen. Die Fehlgeburt. Jamie war im Krankenhaus dabei gewesen, hatte sie umarmt, getröstet. Er war gut gewesen. Und traurig.

Die erste Zeit nach der Fehlgeburt umarmten sie sich noch. Immerhin hatten sie die Entscheidung getroffen, gemeinsam Eltern zu sein, auch wenn die Schwangerschaft sie beide überrumpelt hatte. Doch sie war auch das Einzige, was sie verband, denn gefühlsmäßig hatten sie einander schon vor vielen Jahren verlassen. Der kleine Rückfall, der zur Zeugung führte, war nichts weiter gewesen als die Befriedigung eines akuten Bedürfnisses nach Nähe. Jetzt schrieben sie sich ab und zu kurze SMS, und Olivia musste mit ihren Albträumen allein klarkommen.

Sie drehte ihr klatschnasses Kissen herum. Was war da eigentlich in ihrem Unterbewusstsein los?

Ein Meer aus Bällen?

Sie langte nach ihrem Handy, dem älteren Modell von den beiden, die sie besaß. Es war 8.00 Uhr morgens, und es war Samstag. Ihr freier Tag. Und Mette rief auf dem Arbeitshandy an – aber sicher nicht, um eine Einladung zum Abendessen in ihrem gemütlichen Haus in Kummelnäs auszusprechen.

»Endlich!«, rief Mette.

Volles Adrenalin. Olivia hörte es schon an ihrer Stimme, die gellend klang und sich fast überschlug, was ungewöhnlich war. Mette war nicht der Typ, der sich unnötig aufregte. Denk an deinen Blutdruck, war sie versucht zu sagen, wusste aber, dass Mette dann nur sauer werden würde. Ihre Chefin hasste es, wenn jemand sie darauf hinwies, sie solle auf ihre Gesundheit achten.

»Was ist denn los?«, fragte Olivia.

»Hast du es noch nicht gehört?«

»Nein.«

Olivia wollte nicht extra darauf hinweisen, dass normale Menschen gern ausschliefen, wenn sie frei hatten.

»Eine Autobombe in Täby. Malin Brovall, du weißt, wer das ist, oder?«

»Die Staatsanwältin?«

»Ja. Sie und ihre Familie wollten in die Berge fahren, ihr Auto ist heute Morgen in der Einfahrt gesprengt worden. Es könnte sich um einen Terrorangriff handeln. Komm sofort her!«

»Bin schon unterwegs.«

Olivia drückte das Gespräch weg, warf die Decke ab und bereute es sofort. In ihrer Wohnung war es eiskalt, wie sie jetzt merkte, und zwar richtig eiskalt. Ihre Daunendecke und die Albträume hatten sie während der Nacht warm gehalten. Sie trat an die Heizung, gerade mal lauwarm, sie musste daran denken, mit dem Hausverwalter zu sprechen. Ein Blick aufs Thermometer vor dem Fenster verriet, dass draußen minus neunzehn Grad herrschten. Olivia sah hinaus. Der Himmel über Södermalm wirkte schuldbewusst grau und sonderte große, schwere Schneeflocken ab.

Ich hasse Kälte und Dunkelheit, dachte Olivia, als sie sich zitternd ins Badezimmer begab.

Eine Autobombe?

Ihre Haare waren immer noch nass, als sie durch den Hauseingang auf der Högalidsgatan trat. Bei den Temperaturen vielleicht nicht so schlau. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf, schob die Hände in die Jackentaschen und stellte sich dem eiskalten Wind entgegen, indem sie den Kopf stur gesenkt hielt. Den Blick richtete sie auf ihre schwarzen Doc Martens-Stiefel, in denen sie im Schnee über den Bürgersteig schlitterte.

