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Der Abgrund in dir

Dennis Lehane

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609172 , 528 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{11}I

Rachel im Spiegel
19772010


{13}1

Dreiundsiebzig Mal James


Rachel wurde im Pioneer Valley in West-Massachusetts geboren. Die Gegend war bekannt als die Region der fünf Colleges – Amherst, Hampshire, Mount Holyoke, Smith und die Universität Massachusetts –, und sie beschäftigte zweitausend Lehrkräfte, um fünfundzwanzigtausend Studenten zu unterrichten. Rachel wuchs in einer Welt der Cafés, Frühstückspensionen, weitläufigen öffentlichen Grünanlagen und altmodischen Holzschindelhäuser auf – Häuser mit umlaufenden Veranden und modrig riechenden Dachböden. Im Herbst begruben die Blätter die Straßen und Bürgersteige unter sich und blieben in den Zwischenräumen der Holzlattenzäune stecken. Manchen Winter deckte der Schnee das Tal so dicht zu, dass Stille zum vorherrschenden Geräusch wurde. Im Juli und August trug der Postbote die Briefe mit dem Fahrrad aus, eine altmodische Klingel am Lenker, und es kamen Touristen, welche die Theater und Antiquitätengeschäfte bevölkerten.

Ihr Vater hieß James. Sonst wusste sie wenig über ihn. Sie erinnerte sich an sein dunkles, gewelltes Haar und dass sein überraschend hervorbrechendes Lächeln immer ein wenig unsicher gewirkt hatte. Mindestens zweimal war er mit ihr auf einem Spielplatz mit einer dunkelgrünen Rutsche gewesen, über dem die Wolken von Berkshire so tief hingen, dass {14}er das Kondenswasser von der Schaukel wischen musste, ehe er sie daraufsetzen konnte. Auf einem dieser Ausflüge hatte er sie zum Lachen gebracht, aber sie erinnerte sich nicht mehr, womit.

James war Lehrer an einem College gewesen. Sie hatte keine Ahnung, an welchem, und sie wusste auch nicht, ob er wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dozent oder fest angestellter Professor gewesen war. Sie wusste nicht einmal, ob er an einem der »berühmten Fünf« unterrichtet hatte. Er hätte auch am Berkshire oder Springf‌ield Technical, am Greenf‌ield CC oder am Westf‌ield State arbeiten können oder an irgendeinem der anderen Colleges, von denen es in der Region mindestens ein Dutzend gab.

Ihre Mutter unterrichtete am Mount Holyoke, als James die beiden verließ. Rachel war nicht mal drei Jahre alt und hätte später nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie dabei gewesen war, als ihr Vater fortging, oder ob sie sich das bloß eingebildet hatte, um sich über seine Abwesenheit hinwegzutrösten. Sie hörte, wie die Stimme ihrer Mutter durch die Wände des kleinen Hauses an der Westbrook Road drang, das sie in jenem Jahr gemietet hatten. Hast du mich verstanden? Wenn du durch diese Tür gehst, werde ich dich aus meinem Leben auslöschen. Kurz darauf das dumpfe Poltern eines Koffers auf der Hintertreppe, gefolgt vom Zuschnappen der Kofferraumklappe. Das Krächzen und Pfeifen eines kalten Motors in einem kleinen Auto, der gegen das Anlassen protestiert. Dann Reifen, die über das herbstliche Laub und die gefrorene Erde gleiten, gefolgt von … Stille.

Vielleicht hatte ihre Mutter nicht geglaubt, dass er wirklich gehen würde. Vielleicht hatte sie sich nach seinem {15}Weggang eingeredet, dass er zurückkehren würde. Als er fortblieb, verwandelte sich ihre Bestürzung in Hass, und der Hass steigerte sich ins Unermessliche.

»Er ist weg«, sagte sie, als Rachel ungefähr fünf war und begonnen hatte, hartnäckige Fragen nach seinem Verbleib zu stellen. »Er will nichts mit uns zu tun haben. Und das ist in Ordnung, Liebling, weil wir ihn nicht brauchen, um uns zu definieren.« Sie kniete vor Rachel nieder und strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. »Und jetzt werden wir nie wieder von ihm sprechen. Einverstanden?«

Aber natürlich sprach Rachel weiter von ihm und stellte ihre Fragen. Anfangs machte das ihre Mutter wütend; wilde Panik flammte dann in ihren Augen auf, und sie atmete scharf ein. Aber schließlich trat an die Stelle der Panik ein seltsames schwaches Lächeln. So schwach, dass man es kaum ein Lächeln nennen konnte, nur ein leises Aufwärtszucken ihres rechten Mundwinkels, das zugleich arrogant, bitter und triumphierend war.

Es dauerte Jahre, bis Rachel in diesem Lächeln den Entschluss ihrer Mutter erkannte (ob bewusst oder unbewusst, war ihr nie ganz klar), die Identität ihres Vaters zum zentralen Schlachtfeld eines Krieges zu machen, der Rachels gesamte Jugend bestimmen sollte.

Es begann damit, dass sie versprach, Rachel an ihrem sechzehnten Geburtstag James’ Nachnamen zu nennen, vorausgesetzt, dass Rachel bis dahin die nötige Reife zeigen würde. Aber in dem Sommer bevor sie sechzehn wurde, verhaftete man sie in einem gestohlenen Auto zusammen mit Jarod Marshall, mit dem sie sich eigentlich nie mehr hatte treffen wollen – so lautete zumindest das Versprechen, das {16}sie ihrer Mutter gegeben hatte. Das nächste Stichtag war ihr Highschool-Abschluss, aber nach einem Ecstasy-Absturz hatte sie Glück, dass sie ihren Abschluss überhaupt bekam. Später, sagte ihre Mutter, später. Wenn sie aufs College ginge, und zwar auf ein »richtiges« College, dann, so sagte ihre Mutter, dann vielleicht.

