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Weißer Tod - Ein Fall für Cormoran Strike

Robert Galbraith

 

Verlag Blanvalet, 2018

ISBN 9783641241643 , 864 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

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… will er jetzt vergrößern, höre ich. Aus sicherer Quelle habe ich erfahren, dass er einen geschickten Mitarbeiter sucht.

HENRIK IBSEN, ROSMERSHOLM

Das allgemeine Streben nach Ruhm bewirkt für gewöhnlich, dass diejenigen, denen er versehentlich oder unbeabsichtigt zufällt, kein Erbarmen erwarten dürfen.

Noch viele Wochen nach der Ergreifung des Shacklewell Rippers musste Strike befürchten, dass sein größter detektivischer Triumph seiner Karriere zugleich den Todesstoß versetzt hatte. Schon zweimal war eine Welle des öffentlichen Interesses über seine Detektei hinweggerollt. Wie ein Ertrinkender hatte er sich immer wieder an die Oberfläche gekämpft, doch diesmal drohte er endgültig in die Tiefe gezogen zu werden. Sein Geschäft, für das er so große Opfer erbracht und so hart gearbeitet hatte, beruhte ganz wesentlich darauf, dass er sich unerkannt durch die Straßen Londons bewegen konnte. Doch mit der Überführung eines Serienmörders hatte er das öffentliche Interesse geweckt, war zu einer Sensationsmeldung geworden, einem Kuriosum, gut für eine launige Randbemerkung in einer Quizshow, ein Gegenstand der Neugier, der umso faszinierender war, da er sich weigerte, jene Neugier zu befriedigen.

Nachdem sie Strikes Einfallsreichtum bei der Verfolgung des Rippers in allen Facetten und bis ins letzte Detail nachgezeichnet hatten, nahmen sich die Medien seine Vergangenheit vor. Sie wurde als »schillernd« bezeichnet, obwohl Strike selbst sie eher als psychische Last begriff, die er schon sein Leben lang mit sich herumtrug und die er nur zu gern abgelegt hätte: der Vater ein Rockstar, die verstorbene Mutter ein Groupie, die Laufbahn bei der Armee, die mit dem Verlust des rechten Unterschenkels ein Ende gehabt hatte. Grinsende Reporter mit dicken Scheckbüchern hatten sich auf diejenige seiner Verwandten gestürzt, mit der er die Kindheit verbracht hatte: seine Halbschwester Lucy. Ehemalige Kameraden ließen blöde Sprüche über ihn ab, und Strike meinte immer wieder, hinter dem groben soldatischen Humor Neid und Verachtung wahrzunehmen. Der Vater, dem Strike nur zweimal im Leben begegnet war und dessen Namen er nicht hatte tragen wollen, hatte mittels einer Pressemitteilung die Andeutung einer freundschaftlichen Vater-Sohn-Beziehung fallen lassen, die sich angeblich im Verborgenen abspielte, in Wirklichkeit aber nicht existierte. Die Nachwirkungen des Ripper-Falls hatten Strikes Leben ein ganzes Jahr lang erschüttert, und noch immer war er sich nicht sicher, ob sie vollends ausgestanden waren.

Natürlich hatte es auch seine Vorteile, der bekannteste Privatdetektiv Londons zu sein. Nach dem Prozess hatte man ihm förmlich die Bude eingerannt, sodass Robin und er es irgendwann nicht mehr geschafft hatten, sämtliche Aufträge persönlich zu bearbeiten. Doch weil Strike den Ball ohnehin für eine Weile flach halten musste, hatte er sich mehrere Monate lang auf die Büroarbeit beschränkt und Verstärkung angeheuert – hauptsächlich in Gestalt ehemaliger Polizisten und Army-Angehöriger mit Erfahrung im privaten Sicherheitsgewerbe. Diese übernahmen den Löwenanteil der Observationsarbeit, während Strike selbst sich um die Nachtschichten und den Papierkram kümmerte.

Nachdem die vergrößerte Detektei ein Jahr lang an der Kapazitätsgrenze gearbeitet hatte, war es Strike endlich möglich gewesen, Robin die längst überfällige Gehaltserhöhung zuzugestehen, seine letzten Schulden zu begleichen und sich einen dreizehn Jahre alten 3er-BMW anzuschaffen.

Lucy und seine Bekannten sahen in dem Wagen und im zusätzlichen Personal den Beweis dafür, dass Strike finanziell endlich auf einen grünen Zweig, wenn nicht gar zu Wohlstand gekommen war. Doch sobald die freien Mitarbeiter und der exorbitant teure Garagenstellplatz in der Londoner Innenstadt bezahlt waren, blieb so gut wie nichts mehr übrig, sodass er wohl oder übel in seiner Zweizimmerwohnung über dem Büro wohnen bleiben und seine Mahlzeiten auch weiter auf einem Herd zubereiten musste, der über lediglich eine Kochplatte verfügte.