Die Haarspitzen waren schon zu Eis gefroren, als sie an der Långholmsgatan bei der Bushaltestelle ankam. Auf der Straße waren fast keine Autos unterwegs, abgesehen von einem Schneepflug, der noch mehr Schnee auf den Bürgersteig schaufelte. Sie musste zur Seite springen, um nicht niedergewalzt zu werden. Etwas weiter hinten bei der Västerbron sah sie, dass ein Bus in ein Geländer gerutscht war und mit allem blinkte, was ihm zur Verfügung stand. Kein guter Tag zum Busfahren, erkannte sie, und ging lieber zur U-Bahn.

Als sie schließlich den Flur in der Nationalen Operativen Abteilung NOA hinunterging, schien das ganze Haus schon vor Aktivität zu vibrieren. Alle liefen hin und her, und sie musste mehrmals ausweichen, um nicht mit einem Kollegen zusammenzustoßen, der im Laufschritt auf sie zukam. Endlich stand sie vor Mettes Tür, die angelehnt war. Olivia konnte hören, dass drinnen ein Fernseher lief.

Sie klopfte leise.

»Ja?«

Olivia trat ein. Mette stand zusammen mit Bosse Thyrén und schaute auf den Fernsehschirm an der Wand. Beide hatten zerzaustes Haar und standen mit leicht geröteten Wangen dicht beieinander. Wenn Olivia es nicht besser gewusst hätte, wäre sie peinlich berührt gewesen, vielleicht doch in eine intimere Situation zu platzen.

Doch so war es nicht.

Und sie wusste es genau.

Vor ihr standen zwei Kollegen, die ebenso wie sie viel zu früh an einem Samstagmorgen zum Einsatz gerufen worden waren, mit dem Unterschied, dass die beiden wahrscheinlich, um so schnell wie möglich vor Ort zu sein, auf eine Dusche verzichtet hatten, im Gegensatz zu ihr. Auf dem Fernsehschirm vor ihnen sah man einen einsamen Journalisten, der im Schneetreiben vor der Polizeiabsperrung beim Haus der Familie Brovall in Täby stand. Im Hintergrund war das ausgebrannte Fahrzeug zu erkennen, um das herum die Polizei fieberhaft arbeitete. Der Reporter interviewte eine Polizeisprecherin, die keine konkreten Informationen über das Ereignis zu bieten hatte. Sie verwies auf eine bald stattfindende Pressekonferenz.

Mette drehte die Lautstärke herunter und wandte sich Olivia zu.

»Das hat gedauert. In zehn Minuten ist Besprechung.«

Kaum hatte Mette den Satz beendet, da kam schon Lisa Hedqvist zur Tür herein. Sie nickte Olivia leicht zu, dann wandte sie sich an Mette.

»Ich glaube, jetzt sind alle da.«

»Gut. Hast du darauf geachtet, dass Computer und Bildschirm funktionieren?«

»Ja.«

Mette fuhr sich durch das zerzauste, ungekämmte Haar und zog ihr Hemd ein wenig über den Bauch herunter, um einen so ordentlichen Eindruck wie möglich zu machen. Sie hatte den Blick schon vergessen, den ihr geliebter Mann Mårten ihr am Morgen zugeworfen hatte, ehe sie zu dem wartenden Wagen hinausgeeilt war. Pensionierung in allen Ehren, aber die musste jetzt noch ein bisschen länger warten. Wenn man gebraucht wurde, dann war es eben so. Vor exakt zwei Stunden und siebenundzwanzig Minuten waren Staatsanwältin Malin Brovall und ihre Familie in die Luft gesprengt worden.

Mette stand bereit herauszufinden, warum.

Das Gemurmel in dem vollbesetzten Raum verstummte, als Mette zusammen mit ihrem engsten Kreis eintrat. Hier waren einige der besten Ermittler versammelt, die die NOA zu bieten hatte, zudem noch eine Reihe von Spezialisten auf den unterschiedlichsten Gebieten. Dazu die beiden Streifenpolizisten in Uniform, die als Erste am Tatort angekommen waren. Ein Mann und eine Frau, und sie sahen nach dem, was sie erlebt hatten, erschöpft und mitgenommen aus....