Sie stritten dauernd deswegen. Rachel schrie und warf Sachen durch die Gegend, und das Lächeln ihrer Mutter wurde kälter und noch schwächer, als es sowieso schon war. Immer wieder fragte sie Rachel: »Warum?«

Warum willst du das wissen? Warum willst du einen Fremden kennenlernen, der niemals Teil deines Lebens war oder irgendetwas zu deiner finanziellen Sicherheit beigetragen hat? Solltest du nicht erst einmal herausfinden, was in dir selbst dich so unglücklich macht, ehe du in die Welt hinausgehst und einen Mann suchst, der dir keine Antworten geben kann und keinen Frieden?

»Weil er mein Vater ist!«, schrie Rachel immer wieder.

»Er ist nicht dein Vater«, sagte ihre Mutter mit einem Anflug salbungsvoller Anteilnahme. »Er ist mein Samenspender.«

Das sagte sie am Ende einer ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen, dem Tschernobyl der Mutter-Tochter-Debatten. Rachel glitt geschlagen an der Wand des Wohnzimmers hinab und flüsterte: »Du bringst mich um.«

»Ich beschütze dich«, sagte ihre Mutter.

Rachel sah hoch und erkannte zu ihrem Entsetzen, dass es ihrer Mutter ernst war. Schlimmer noch, sie hielt sich an dieser Überzeugung aufrecht.

Als Rachel während ihres ersten Collegejahres in Boston {17}in einem Einführungsseminar zum Thema »Britische Literaturwissenschaft seit 1550« saß, übersah ihre Mutter eine rote Ampel in Northampton, und ein Tanklaster fuhr mit Höchstgeschwindigkeit in die Flanke ihres Saab. Anfangs befürchtete man, dass der Benzintank bei dem Unfall leckgeschlagen sei, aber das stellte sich als unbegründete Sorge heraus. Feuerwehr und Rettungskräfte, die sogar aus dem entfernten Pittsf‌ield gekommen waren, atmeten erleichtert auf, denn die Kreuzung befand sich in einem dichtbesiedelten Gebiet zwischen einem Altersheim und einer Vorschule.

Der Fahrer des Tanklasters erlitt ein leichtes Schleudertrauma und einen Bänderriss im Knie. Elizabeth Childs, die einst berühmte Autorin, starb bei dem Aufprall. Auch wenn ihre landesweite Prominenz längst abgeklungen war, so war sie doch immer noch eine glanzvolle regionale Berühmtheit. Sowohl der Berkshire Eagle als auch die Daily Hampshire Gazette druckten einen Nachruf auf dem unteren Teil ihrer Titelseiten, und ihr Begräbnis war gut besucht. Der anschließende Leichenschmaus allerdings weniger. Rachel verschenkte den Großteil des Essens an ein Obdachlosenheim. Sie sprach mit mehreren Freundinnen ihrer Mutter und einem Mann namens Giles Ellison, der am Amherst College Politikwissenschaften unterrichtete und, wie Rachel seit langem vermutet hatte, der Gelegenheitsliebhaber ihrer Mutter war. Sie sah sich in ihrer Annahme bestätigt, weil er kaum sprach und die Frauen ihn besonders aufmerksam behandelten. Giles, normalerweise ein geselliger Mensch, hob öfters zum Sprechen an, schloss den Mund dann aber wieder, als hätte er es sich anders überlegt. Er sah sich im Haus um, als ob er jede Kleinigkeit aufsaugen wollte, als {18}ob ihm alles vertraut wäre und ihm einst Geborgenheit geschenkt hätte. Als ob dies alles wäre, was ihm von Elizabeth geblieben wäre, und er zu begreifen versuche, dass er nichts davon jemals wiedersehen würde. Es war ein regnerischer Apriltag, und das Wohnzimmerfenster, das auf die Old Mill Lane hinaussah, rahmte ihn ein. Rachel spürte ein ungeheures Mitleid für Giles Ellison in sich aufsteigen, wie er dastand und dem Ruhestand und Greisentum entgegenalterte. Er hatte gehofft, diese Lebensphase mit einer wehrhaften Löwin an seiner Seite durchzustehen, und nun musste er sie allein bewältigen. Es war wenig wahrscheinlich, dass er eine neue Partnerin finden würde, die ebenso intelligent und zornig war wie Elizabeth Childs.

Auf ihre ganz eigene schikanöse und bissige Art war sie eine strahlende Persönlichkeit gewesen. Sie betrat nicht einfach einen Raum, sie rauschte hinein. Sie lud Freunde und Kollegen nicht einfach zu sich ein, sie scharte sie um sich. Sie schien fast keinen Schlaf zu brauchen, sie wirkte nur selten müde, und niemand konnte sich erinnern, dass sie jemals krank gewesen war. Wenn Elizabeth Childs einen Raum verließ, dann merkte man das sogar dann noch, wenn man erst nach ihrem Weggang eingetroffen war. Und als Elizabeth Childs die Welt verließ, war es das gleiche Gefühl.

Überrascht stellte Rachel fest, wie wenig sie auf den Verlust ihrer Mutter vorbereitet war. Elizabeth hatte vieles verkörpert, das meiste – zumindest nach Ansicht ihrer...