Der bürokratische Aufwand, den die zusätzlichen freiberuflichen Mitarbeiter mit sich brachten, sowie die Tatsache, dass die meisten von ihnen nur bedingt für die Detektivarbeit taugten, bereiteten ihm ständig Kopfschmerzen. Bisher war nur ein Mann für eine längerfristige Zusammenarbeit infrage gekommen: Andy Hutchins, Expolizist, schlank, ernster Typ und zehn Jahre älter als sein neuer Arbeitgeber. Eric Wardle, Strikes Freund bei der Londoner Polizei, hatte ihn wärmstens empfohlen. Hutchins war in Frührente gegangen, nachdem er nach einer vollkommen unvermittelt eintretenden, fast vollständigen Lähmung seines linken Beins die Diagnose Multiple Sklerose erhalten hatte. Beim Vorstellungsgespräch hatte er Strike gewarnt, er werde körperlich nicht immer voll einsatzfähig sein; auch wenn es seit drei Jahren zu keinem neuerlichen Schub gekommen war, so war die Krankheit, an der er litt, doch unberechenbar. Er richtete sich nach einem speziellen Ernährungsplan und verzichtete weitgehend auf Fett, was sich für Strike nach der reinsten Folter anhörte: kein rotes Fleisch mehr, kein Käse, keine Schokolade, nichts Frittiertes. Andererseits konnte Strike darauf vertrauen, dass der geduldige Andy methodisch zu Werke ging und seine Arbeit erledigte, ohne dass man ihm ständig auf die Finger sehen musste … was er leider – mit Ausnahme von Robin – von keinem weiteren Mitarbeiter behaupten konnte. Nach wie vor staunte Strike nicht schlecht, wie aus der Aushilfssekretärin, die so unverhofft in sein Leben getreten war, seine Geschäftspartnerin und hochgeschätzte Kollegin hatte werden können.

Ob sie immer noch Freunde waren, stand dagegen auf einem anderen Blatt.

Zwei Tage nach Robins und Matthews Hochzeit hatte die Presse Strike aus seiner Wohnung vertrieben. Damals war es unmöglich gewesen, den Fernseher auch nur einzuschalten, ohne dass er seinen Namen gehört hätte. Er hatte Einladungen seiner Freunde und seiner Schwester ausgeschlagen und war stattdessen in einem Travelodge in der Nähe der Monument Station abgestiegen. Dort hatte er die Einsamkeit und Ruhe gefunden, nach der er sich so sehr gesehnt hatte; dort hatte er stundenlang ungestört schlafen können; und dort hatte er schließlich neun Bierdosen geleert. Mit jeder leeren Dose, die er mit schwindender Zielgenauigkeit quer durch den Raum in Richtung Mülleimer geworfen hatte, war das Verlangen, mit Robin zu sprechen, in ihm weiter angewachsen.

Seit der Umarmung auf der Treppe, an die Strike in den darauffolgenden Tagen oft zurückdenken sollte, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Kein Zweifel, dass Robin gerade eine schwierige Zeit durchmachte. Wahrscheinlich hatte sie sich in Masham verschanzt und überlegte, ob sie sich scheiden oder die Ehe annullieren lassen sollte, während sie sich gleichzeitig um den Verkauf der gemeinsamen Wohnung, die Avancen der Presse und die Empörung ihrer Familie kümmern musste. Strike hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, wenn er sie erst am Telefon hätte. Aber er wollte ihre Stimme hören. Angetrunken durchwühlte er seine Taschen und stellte fest, dass er bei seiner übereilten Flucht aus der Wohnung das Ladekabel für sein Handy liegen gelassen hatte. Obwohl sich die Akkulaufzeit mittlerweile bedenklich dem Ende zuneigte, rief er die Auskunft an und wurde nach einigen Aufforderungen, doch bitte deutlicher zu sprechen, mit Robins Elternhaus verbunden.

Ihr Vater ging ran.

»Hi, dürffich mt Robnsprechn?«

»Robin? Tut mir leid, aber die ist auf Hochzeitsreise.«

Einen verwirrten Augenblick lang verstand Strike nur Bahnhof.

»Hallo?«, fragte Michael Ellacott – und dann, wütend: »Na großartig! Noch ein Reporter! Meine Tochter ist im Ausland. Bitte rufen Sie nicht mehr unter dieser Nummer an.«

Strike hatte aufgelegt und bis zur Besinnungslosigkeit weitergetrunken.

Die Wut und die Enttäuschung hatten ihn noch tagelang verfolgt und sich auch nicht besänftigen lassen, indem er sich selbst vorhielt, dass ihn das Privatleben seiner Mitarbeiter im Grunde nichts anging. Robin konnte wohl doch nicht die Frau sein, für die er sie hielt, wenn sie einknickte und mit einem Mann, den er insgeheim nur als »das Arschloch« bezeichnete, in ein Flugzeug stieg. Doch noch während er mit seinem brandneuen Ladekabel und noch mehr Bier im Travelodge saß und darauf wartete, dass sich das Interesse an seiner Person legte, überkam ihn ein Gefühl, das einer Depression verdächtig ähnlich war.

Um sich von Robin abzulenken, beendete er die selbst gewählte Isolation, indem er eine Einladung annahm, die er unter anderen Umständen wahrscheinlich abgelehnt hätte: ein Abendessen mit Detective Inspector Eric Wardle, dessen Frau April und deren Freundin Coco. Strike wusste genau, dass er verkuppelt werden sollte. Anscheinend hatte Coco sich schon im Vorfeld bei Wardle über Strikes aktuellen Beziehungsstatus erkundigt.

Coco war eine kleine, anmutige und bildhübsche Frau mit tomatenroten Haaren, Tätowiererin von Beruf und Burlesque-Tänzerin in der Freizeit. Bei Strike hätten sämtliche Alarmglocken losschrillen müssen. Noch bevor sie überhaupt etwas getrunken hatte, kicherte sie schon leicht hysterisch.

Im Travelodge schlief Strike mit ihr auf die gleiche Art und Weise, mit der er dort zuvor neun Dosen Tennent’s geleert hatte.

Die folgenden Wochen verbrachte er – nicht ohne Gewissensbisse – damit, sie wieder loszuwerden. Aber auf der Flucht vor der Presse zu sein hatte zumindest den Vorteil, dass einen auch One-Night-Stands nur schwer aufstöbern konnten.

Selbst ein Jahr später war es Strike nach wie vor ein Rätsel, warum Robin Matthew noch nicht verlassen hatte. Anscheinend war ihre...